
Zwischen Leben und Tod
Es gibt Themen, die wir Menschen unglaublich gern vermeiden und aufschieben. Dazu gehört unweigerlich auch alles, was mit Leiden, Krankheit, Sterben und Tod zusammenhängt. Wer das nicht glaubt, kann ja bei dem nächsten fröhlichen Grillabend zum Geburtstag die Nachbarn einmal fragen, ob sie im Fall der Fälle eine Ernährung durch eine PEG-Sonde tolerieren würden. Wir können uns natürlich auch selbst überprüfen, inwieweit wir schon eine Vorsorgevollmacht ausgefüllt haben oder ob dies immer noch auf der To-do-Liste steht.
Ein hoher Anspruch für ein schwieriges Thema
Kathryn Butlers Werk „Zwischen Leben und Tod“ will dabei mehr sein als nur ein Schritt in Richtung Konfrontation mit den Ängsten. Die ausgebildete Chirurgin und Intensivmedizinerin mit langjähriger Erfahrung nimmt sich vor, den Lesern bei der Entscheidungsfindung in oft sehr komplexen ethischen Situationen unter Berücksichtigung biblischer Weisheit zu helfen. Und das inmitten des Wirrwarrs aus hochentwickelten Technologien der Intensivmedizin, den oft unklar erscheinenden Grenzen zwischen Leben und Tod, dem medizinischen Fachjargon und dem erlebten Leid. Die Motivation der Autorin wird nicht nur aus diesem herausfordernden Berufsfeld und ihrer Qualifikation, sondern auch durch die Tatsache spürbar, dass sie „während ihrer Ausbildung auf der Intensivstation gläubig wurde und daraufhin fast täglich Patienten und Familien in herzzerreißenden Situationen beraten musste“ (S. 20).
Gegliedert ist das Buch in drei Teile und einen umfangreichen Anhang. Jedes Kapitel schließt mit einer nützlichen, kurzen Zusammenfassung der Hauptaussagen ab.
Orientierungspunkte in einem Dschungel
Im ersten Teil geht es um eine generelle Einführung in die Problematik und die grundsätzlichen Prinzipien aus der Bibel. Von Anfang an begegnen einem die ergreifenden, stellenweise aus mehreren Beispielen zusammengefassten Berichte über menschliche Schicksale, welche die Autorin in den Jahren als Intensivmedizinerin miterlebte. Diese absolut realistisch wirkenden Rückblenden in existenzielle Situationen machen das Buch von Anfang an lebensnah und anrührend. Und das ist keine schlechte Eigenschaft für ein Sachbuch. Man fragt sich bei diesen Beispielen immer wieder: „Wie würde es mir in dieser Situation gehen? Wie würde ich entscheiden?“
Schon früh betont die Autorin, dass die Medizintechnik „auch eine dunkle Seite“ hat (S. 15), wenn bei einer unheilbaren Krankheit „aggressive Eingriffe das Sterben“ verlängern, Leiden „verursachen“ und „uns die Fähigkeit“ rauben, „in unseren letzten Tagen mit unseren Angehörigen und mit Gott zu sprechen“ (S. 15). Auch Problembereiche, die vielleicht für Laien nur erahnbar sind, werden angesprochen, wie beispielsweise Auseinandersetzungen unter Angehörigen oder mit dem Personal aufgrund von diametral verschiedenen Ansichten darüber, was im Krisenfall noch getan werden muss oder nicht. Erschwert wird die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den im Buch behandelten Themen nach Einschätzung der Autorin durch jahrhundertealte Strategien unserer westlichen Kultur, den Tod zu beschönigen, und die Entwicklung, dass das Sterben immer mehr von zu Hause ins Krankenhaus ausgelagert wird. Interessant ist vor diesem Hintergrund die Aussage, dass Menschen mit einem religiösen sozialen Umfeld eher zu „aggressiveren Eingriffen am Lebensende neigen“ und somit „eher auf Intensivstation sterben“ (S. 34). Auch das heutzutage durch die technischen Möglichkeiten eher schubweise verlaufende Sterben geht demnach mit „einer langsamen, verwirrenden Zerstückelung des Lebens“ einher (S. 28–29). Für Christen erscheint dann „Gottes perfektes Timing … weniger präzise, wenn Maschinen die Grenzen zwischen Leben und Tod verwischen“ (S. 30).
