Gott – Das Ringen mit einem, der über allem steht

Rezension von Robin Dammer
3. Juli 2025 — 8 Min Lesedauer

Jordan B. Peterson hat sich mit internationalen Bestsellern, ausverkauften Vortragssälen und einer rasant wachsenden Online-Gefolgschaft als einer der einflussreichsten Intellektuellen der Gegenwart etabliert. Dabei ist er weit mehr als ein Self-Help-Guru für orientierungslose junge Männer geworden. Im Kulturkampf gegen die um sich greifende Dekonstruktion des traditionellen Menschenbildes wird er von vielen als Stimme der Vernunft wahrgenommen. Viele Christen schätzen ihn – nicht zuletzt auch deshalb, weil er ein zunehmend persönliches Interesse am christlichen Glauben äußert. Seine Vortragsreihe über die psychologische Relevanz biblischer Geschichten zählt mit bis zu 13 Millionen Aufrufen zu seinen populärsten Formaten.

Nun hat der kanadische Psychologe auch ein Buch über Gott veröffentlicht – zumindest legt der deutsche Titel dies nahe: Gott – Das Ringen mit einem, der über allem steht. Tatsächlich aber bleibt Peterson auf über 600 Seiten erstaunlich vage, wer oder was Gott seinem Verständnis nach ist. Wer gehofft hat, mit diesem Mammutwerk eine fundierte Analyse über den Schöpfer aller Dinge zu erhalten, wird enttäuscht werden. Man muss dem Kanadier jedoch zugutehalten, dass er diesen Anspruch selbst nicht direkt erhebt. Er rührt eher aus dem unglücklich gewählten Titel der deutschen Übersetzung, denn im englischen Original heißt das Buch We Who Wrestle with God. Nicht Gott, sondern wir sind das Subjekt, das Peterson im biblischen Narrativ erforscht. Es geht ihm um das existenzielle Ringen des Menschen mit einem höheren Sinn, bleibenden Werten und einem funktionalen Leben in einer komplexen und sich ständig wandelnden Welt.

Die Bibel – ein psychologisches Lehrbuch?

Trotz dieser lobenswerten Zielsetzung erscheint bereits Petersons Verständnis vom Wesen der Bibel bedenklich. Als bekennender Jungianer vertritt er die Lehre vom „kollektiven Unbewussten“ und deutet biblische Texte nicht als Offenbarung Gottes, sondern als Überlieferung menschlicher Erfahrungen. So beschreibt er etwa die Geschichte von Kain und Abel als „Versuch der kollektiven menschlichen Vorstellungskraft, das Wesentliche von Gut und Böse in einem einzigen Narrativ zu destillieren, zu vermitteln und in Erinnerung zu bringen“ (S. 153 f.). Zwar spricht er an keiner Stelle abfällig, als handle es sich hierbei um ein Märchenbuch; dennoch macht er deutlich, dass er den biblischen Inhalt als Ergebnis jahrtausendealter Mythenbildung versteht.

Allegorie – der Schlüssel zum Verständnis?

Aus diesem Offenbarungsverständnis ergibt sich eine stark allegorisierende Auslegung der Texte. Biblische Gestalten erscheinen bei Peterson als Archetypen und ihre Geschichten als exemplarische Fallstudien, wobei seine Deutungen häufig plakativ und moralisierend wirken. Konkrete Einzelschicksale werden als Vorlagen allgemeingültiger Prinzipien gedeutet. Dieser Ansatz durchzieht das gesamte Buch. So interpretiert er schon auf den ersten Seiten Gottes Stimme im säuselnden Wind (1Kön 19,11–12) als Metapher für das menschliche Gewissen:

„In diesem Moment begreift Elia – und durch ihn die Menschheit –, dass Gott nicht im Wind ist, … sondern, dass er etwas Innerliches ist. Er ist die Stimme des Gewissens selbst, der innere Wegweiser für das, was richtig und falsch ist, der autonome Geist, der in jeder Seele wohnt und uns vor uns selbst beschämt, uns auf unsere Fehler und Sünden aufmerksam macht und den Impuls zu Reue, Entschuldigung und Wiedergutmachung gibt.“ (S. 26 f.)

