Klagen lernen: Wie wir in schweren Zeiten beten können
„Gott, ich bete, dass Mitch nie wieder wegen seiner Schwester traurig ist.“ Ich machte große Augen und hörte nicht mehr, was mein Freund weiter betete. Seine Worte trafen mich unvermittelt. Gerade noch hatte ich um ein Gebet gebeten, kurz nach dem plötzlichen Tod meiner Schwester im Alter von nur 13 Jahren. So hatte ich es mir aber nicht vorgestellt. Mein Herz war gebrochen – war das nicht normal?
Zugegebenermaßen war ich mir nicht mehr sicher. Vielleicht sollte mein Schmerz nach dem Gebet verschwinden, aber er erschien mir so stark wie noch nie zuvor.
Nach dieser Erfahrung versuchte ich ernsthaft, herauszufinden, wie man in schweren Zeiten betet. Wie soll ich treu beten, fragte ich mich, wenn die Not groß und die Hoffnung verzweifelt klein erscheint?
Diese Frage quält jeden von uns. Der Arzt bestätigt deine Befürchtungen: Der Krebs ist zurück. Oder deine Hoffnung wird durch die Nachricht von einer Fehlgeburt zunichtegemacht. Für manche von uns bricht ein neuer Tag an, nur um von den dunklen, vertrauten Wolken der Depression überschattet zu werden. Du trauerst, wenn ein Freund dir erzählt, dass er missbraucht worden ist. Oder du kommst nach Hause, um deiner Familie mitteilen zu müssen, dass du deine Arbeitsstelle verloren hast. Die Hoffnung schwindet und die Angst wächst. Vielleicht sind es auch der Ausbruch eines Krieges, Überschwemmungen oder andere Katastrophen, die ständig deinen Newsfeed füllen.
Wie möchte Gott, dass wir in solchen Momenten beten?
Lerne zu klagen
Vielleicht warst du genauso überrascht wie ich, als ich erkannte, dass Gott uns ein Gebetsmodell für genau diese Situationen gegeben hat, die wir als zutiefst schmerzhaft erleben. Tatsächlich finden wir solche Gebete in weiten Teilen der Heiligen Schrift. Sie machen mehr als vierzig Prozent der Psalmen aus, sind das zentrale Thema in den Klageliedern und werden von Jesus gesprochen, als er am Kreuz schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Diese Gebetsform wird als Klage bezeichnet: das ehrliche Aussprechen unseres Kummers vor Gott. Leider ist die Klage aus dem Wortschatz vieler Nachfolger Jesu heute verschwunden.
Sie kam weder in meinem eigenen Gebetsleben noch in dem der meisten mir bekannten Christen vor. Klagegebete werden aber seit jeher von Gottes Volk gesprochen, wenn es mit sich selbst am Ende ist. Auf diese Art und Weise beklagte auch Gott die Ungerechtigkeiten dieser Welt, als er in der Person Jesu unter uns wandelte.
Die Klage ist daher eine Gebetspraxis, die wir wiederentdecken müssen – eine, die ich dir hier zeigen möchte, indem ich kurz vier gemeinsame Merkmale untersuche, die wir in vielen Klagepsalmen finden. Auch wenn sich Klagepsalmen nicht strikt in ein festes Schema pressen lassen, möchte ich ihre wiederkehrenden Muster anhand der Psalmen 13, 22 und 88 nachzeichnen. Ich bete, dass du dadurch lernst, selbst zu klagen, indem du deine Gebete am Wort Gottes ausrichtest.
1. Wende dich an Gott
Das erste Merkmal der Klage ist, dass der Beter sich direkt an Gott wendet. Es ist entscheidend, an wen das Gebet gerichtet ist. Es geht nicht darum, sich bei anderen zu beschweren, sondern darum, bewusst im Gebet vor Gott zu treten. Jeder kann weinen, murren und sich beklagen – aber nur die Gerechten bringen ihr Weinen, Murren und Klagen betend vor den lebendigen Gott. Der Unterschied zwischen beiden besteht in der Ausrichtung. Beachte, wie dies in den ersten Versen dieser drei Psalmen zum Ausdruck kommt:
„Wie lange, o HERR?“ (Ps 13,2)
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2)
„O HERR, du Gott meines Heils, ich schreie Tag und Nacht vor dir!“ (Ps 88,2)
Psalm 13 und 22 beginnen mit einer Frage an Gott, Psalm 88 mit dem Bekenntnis des Heils, das Gott anbietet. Hast du den roten Faden erkannt?
Sie alle wenden sich zuerst an Gott.