Das legt nahe, dass für die Beurteilung von intensivmedizinischen Maßnahmen und Krankheitszuständen biblische Grundsätze unverzichtbar sind. Butler nennt hier vier wichtige, bei Entscheidungen leitende Prinzipien: die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, Gottes Autorität über Leben und Tod, Gnade und Barmherzigkeit sowie Hoffnung in Christus. Sie erläutert nachvollziehbar, wie beispielsweise diese Prinzipien oft zugunsten eines problematischen „um jeden Preis alles“-tun-Ansatzes missverstanden werden. Das hat zur Folge, dass letztlich sinnlose aggressive Behandlungen durchgeführt werden, mit denen Angehörige, ohne sich dessen bewusst zu sein, Gott unbedingt dazu bringen wollen, ein Wunder zu tun. Dabei wird klar, dass diese Prinzipien, richtig angewendet, eine große Hilfe dabei sind, das Gesamtbild der Hoffnung in Christus zu bewahren.
Im Kern geht es im Buch darum, sinnvolle Lebenserhaltung von meist sinnloser Sterbeverlängerung zu unterscheiden, „nach Heilungsmöglichkeiten zu suchen, aber auch den Tod zu akzeptieren, wenn er eintritt, und das Leiden zu lindern, wo dies möglich ist“ (S. 50). Gut ist, dass Butler keinen unnötigen Keil zwischen christliche Werte und medizinisches Wissen treibt, sondern immer dazu ermutigt, durch gezieltes Befragen des medizinischen Teams den genauen Zustand des erkrankten Menschen besser einordnen zu können.
Wenn Schläuche und Alarme plötzlich weniger mysteriös sind
Im zweiten Teil erfolgt nun nach detaillierter Beschreibung eine „kritische“ Auseinandersetzung mit „Maßnahmen zur Unterstützung der Organfunktion“ (S. 55). In diesen Kapiteln packt die Autorin die heißen Eisen der Intensivmedizin an. Kapitelweise werden die Themen Herzstillstand, Intensivpflege, künstliche Beatmung und Ernährung, Dialyse, kardiovaskuläre Unterstützung und Hirnverletzungen ausführlich behandelt.
Was auf den ersten Blick vielleicht trocken klingt, entpuppt sich beim Lesen als hochinteressant. Bisher unverständliche Krankheitsbilder und medizinische Prozeduren werden einfach erklärt. Dies ist ohne Zweifel eine der größten Stärken des Buches, denn früher oder später werden wir oder unsere Angehörigen uns mit solchen Begriffen herumschlagen müssen. Wer wünscht sich dann nicht zumindest ein solides Grundverständnis, wenn man am Krankenhausbett eines geliebten Menschen sitzt?
Die Nachricht, dass die Überlebensraten bei Herzlungenwiederbelebung deutlich schlechter sind als in populären Fernsehserien, dürfte für viele ernüchternd sein. Auch die positiven Aspekte der Intensivmedizin, der dadurch gegebene Segen Gottes werden ausdrücklich gewürdigt. Weniger bekannt dürften die psychischen Leiden der Kranken und auch Angehörigen infolge aggressiver Behandlungsmethoden sein, die teilweise gefährlichen Nebenwirkungen und die eben nicht unbedingt lebensverlängernden Auswirkungen vieler Maßnahmen.
Auch die verständliche Tatsache, dass viele Menschen sich allein an die Besserung einzelner Werte klammern und sich somit falsche Hoffnungen machen, wird anschaulich erklärt. Ausgespart wird auch nicht das schwierige und aufwühlende Thema Hirntod und die in Medien oft nicht vorgenommene Abgrenzung zu anderen Hirnschädigungen. Die Autorin räumt gerade auch in diesem Zusammenhang ein, dass es weiterhin „Kontroversen in klinischen und ethischen Fragen“ gibt (S. 157) und ermutigt dazu, sich möglichst umfangreich mit Ärzten und Seelsorgern darüber auszutauschen.