Dieses Zitat steht auch symptomatisch dafür, wie unklar der Gottesbegriff im Denken des Autors letztlich ist – ist Gott ein transzendentes Wesen, das sich uns über eine innere Instanz namens Gewissen offenbart, oder geht es um einen göttlichen Funken, der ein immanenter Bestandteil des Menschen selbst ist? Peterson lässt – bewusst oder unbewusst – die Antwort immer wieder offen.

Ein weiteres Beispiel seiner moralisierenden Verallgemeinerung zeigt sich in Kapitel 6, wo er Abraham als Archetyp der Abenteuerlust deutet. Gottes Ruf gilt hierbei als innere Stimme der Inspiration und die Wanderung als Projekt der Selbstentwicklung. Zweifellos lässt sich in Abrahams Biographie ein Prozess persönlicher Reifung erkennen. Der Mann, der dem Ruf Gottes zunächst nur teilweise folgt, weder allein nach Kanaan aufbricht noch auf direktem Wege dorthin reist, ist später ohne Zögern bereit, auf Gottes Wort hin seinen geliebten Sohn zu opfern. Doch diese Entwicklung ist in erster Linie ein Ausdruck des Glaubens – und deshalb relational zu verstehen: Sie gründet in der wachsenden Erkenntnis Gottes und im Vertrauen auf seine Verheißungen (vgl. Hebr 11,19). Aus der veränderten Gottesbeziehung erwächst ein verändertes Leben. Peterson hingegen versteht Glauben primär als pragmatische Handlungsbereitschaft: „Wenn die Stimme des Abenteuers erklingt, kann man entweder auf sie hören und ihr folgen (was in einem solchen Kontext wirklich glauben bedeutet), oder man kann sie ignorieren“ (S. 311 f.).

Das Zentrum der Schrift

Die allegorische Interpretation der Bibel ist weder neu noch grundsätzlich immer falsch. In der Kirchengeschichte galt sie sogar lange Zeit als wesentlicher Bestandteil der Textauslegung – aber im Normalfall nicht losgelöst, sondern in stetiger Verbindung zum wörtlichen Sinn des Textes und seinem typologischen Sitz in der Heilsgeschichte. Im Gegensatz dazu entbehrt die Auslegung Petersons einer solchen Verankerung gänzlich. Statt aus der wörtlichen Bedeutung moralische Wahrheiten abzuleiten, projiziert er psychologische Muster und archetypische Deutungen in den Text hinein. Das führt teilweise zu haarsträubenden Ergebnissen.

Ein Beispiel dafür ist seine Deutung von Evas Sünde: Er beschreibt sie als Ausdruck eines pathologischen Mitgefühls – als narzisstische Anmaßung einer Mutterfigur, sogar das Böse (in Gestalt der Schlange) an die Brust nehmen und in die Ordnung des Guten integrieren zu können. Eva wird anhand des vordefinierten Musters von Carl Jungs Mutter-Archetyp interpretiert – ganz gleich, was der Text eigentlich über sie sagt.

Aufgrund seiner allegorischen Brille übersieht Peterson, dass das Gewicht der Heiligen Schrift nicht in moralischer Unterweisung, sondern in der Selbstoffenbarung des lebendigen Gottes liegt – mit ihrem Höhepunkt in der Menschwerdung Jesu Christi (vgl. Hebr 1,1–2). Auf der Suche nach Sinn und Orientierung begegnet er den biblischen Texten stets mit Respekt, doch er scheut letztlich den Schritt zu eben jener Person, von der diese Schriften permanent zeugen. In gewisser Weise wiederholt er damit den Fehler der Pharisäer, die Jesus selbst tadelt: „Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; und sie sind es, die von mir zeugen. Und doch wollt ihr nicht zu mir kommen, um das Leben zu empfangen“ (Joh 5,39–40).