2. Schrei deine Klage heraus
Nachdem sich die Psalmbeter an Gott gewandt haben, schreit jeder seine Klage heraus – ein charakteristisches Merkmal der Klage. Dazu gehört, dass man die Schwierigkeit, die man sieht oder erfährt, beim Namen nennt und sie vor Gott deutlich zum Ausdruck bringt. Das mag wenig vertrauensvoll klingen, vielleicht sogar überhaupt nicht gottgefällig. Es ist jedoch weit entfernt von Unglauben oder Gottlosigkeit, sondern die richtige Reaktion auf die Ungerechtigkeit der Welt. Es ist eine Weigerung, das Leid wegzuwünschen, den Kopf oben zu halten oder angesichts von Sünde und Leid „stark“ zu sein.
Wir sehen das in Psalm 13, als David zu Gott schreit, der in seinem Leben abwesend zu sein scheint:
Wie lange, o HERR, willst du mich ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Angesicht vor mir? Wie lange soll ich Sorgen hegen in meiner Seele, Kummer in meinem Herzen tragen Tag für Tag? (Ps 13,2–3)
Auch in Psalm 22 fühlt sich David weit weg von Gott und fragt, warum er ihn verlassen hat (vgl. Ps 22,2–3) – Worte, die sich Jesus am Kreuz zu eigen gemacht hat (vgl. Mt 27,46). In Psalm 88 drückt der Psalmist ein offensichtlich unerträgliches Gefühl der Trauer aus:
Du hast mich in die unterste Grube gelegt, in die Finsternis, in die Tiefen ... Mein Auge ist verschmachtet vor Elend. (Ps 88,7.10)
Die Klagepsalmen zeigen uns, dass es nicht nur in Ordnung, sondern auch gottgefällig ist, unsere Klagen mit herzzerreißender Ehrlichkeit auszusprechen. Selbst in der größten Tiefe, beim Verlust eines geliebten Menschen oder in einem Moment der Verzweiflung – Gott kennt unseren Schrei, noch bevor wir ihn aussprechen, und er hört ihn.
3. Bitte Gott, dich anzuhören und dir zu antworten
Klagegebete enden nicht mit Klagen. Ihr drittes Merkmal ist ein Appell an Gott, uns zu hören und zu antworten.
Ein solcher Appell gründet auf Gottes Wort, seinem Charakter und seinen Verheißungen. Sogar in der Dunkelheit von Psalm 88 appelliert der Psalmist an einen Gott, der hört: „Lass mein Gebet vor dich kommen, neige dein Ohr zu meinem Flehen!“ (Ps 88,3).
David wendet sich in ähnlicher Weise an Gott: „Schau her und erhöre mich, o HERR, mein Gott!“ (Ps 13,4). Wenn wir klagen, bringen wir nicht nur unsere Probleme vor Gott, sondern wir bitten ihn, uns in unserer Not zu erhören – in dem Wissen, dass er allein unsere Quelle des Trostes, der Hoffnung und der Hilfe ist.
Als Menschen, die nach dem Tod und der Auferstehung Jesu leben, sind unsere Klagegebete darin verankert, was wir als Wahrheit über den Charakter und die Verheißungen Gottes, die in Christus offenbart wurden, glauben und wissen. Mehr noch als die Psalmisten wissen wir um Gottes Treue, uns zu retten und uns in der Tiefe unserer Klagen zu begegnen.
4. Bekenne dein Vertrauen
Mit einem Bekenntnis des Gottvertrauens erkennen wir schließlich an, dass Gott vertrauenswürdig ist, auch wenn wir nicht wissen, wie Gott auf unser Gebet antworten wird, egal unter welchen Umständen. Doch nur in zwei der drei Klagepsalmen geht der Beter so weit. David erklärt „So will ich meinen Brüdern deinen Namen verkündigen“ (Ps 22,23) und „Ich aber vertraue auf deine Gnade“ (Ps 13,6) am Ende seiner Psalmen, auch wenn keine unmittelbare Hilfe eintritt. Psalm 88 hingegen endet nicht so. Der Psalmist kann sich zwar nicht dazu durchringen, auf dem Höhepunkt seines Liedes Gott zu loben, aber er erkennt ihn als „Gott meines Heils“ an (V. 2).
Wenn ich zurückblicke, war ein Gebet, das sich an der Klage orientiert, genau das, wonach ich mich sehnte, als ich den Tod meiner Schwester betrauerte. Ich brauchte eine Form des Gebets, die mir helfen würde, mich an Gott zu wenden, mein Leid ehrlich zu benennen und gleichzeitig Gott zu bitten, mir zuzuhören, mit Trost und Hilfe zu antworten und mir zu zeigen, wie ich mein Vertrauen in Gott bekennen kann. Vielleicht geht es dir auch so.
Mögen die Klagepsalmen dir eine Orientierungshilfe für deine Gebete sein, wenn du schwere Zeiten durchmachst.