Ex-Evangelikale und die Suche nach einem tieferen Glauben
Modernes Christentum
Warum werden Evangelikale zu Ex-Evangelikalen? Die Antworten darauf fallen unterschiedlich aus: Einige gehen, weil sie von unklugen oder sogar missbräuchlichen Leitern verletzt wurden; andere, weil sie an der Wahrhaftigkeit der Heiligen Schrift zweifeln. Für viele gibt es keinen offensichtlichen Grund, sondern nur ein langes, langsames Abdriften. Bei einem Großteil ehemaliger Evangelikaler hat ihre Enttäuschung jedoch nichts mit religiöser Apathie oder Abneigung zu tun, ganz im Gegenteil: Die Ex-Evangelikalen, an die ich hier denke, sehnen sich nach mehr in ihrem Glaubensleben – nach mehr Tiefgang, mehr Ernsthaftigkeit und mehr geistlichem Engagement – und sind zu der Überzeugung gelangt, dass sie all das in der evangelikalen Tradition nicht finden können. Sie wünschen sich echtes geistliches Wachstum, fürchten aber, in der evangelikalen Welt keine biblische Nahrung zu bekommen. Anstatt also Agnostiker zu werden oder sich liberalen protestantischen Großkirchen anzuschließen, wenden sie sich anderen Traditionen zu – vor allem dem römischen Katholizismus oder der östlichen Orthodoxie – in der Überzeugung, diese Traditionen würden die Art von geistlichem Wachstum fördern, das ihnen als Evangelikalen verwehrt geblieben ist.
Dieses Phänomen wurde kürzlich in einem weitverbreiteten Artikel der New York Post über Konvertiten zur östlichen Orthodoxie beleuchtet. Einer von ihnen ist Elijah Wee Sit, der als Evangelikaler aufwuchs, das „moderne Christentum“ aber als inakzeptabel „verwässert“ ablehnt. Vermutlich in Erinnerung an den Evangelikalismus, den er in seiner Kindheit erlebte, beschreibt er diesen „verwässerten“ Glauben wie folgt:
„Die Menschen gehen sonntags in die Kirche, singen ein paar Lieder, hören eine einstündige Predigt, die eher einem TED-Vortrag gleicht, und dann gehen sie nach Hause und machen einfach mit ihrem Leben weiter.“[1]
Ähnliche Gedanken macht sich der ostorthodoxe Bestsellerautor Rod Dreher in seinem kürzlich erschienenen Buch Living in Wonder, in dem er über die Erfahrung amerikanischer Christen schreibt, die mit dem gefühlten Mangel an spiritueller Tiefe unzufrieden sind und sich fragen, ob die alten Traditionen des römischen Katholizismus und der östlichen Orthodoxie einen besseren Weg weisen können.
In den Sommerferien fahren Amerikaner manchmal nach Europa, besuchen die großen mittelalterlichen Kathedralen und wundern sich über den Glauben, der einst solche Tempel zur Ehre Gottes in Gesellschaften errichten ließ, die ärmer waren als unsere. Wir lesen alte Geschichten von Wundern, Visionen, Pilgerreisen und religiösen Festen und spüren die Armut unserer eigenen religiösen Erfahrung. Wir quälen uns pflichtbewusst am Sonntag zur Kirche, lesen unsere Bibel, befolgen die Gesetze, bemühen uns, unserer Nation oder unserem Gemeinwesen zu dienen und halten uns mit unserer Lektüre auf dem Laufenden – und fragen uns vielleicht dennoch: Ist das alles?[2]
Diese letzte Frage drückt das Gefühl einiger Evangelikaler aus, dass in ihrer geistlichen Tradition etwas fehlt und dass sie dürftig und unterentwickelt ist. Ist das alles? Verfügt der Evangelikalismus tatsächlich über die Mittel und Werkzeuge, um solides und nachhaltiges geistliches Wachstum sowie Gemeindewachstum zu ermöglichen?
Wie auch immer man die unterschiedlichen Antworten bewertet, die Bedeutung der Frage selbst kann man nicht ignorieren. Eine der grundlegendsten biblischen Annahmen über das christliche Leben ist, dass es immer ein wachsendes Leben sein wird. Sei es, dass ein gesegnetes Leben als „ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit“ (Ps 1,3) beschrieben wird, oder die Gläubigen als „neugeborene Kindlein“, die sich nach der „unverfälschten Milch“ des Wortes Gottes sehnen, damit sie durch sie heranwachsen (vgl. 1Petr 2,2): Die Bibel geht durchweg davon aus, dass echtes geistliches Leben durch Entwicklung, Reifung und Wachstum gekennzeichnet ist.
Die Frage nach dem Wie
So klar das auch sein mag, die Frage nach dem Wie scheint manchmal nicht ganz so klar beantwortet werden zu können. Wie pflege und erhalte ich dieses geistliche Wachstum, zu dem mich die Bibel eindeutig auffordert? Evangelikalen Christen fällt es bisweilen schwer, sich zu solchen Fragen über persönliches geistliches Wachstum zu äußern, weil die Bewegung den Schwerpunkt häufig auf andere Arten von Wachstum legt, nämlich auf zahlenmäßiges Wachstum und geographische Ausbreitung. Das evangelikale Christentum, das seine Wurzeln in der Großen Erweckung des 18. Jahrhunderts hat, war schon immer bestrebt, das Evangelium zu mehr Menschen und an mehr Orte zu bringen. Innovative Evangelisten wie John Wesley (1703–1791) und George Whitefield (1714–1770) predigten nicht nur in Kirchen, sondern auch in Freiversammlungen für Bevölkerungsgruppen, die von ihren traditionelleren Zeitgenossen vernachlässigt wurden. Auch heute arbeiten Evangelikale unermüdlich und kreativ daran, immer weitere Kreise mit dem Evangelium zu erreichen.