Erstaunlicherweise scheint Peterson vor allem damit zu ringen, einer konkreten Begegnung mit Gott zu entgehen. Doch wer die Schrift aufrichtig studiert, wird früher oder später mit dem konfrontiert werden, der von sich selbst spricht: „Ich bin.“

Was ist der Mehrwert des Buches?

Bei aller berechtigten Kritik hat das Buch dennoch viel Wertvolles zu bieten. Peterson kann bibeltreuen Christen helfen, vertraute Texte einmal aus einem ungewohnten Blickwinkel zu betrachten. Seine archetypische Lesart fordert dazu heraus, sich nicht nur mit den Handlungen biblischer Figuren, sondern auch mit ihrer inneren Haltung, ihren Motiven und Wesenszügen auseinanderzusetzen. Ob seine jeweilige Deutung immer überzeugt, ist dabei zweitrangig. Der eigentliche Gewinn liegt darin, sich überhaupt neu für die menschliche Tiefe biblischer Geschichten zu öffnen. Anders gesagt: Auch wenn im Zentrum der Schrift die Selbstoffenbarung Gottes steht, ist es doch eine Offenbarung, die in der Begegnung mit Menschen wie uns geschieht.

Für Christen ist es ebenso aufschlussreich, nachzuvollziehen, wie jemand in den biblischen Texten nach Gott und dem Sinn des Lebens sucht, der selbst wohl noch kein wiedergeborener Christ ist. In einem Podcast äußerte Peterson einmal, dass er zunehmend glaube, in der Person Jesu dringe der moralische Narrativ in die objektive Wirklichkeit ein. Mit anderen Worten: Er beginnt mehr und mehr zu glauben, dass die Aussagen über Jesus nicht bloßer Mythos, sondern Wahrheit sind. Zugleich gesteht er aber, dass ihm dieser Gedanke Angst mache – weil er nicht abschätzen könne, welche Konsequenzen es hätte, das wirklich und vorbehaltlos zu glauben.[1]

Wir sollten diese Aufrichtigkeit Petersons wertschätzen und – anstatt sein Buch in rechtgläubiger Rage zu zerreißen – lieber demütig an seiner Seite stehen und für ihn beten, dass er in der Erkenntnis Gottes zur Ruhe kommen kann.

Fazit

Lohnt es sich, Jordan Petersons neuestes Opus zu lesen? Für die meisten dürfte die Antwort eher nein lauten. Das Buch ist komplex, verschachtelt und oft bewusst vage, weil Peterson den geistlichen Kern auf moralische Unterweisung reduziert. Gerade Menschen, die im Glauben noch nicht gefestigt sind, ist eher davon abzuraten – denn anstatt Klarheit zu schaffen, dürfte es bei zentralen Glaubensfragen eher zusätzliche Verwirrung stiften.

Für Christen mit einem gefestigten Schriftverständnis kann Petersons Buch jedoch eine intellektuell anregende, herausfordernde und stellenweise sogar segensreiche Lektüre sein – vorausgesetzt, man ist bereit, gewohnte Denkpfade zu verlassen und sich auf einen ungewohnten Blick auf vertraute Texte einzulassen. Wer hingegen theologische Klarheit und geistliche Orientierung erwartet, wird eher enttäuscht werden – zu vage bleibt Petersons Gottesbild, zu ambivalent sein Umgang mit zentralen Glaubenswahrheiten.

Buch

Jordan B. Peterson, Gott: Das Ringen mit einem, der über allem steht, Lüdenscheid: Fontis Verlag, 2025, 656 Seiten, 34,90 EUR.


1 Peterson, The Perfect Mode of Being, 21:44-24:10. The Perfect Mode of Being | Jonathan Pageau | EP 156.