Was fördert ein besseres Leben?

Rezension von Daniel Vullriede
26. Juni 2025 — 8 Min Lesedauer

Wir leben in Zeiten großer Umbrüche und ebenso großer Verunsicherung. Da lohnt es sich, grundsätzlichere Fragen zu stellen: In welche Richtung soll unser Leben gehen? Welche guten Dinge sind es denn wert, dass wir danach streben und darum ringen?

John Witte Jr. lehrt als Professor für Ethik, Recht und Religion in den USA. Michael Welker hingegen ist Seniorprofessor und Direktor des Forschungszentrums für Internationale und Interdisziplinäre Theologie der Uni Heidelberg. Vor einigen Jahren haben die beiden ein beeindruckendes Projekt auf den Weg gebracht: In Zusammenarbeit mit 150 internationalen Forschern haben sie die Frage bewegt, was heutzutage die Werte, die Ethik und den Charakter der Menschen im Westen prägt.

Dafür haben die Autoren zehn Bereiche untersucht, die den stärksten Einfluss auf uns ausüben. Zunächst einmal nennen sie Familie, Religion und Politik. Dabei bauen sie auf Martin Luthers bekannte Drei-Stände-Lehre auf. Mit Blick auf die europäische Geschichte nach der Reformation zählen Welke und Witte dann noch Recht, Medizin, Wissenschaft und Bildung hinzu. Angesichts der Entwicklungen der letzten zwei Jahrhunderte ergänzen sie ihre Liste um die Bereiche von Markt, Medien und Militär.

Um ihr Forschungsprojekt noch griffiger zu machen, haben Welker und Witte die Beiträge aus zehn größeren Fachbüchern (Impact-Buchreihe, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2020–2023) nun nochmals zusammengefasst. Welche Einsichten präsentieren sie uns?

Familie, Religion und Politik

Viele Menschen haben heute ein zwiespältiges Verhältnis zu Ehe und Familie. Auch haben sich im Laufe der Zeit manche Vorstellungen und Aufgabengebiete verändert. Dennoch unterstreichen die Forscher den ungemeinen Wert stabiler Familien. Trotz aller kritischen Stimmen erfahren junge Menschen hier eine positive, lebenslange Prägung, auf die eine Gesellschaft nicht verzichten kann.

Die Religion erweist sich als ein heikles Thema. Während einige Forscher die negativen Folgen betonen und den Rückzug der Religion feiern, verweisen andere auf ihre Beharrlichkeit und Notwendigkeit. Tatsächlich prägen und konfrontieren Religionen die Menschen mit Werten, ohne die das Leben dunkler aussehen würde. Aber sind deshalb alle Religionen gleichermaßen wahr, gut oder hilfreich? Welche Anfragen des Pluralismus sind berechtigt? Welche Anpassungen an den Zeitgeist sind problematisch? Hier vertreten die Wissenschaftler sehr unterschiedliche Meinungen.

Auch die Sphäre der Politik ist auf Tugenden angewiesen, um soziale Strukturen weise zu lenken und um Macht gerecht auszuüben. Anschaulich beschreiben die Autoren, wie kompliziert es in pluralistischen Gesellschaften heute ist, politisch zu denken und zu handeln. Angesichts der Komplexität von Gesellschaften ist es dann aber zu einseitig, den Fokus allein auf soziale Vielfalt und persönliche Autonomie zu legen. Wieso? Freiheit braucht Verantwortung, denn

„in einer tugendhaften Gesellschaft hängen diese sozialen Systeme letztlich von einer gemeinsamen normativen Essenz ab, von verbindlichen moralischen Impulsen, von Kernüberzeugungen über persönliches Verhalten und staatsbürgerliche Verantwortung.“ (S. 48–49)

Recht, Medizin, Wissenschaft und Bildung

Damit moderne Gesellschaften funktionieren, sind sie auf staatliche Gesetze angewiesen. Soziale Ordnung und Frieden, aber auch der Schutz von Grundrechten und Freiheiten ergeben sich nicht von selbst. Doch wie weit darf der Einfluss des Staates reichen? Wie sanft oder durchsetzungsstark sollte er sein? Wie können gute Staatsbürgerschaft und Nachbarschaft aussehen? Deutlich wird: Das moderne staatliche Recht wird als Faktor leicht übersehen, dennoch beeinflusst es die ethische Erziehung von Menschen.