Das ist natürlich eine gute Sache. Jesus sagte zu seinen Jüngern: „Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde!“ (Apg 1,8). Evangelikale Christen haben diesen Auftrag ernst genommen, und wir sollten Gott für ihr Zeugnis danken. Und doch kann es oft in unserer gefallenen Welt passieren, dass selbst Erkenntnisse, die gut, richtig und wahr sind, unsere geistliche Sicht vernebeln, wenn man sie überbetont und andere Erkenntnisse, die ebenfalls gut, richtig und wahr sind, unter den Tisch fallen lässt. Innerhalb der evangelikalen Bewegung ging ihr Eifer für Expansion und äußeres Wachstum manchmal zu Lasten von Jüngerschaft und innerem Tiefgang.
Der berühmte Evangelist Dwight L. Moody (1837–1899) brachte einen wichtigen Aspekt der historischen DNA des Evangelikalismus auf den Punkt, als er sagte: „Es ist egal, wie du einen Menschen zu Gott bringst, vorausgesetzt, du bringst ihn zu ihm.“[3] Sicherlich kann man die evangelistische Leidenschaft in dieser Aussage begrüßen und dennoch erkennen, dass hierbei die Gefahr eines ungezügelten und letztlich kontraproduktiven Pragmatismus besteht. Wenn der Pragmatismus Prinzipien verdrängt, ist das Ergebnis ein Christentum, dem es an Begeisterung und geistlicher Reife mangelt. Der evangelikale Theologe und Autor David Wells drückte es so aus:
„Hinter all den lächelnden Menschenmengen und überfüllten Auditorien verbirgt sich allzu oft ein Glaube, der so eng, begrenzt und winzig ist, dass er keinen Einfluss auf unser Leben und unsere Kräfte hat und daher kaum beachtet wird.“[4]
Wenn dies die Erfahrungen ehemaliger Evangelikaler, die nun im östlichen Orthodoxen Christentum oder im römischen Katholizismus nach geistlichem Tiefgang suchen, genau widerspiegelt, dann kann man ihre Entscheidung völlig nachvollziehen, auch wenn man sich ihr nicht anschließt.
Ich stelle nicht infrage, dass es einigen Erscheinungsformen des evangelikalen Christentums an Tiefe fehlt. Was ich jedoch bezweifle, ist die Annahme, dass eine solche Oberflächlichkeit der Logik der evangelikalen Tradition selbst innewohnt. Meine diesbezügliche Zuversicht rührt nicht daher, dass ich die Praktiken der heutigen Evangelikalen untersuche, sondern vielmehr daher, dass ich einen Blick auf die protestantische Reformationsbewegung werfe, aus der der Evangelikalismus hervorgegangen und der er theologisch verpflichtet ist.
Die Reformatoren und ihre Erben setzten sich nicht nur für eine Reform der Theologie, sondern auch für einen neuen Ansatz in der christlichen Lebenspraxis ein. Sie bemühten sich, geistliches Wachstum zu fördern, das tief in der Heiligen Schrift verwurzelt ist, weil sie verstanden, dass jede gottgefällige geistliche Praxis aus der Heiligen Schrift abgeleitet werden muss und dass Gottes Wort das wichtigste Mittel ist, durch das der Herr sein Volk formt. Im Gegensatz zur mittelalterlichen Tradition, die das persönliche Bibelstudium zugunsten von Pilgerfahrten, Reliquien und einer Vielzahl außerbiblischer Praktiken beiseiteschob, verstanden die Reformatoren, dass sich ein lebendiger, wachsender Glaube auf dem Wort gründet: „Lasst das Wort des Christus reichlich in euch wohnen in aller Weisheit; lehrt und ermahnt einander“ (Kol 3,16).
Um dieses Ziel zu erreichen, dachten Reformatoren wie Johannes Calvin (1509–1564), nachreformatorische Pastorentheologen wie die englischen Puritaner sowie spätere Vorbilder aus dem 18. Jahrhundert wie der Theologe Jonathan Edwards (1703–1758) intensiv über die Frage nach dem Wie nach, die sich manchmal so schwer beantworten lässt. Unser Problem als Evangelikale besteht also nicht darin, dass wir keine Tradition des geistlichen Wachstums haben, sondern vielmehr darin, dass wir oft nicht bemerkt haben, dass es sie gab. Da die säkulare Kultur dem historischen christlichen Glauben zunehmend feindlich gegenübersteht, müssen Gläubige, die standhaft bleiben wollen, bewusster denn je authentisches geistliches Wachstum anstreben. Bei einigen Evangelikalen wird dieser Wunsch nach Tiefgang leider dazu führen, dass sie sich vom Protestantismus ab- und anderen religiösen Praktiken zuwenden, die keine Grundlage in der Heiligen Schrift haben. Diejenigen jedoch, die ernsthaft danach suchen, können ein reiches Erbe an einem auf Gottes Wort gegründeten Glaubensleben finden – hier bei uns.
1 Rikki Schlott, „Young men leaving traditional churches for ‚masculine‘ Orthodox Christianity in droves“, New York Post, 03.12.2024, online unter: https://nypost.com/2024/12/03/us-news/young-men-are-converting-to-orthodox-christianity-in-droves/ (Stand: 25.06.2025).
2 Rod Dreher, Living in Wonder: Finding Mystery and Meaning in a Secular Age, Grand Rapids: Zondervan, 2024, S. 10.
3 William G. McLoughlin, Billy Sunday Was His Real Name, Chicago: University of Chicago Press, 1955, S. 158.
4 David F. Wells, The Courage to Be Protestant: Truth-Lovers, Marketers, and Emergents in the Postmodern World, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2008, S. 14.