Das erworbene Wissen anwenden
Im dritten Teil werden zusammenfassend Hilfen gegeben für „vernünftige Entscheidungen am Lebensende“ (S. 159). Positiv ist, dass in der deutschen Ausgabe immer wieder auf die Situation in Deutschland Bezug genommen wird. Vorgestellt werden – bei klarer Abgrenzung von Euthanasie – Palliativmaßnahmen und das Hospizwesen, die mit einem veränderten Blickwinkel oft ein Plus an Lebensqualität und möglicherweise sogar an Lebenserwartung für die Erkrankten und eine Verringerung psychischer Belastung der Pflegenden ermöglichen (S. 167–168). Butler hebt berechtigterweise hervor, dass hier Qualitätszeit und „Gelegenheiten zur Vorbereitung und zum Abschluss, zum Sündenbekenntnis und zum Nachdenken über die Wahrheit der Auferstehung und die kraftvolle Hoffnung, die sie vermittelt“, gewonnen werden können (S. 168).
Vor diesem Hintergrund wird „die gesundheitliche Versorgungsplanung“ (S. 192 ff.) empfohlen einschließlich der Einrichtung einer Vorsorgevollmacht oder Patientenverfügung mit dem überzeugenden Hinweis, dass dies „uns die Möglichkeit“ gibt, „durch im Glauben getroffene Entscheidungen Gott anzubeten, bevor eine Katastrophe uns Sprache, Gedanken und Gebet raubt“ (S. 196).
Die Autorin nennt mehrfach im Buch sinngemäß die mögliche dauerhafte Beeinträchtigung unserer „Fähigkeit zum Gotteslob und zum treuen Dienst“ (S. 155) – wozu sie auch Bewusstsein, Denkvermögen und Kommunikation rechnet – als wichtiges Entscheidungskriterium bei der Frage nach weiteren medizinischen Maßnahmen. Auf den ersten Blick könnte diese Betonung des eher aktiven Dienstes und der Lebensqualität als Tendenz zu einer utilitaristischen Ethik, als Kopplung des Lebenswerts an Nutzen, erscheinen. Beachtet man aber den Gesamtkontext der Aussagen, wird klar, dass diese Einschätzung immer vor dem Hintergrund der im Buch grundlegenden Unterscheidung erfolgt: der Abgrenzung zwischen sinnloser Verlängerung des Sterbens durch aggressive Maßnahmen und dem sinnvollen Einsatz der gleichen Maßnahmen bei Aussicht auf Besserung. Es geht um das Lebensende. Dabei weist Butler darauf hin, dass Maßnahmen wie Intubation und die damit zusammenhängende Sedierung uns gerade am Ende des Lebens die bewusste Auseinandersetzung mit wichtigen Inhalten und die Kommunikation mit geliebten Menschen nehmen können. „Im schlimmsten Fall raubt uns die Technik, auf die wir uns so verlassen, die Freiheit zur Anbetung. Sie verhindert gute Gemeinschaft, Nachsinnen und sogar das Gebet“ (S. 232).
Ausgehend von den genannten vier biblischen Prinzipien formuliert sie Leitfragen zu Lebenszielen, Gottesdienst und Leidakzeptanz und geht diese für sich auch in Form ihrer eigenen Patientenverfügung im Anhang des Buches durch. Dadurch gewinnen Leser praktische Beispiele, wie sich die genannten biblischen Prinzipien konkret umsetzen lassen.
Weitere Anhänge fassen noch einmal die Vor- und Nachteile der einzelnen Maßnahmen tabellarisch zusammen und listen tröstende Bibelverse auf. Ein Glossar der medizinischen Begriffe und Links zu deutschen Formularen runden die Anhänge ab.
Fazit
Kathryn Butler gelingt mit dem Buch das, was sie sich vorgenommen hat. Sie stellt sich der Herausforderung, ein unangenehmes, aber zweifellos dringendes Thema klar und allgemeinverständlich zu erläutern. Inmitten eines medizinisch-technisch-ethischen Dickichts sorgt sie mit klaren, biblisch orientierten Prinzipien und ihrer intensivmedizinischen Erfahrung für notwendige Orientierung. Manche Situationen bleiben auch nach Lektüre des Buches ethisch schwierig und Betroffene werden in konkreten Fällen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Das ändert jedoch nichts daran, dass das Buch nicht nur für Seelsorger oder Pastoren, sondern letztlich für alle interessierten Christen eine wertvolle Entscheidungshilfe bietet.
Buch
Kathryn Butler, Zwischen Leben und Tod: Ein biblischer Leitfaden zu lebenserhaltenden Maßnahmen, Dillenburg: Christliche Verlagsgesellschaft, 2025, 288 Seiten, 19,90 EUR.
Das Buch kann auch direkt beim Verlag bestellt werden.