Was hat die moderne, wissenschaftlich ausgerichtete Medizin mit einem besseren Leben zu tun? Die Forscher beschreiben einerseits, wie sich die medizinischen Berufe und Möglichkeiten verändert haben: Das System steht heute unter einem enormen finanziellen Druck. Hinzu kommen moralische Grauzonen, menschliche Belastungen und technologisches Machbarkeitsdenken. Andererseits erinnern die Autoren ernstlich an das Kernanliegen:

„Die Gesundheitsversorgung dient dem Schutz der Leidenden und Schwachen, bietet Hilfe und Trost nicht nur für die von Krankheit Betroffenen, sondern auch für ihre Angehörigen und für befreundete Menschen. Damit entspricht sie höchsten Anforderungen an ein humanitäres Ethos.“ (S. 61)

Die Kapitel zur akademischen Forschung und allgemeinen Bildung bieten einen Einblick in die Grundfragen und Spannungen von Universitäten und Schulen. Historisch gesehen setzten die Menschen voraus, dass wir in einem geordneten Universum leben, das wir erkunden und erschließen können. Doch nicht immer führt Wissen zu Weisheit, und nicht immer befördern die Einsichten von Experten das Leben der breiten Bevölkerung. Nicht immer sind die einzelnen Fachdisziplinen frei von Konkurrenzdenken oder die Experten von Doppelmoral. Allerdings: Wer würde heute gern auf die vielen Errungenschaften verzichten wollen, die wir wissenschaftlicher Arbeit verdanken?

Zusätzlich stellen sich die Autoren die Frage, wie gute Bildung aussehen soll. Dabei geht es u.a. um den Auftrag, die Rahmenbedingungen und Möglichkeiten persönlicher Bildung. Sie gehen auch auf verschiedene Gefahren durch ideologische, politische oder wirtschaftliche Interessen ein. Angesichts der fast unbegrenzten Menge an Lebensmöglichkeiten fand ich den Vorschlag spannend, Bildung wieder stärker an den Perspektiven von Beruf und Berufung auszurichten. Der christliche Glaube hätte bei diesem Thema einiges beizutragen, gleichzeitig aber herrscht Skepsis gegenüber großen Weltanschauungen und universalen Wahrheiten. Manche argumentieren dafür, man solle Bildung eher ethisch-nützlich denken: „Gefragt werden sollte, wo und mit wem und in welchen Kreisen Verantwortung gesucht wird, um gesellschaftliche Fertigkeiten und Tugenden zu entwickeln und zu stärken“ (S. 85). – Doch reicht das am Ende aus?

Markt, Medien und Militär

Die letzten drei prägenden Systeme spiegeln neuere Entwicklungen wider. Stabile Märkte sind wichtig, um den Menschen ein geregeltes Leben zu ermöglichen, auch wenn Bedürftigkeit und Armut damit nicht verschwinden. Ehrliche Arbeit und faire Gewinne haben in der Wirtschaft leider ebenso Platz wie Gier und kriminelle Machenschaften. Somit ist der Markt nicht neutral und Menschen sind nicht nur rational handelnde Wesen. Fest steht: Märkte lenken Menschen und Gesellschaften. Zugleich sollte das keine Einbahnstraße sein. Denn damit unser Leben lebenswert bleibt, ist die Wirtschaft definitiv auf Werte wie Gerechtigkeit und Empathie angewiesen.

Im Kapitel über Medien unterstreichen die Autoren, wie bedeutsam die Massenmedien für die Wertevermittlung sind. Dabei gehen sie auf moralische Problemstellungen, versteckte wirtschaftliche Interessen und auf die Marktmacht sozialer Medien ein. Zwar helfen Medien uns dabei, miteinander zu kommunizieren, uns auszudrücken und das Leben zu gestalten. Dennoch können sie hochgradig schädlich sein. Medienmacher wie auch Mediennutzer sind mehr denn je gefordert, ihre Verantwortung wahrzunehmen.

