Wann endete Israels Exil?
„O komm, o komm, Immanuel, mach frei dein armes Israel“
Es mag unerwartet sein zu hören, dass das Exil des Volkes Israel im Alten Testament nicht wirklich endete. Mich zumindest traf es unerwartet, als ich zum ersten Mal über diesen Gedanken nachdachte. Sicher war Daniel ebenso schockiert, als er es zum ersten Mal von dem Engel Gabriel in Daniel 9,20–24 hörte, wenn wir bedenken, dass Israels Exil, von dem wir in 2. Könige 17 und 24 lesen können, nicht nur die Erfahrung der Zwangsumsiedlung war, sondern auch den Verlust der davidischen Dynastie und die Zerstörung des Jerusalemer Tempels mit sich brachte. Das Exil ist also ein theologischer Zustand des Volkes Gottes, der mit der Deportation begann. Ein Teil des Volkes kehrte mit Esra in die Heimat zurück, doch die Propheten Israels sagten einen Tag voraus, an dem das Exil mit einem neuen davidischen König (Jes 9,1–7; Mi 5,1–4) und einem herrlichen neuen Tempel (Jes 2,1–5; Mi 4,1–13) enden würde. Außerdem wird es am Ende des Exils eine große endzeitliche Buße (Jes 40,1–2; 52,13–53,12) und eine Auferstehung geben (Jes 25,6–8; Jes 26,19; Hes 37,1–14). Die prophetische Vision des Alten Testaments für das Ende des Exils beinhaltet also eine Sammlung des zerstreuten Volkes Israel, die Wiederherstellung des Hauses David, ein neuer herrlicher, weltweiter Tempel, die endgültige Versöhnung und die leibliche Auferstehung. All das ist „ein großes Licht … über denen, die da wohnen im finstern Lande“ (Jes 9,2).
Vor diesem Hintergrund bekommen die ersten Kapitel von Matthäus eine enorme Bedeutung. Jesus ist Nachkomme Davids (Mt 1,1) „nach der babylonischen Gefangenschaft“ (Mt 1,12). Er ist der „König der Juden“ (Mt 2,2). Sein Dienst ist „ein großes Licht“ für „das Volk, das in Finsternis saß“ (Mt 4,16). Er sammelt sein Volk (Mt 4,18–22.25; vgl. auch Mt 14,19–20) und sein Tod ist das Sühneopfer des Neuen Bundes (Mt 26,26–28). Johannes nennt ihn sogar den „Tempel“ (Joh 2,21), und Paulus sagt, dass die Nachfolger Jesu durch die Vereinigung mit ihm ebenfalls der neue Tempel sind, der sich in der ganzen Welt ausbreitet (Eph 2,17–22). All dies deutet darauf hin, dass das Leben, der Tod und die Auferstehung Jesu und das fortwährende Leben der Gemeinde das wahre Ende des Exils sind! Wir wollen einen genaueren Blick auf jeden dieser Aspekte werfen: Jesu Leben, Jesu Tod und Auferstehung, und schließlich Jesu Volk.
Das Leben Jesu als Anbruch der Rückkehr aus dem Exil
Im Buch Jesaja beschreibt der Prophet ausführlich, wie das Ende des Exils aussehen wird. Er sagt, dass am Ende des Exils „die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann wird der Lahme springen“ (Jes 35,5–6), die „Toten werden leben, [die] Leichname werden auferstehen“ (Jes 26,19), Kranke werden geheilt (Jes 57,18) und „den Elenden“ wird eine „gute Botschaft“ verkündet (Jes 61,1). Als Johannes der Täufer sich fragt, ob Jesus derjenige ist, der kommen soll, weist Jesus auf seine Wunder und Lehren als Zeichen dafür hin, dass er es tatsächlich ist – jene spezifischen Wunder und Lehren, von denen Jesaja sagte, dass sie das Ende des Exils markieren würden. Er sagt: „Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt“ (Mt 11,4–5). Jesus ist in der Tat derjenige, der verheißen wurde, also genau derjenige, der am Ende des Exils kommen sollte. Mit dem Wirken Jesu beginnt die Rückkehr aus dem Exil!
Jesu Tod und Auferstehung als Moment der Rückkehr
Der entscheidende Moment der Befreiung aus dem Exil ist jedoch der Tod und die Auferstehung Jesu. Mose selbst hatte das Exil vorausgesagt und es als „Fluch“ bezeichnet (siehe 5Mo 27,9–26; 28,15–68). Paulus sagt in Galater 3,10, dass Ungehorsam gegenüber dem Gesetz einen „Fluch“ zur Folge hat (unter Berufung auf 2Mose 27,26), jubelt dann aber: „Christus aber hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, da er zum Fluch wurde für uns“ (Gal 3,13). Der Tod Jesu ist also sein persönliches Exil, das er stellvertretend für sein Volk ertragen hat. Weiter heißt es in Hebräer 8,1–2, dass Jesus mit seiner Auferstehung in das wahre Heiligtum Gottes eingegangen ist. Durch die Auferstehung (und die Himmelfahrt) dient Jesus also jetzt im wahren Heiligtum Gottes im Namen seines Volkes. Durch Jesus können Christen also sagen, dass ihr Exil vorbei ist! Wir sind „mit Christus gekreuzigt“ (Gal 2,19) und mit ihm „auferweckt und mit eingesetzt im Himmel“ (Eph 2,6). Verflucht und verbannt von Gott wegen unserer eigenen Sünde, sind wir durch die Gerechtigkeit Christi in seine Gegenwart zurückgeholt worden!
Das Volk Jesu als fortwährende Rückkehr aus dem Exil
Zuletzt ist es von großer Bedeutung, dass das Wirken Jesu nicht nur in der Vergangenheit liegt, sondern dass er durch seinen Geist weiterhin die Welt erreicht. In Römer 6,4 heißt es: „Wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, so [wandeln] auch wir in einem neuen Leben.“ Wiedergeburt bedeutet also, die gleiche Kraft zu erfahren, die Jesus von den Toten auferweckt hat! Petrus drückt es folgendermaßen aus: „der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten“ (1Petr 1,3). Die Auferstehung Jesu, der aus dem Exil zurückkehrte, ist also immer noch überall auf der Welt zu spüren, wenn ein Sünder Buße tut, Jesus nachfolgt und in einem neuen Leben wandelt.
Wir können also sagen, dass wir Christen durch Jesus aus dem Exil zurückgekehrt sind (Jesu vollendetes Werk am Kreuz und in der Auferstehung) und weiterhin aus dem Exil zurückkehren (also die Auferstehungskraft Jesu in unserem Leben in Verbindung mit ihm erfahren). Wir können sogar noch einen Schritt weitergehen: Wenn Jesus wiederkommt, werden auch wir Christen endgültig und vollständig aus dem Exil zurückkehren. „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein“ (Offb 21,3).
Amen! Komme bald, Herr Jesus!