Erhellend ist der Blick auf das letzte Kapitel, wo es um die ethische Prägekraft des Militärs geht. Früher sollten Armeen v.a. das eigene Territorium schützen und auf äußere Bedrohungen reagieren. Da sich die Politik global gewandelt hat, stetig neue Technologien aufkommen und die Zivilgesellschaft eine stärkere Kontrollfunktion einnimmt, hat sich auch das militärische Aufgabenfeld erweitert. Die Autoren erläutern u.a., wie wichtig die ethische Ausbildung von Soldaten ist, welchen Stellenwert humanitäre Hilfe und friedensstiftende Einsätze haben, aber auch welche Belastungen die Veteranen und ihre Familien aushalten müssen. „Mut, Disziplin, Loyalität und ein tiefes Pflichtgefühl“ (S. 120) sind stark in die militärische Kultur eingebettet und strahlen wiederum in die ganze Gesellschaft aus.

Einsichten und Aussichten

Was fördert ein besseres Leben? – Das ist nicht nur ein spannender Buchtitel, sondern eine existentiell wichtige Fragestellung. Positiv dabei ist: Die Forscher wollen tiefer graben und fragen deshalb nach Ethik und belastbaren Werten, nach Tugenden und Charakter. So führen sie ihre Leser tatsächlich in die richtige Richtung.

Dabei bieten die Autoren jede Menge Tiefeneinblicke in unterschiedliche Fachdisziplinen und hinterfragen z.B. gängige Vorstellungen davon, was Pluralismus bedeutet. Tatsächlich geht es hier nicht bloß um eine diffuse Pluralität, um Individualität oder fast unbegrenzte Freiheit. Zwar lassen Welker und Witte auch gegenteilige Stimmen zu Wort kommen. Insgesamt unterstreichen sie aber, dass jeder der zehn Bereiche einen ganz eigenen Beitrag dafür leistet, damit spätmoderne Gesellschaften stabil bleiben und die Menschen zum Guten geprägt werden.

Für wen ist der Titel interessant? Christen mit Verantwortung in Gemeinden und christlichen Werken, in Wirtschaft und Politik, in Forschung und Lehre finden hier einen kompakten Überblick zu griffigen Grundfragen unserer Zeit. Das kann ihren Horizont erweitern und sie für ihre Arbeit sensibilisieren. Außerdem kann es sie anspornen, eigene Perspektiven mit Tiefgang zu entwickeln und diese dann freundlich-offensiv zu vertreten.

Am Ende des Buches bleibt das Gefühl einer gewissen Spannung zurück. Ja, die Autoren möchten wichtige Zusammenhänge aufzeigen und diese kritisch hinterfragen, aber ihren Lesern keine Vorschriften machen. Sie unterstreichen das Potential der zehn Bereiche für moralische Orientierung und Charakterbildung, ebenso die Notwendigkeit, dass wir nach dem Guten streben – gleichzeitig verstehen sie das Ganze eher funktional. Bedeutet das also: Solange etwas gute Werte vermittelt, hat es seine Berechtigung? Doch was ist der Maßstab für das Gute? Und könnte man einen Bereich wie z.B. die Familie oder Religion wegstreichen, sobald andere soziale Sphären deren Aufgaben übernehmen?

Das Problem ist, dass gute Werte nicht lange im luftleeren Raum überleben können. Sie brauchen das wirkliche, wahrhaftige Weltbild dazu, um in der Realität zu funktionieren, um Menschen Orientierung zu geben und Veränderung anzustoßen. Man könnte sagen, sie bauen auf eine geschaffene Ordnung auf. Fiktive Geschichten reichen dazu nicht aus.

Letztlich bieten uns Michael Welker und John Witte Jr. einen ungemein hilfreichen Überblick zu drängenden Fragen und geben uns mit ihrer kompakten Zusammenfassung viel zum Nachdenken mit. Keine Frage: Wir brauchen eine christlich fundierte Sicht auf die spätmoderne, pluralistische Gesellschaft und Kultur von heute. Gleichzeitig bleiben hier viele wichtige Fragen unbeleuchtet. Wer sich eine noch griffigere Perspektive wünscht, dem sei als Ergänzung wärmstens die Biblical Critical Theory von Christopher Watkin empfohlen.

Buch

Michael Welker und John Witte Jr., Was fördert ein besseres Leben? Charakterentwicklung, ethische Bildung und Wertevermittlung in spätmodernen pluralistischen Gesellschaften, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2024, 144 Seiten, 19,90 EUR.