Jesu Sicht auf das Alte Testament
Im Laufe der Kirchengeschichte haben manche Christen den Wert des Alten Testaments heruntergespielt. Trotzdem behaupten sie, Jesus als ihrem Herrn zu folgen. Eine Untersuchung der Sicht Jesu auf diese Schriften ist daher von entscheidender Bedeutung – schließlich sollte diese den Gläubigen als Grundlage für ihren Umgang mit den ersten drei Vierteln ihrer Bibel dienen.
Ähnlichkeit zwischen Jesus und seinen Zeitgenossen
In vielerlei Hinsicht entsprach Jesu Sicht auf die Schriften seines Volkes genau der Haltung seiner jüdischen Volksgenossen. Er scheint dasselbe Korpus maßgeblicher und autoritativer Dokumente übernommen zu haben wie sein jüdisches Umfeld. Er zitiert aus allen drei großen Teilen der hebräischen Bibel (Gesetz, Propheten und Schriften) und aus allen drei großen Gesetzeskategorien, in die sie später von Christen eingeteilt wurden (Sitten-, Zivil- und Zeremonialgesetz). Er spielt auch auf weitere Texte an und betrachtet sie für sich und seine Zuhörer als durchweg autoritativ (vgl. Joh 10,35). Gott ist für ihn der eigentliche Autor der Bibel und die Worte der Schrift sind seine Worte.
Jesus und die Historizität des Alten Testaments
Jesus scheint die Erzählungen des Alten Testaments als historisch angesehen zu haben. Er beruft sich häufig auf Ereignisse im Leben alttestamentlicher Schlüsselfiguren, um seine Lehre zu untermauern oder sein Verhalten zu rechtfertigen. Er kann voraussetzen, dass seine Zuhörer seine Überzeugung teilen, dass diese Dinge wirklich geschehen sind und aufgezeichnet wurden, um dem Volk Gottes in späteren Epochen maßgebliche Beispiele für gutes und schlechtes Verhalten zu liefern. So erinnert er zum Beispiel an diejenigen, die in vergangenen Zeiten die Propheten Gottes verfolgten (vgl. Mt 5,12). Er zitiert Tyrus, Sidon und Sodom als Beispiele böser Städte des Altertums (vgl. 11,21–24). Er akzeptiert, dass Jona im Bauch des großen Fisches am Leben blieb und dann zu einem bußbereiten Ninive predigte. Und er glaubt, dass die Königin von Saba tatsächlich lebte und Salomo besuchte (vgl. 12,40–42). Er verweist auf die Tage Noahs und Lots und die katastrophale Zerstörung, die sich jeweils um sie herum ereignete (vgl. 24,37–39). Er spricht über das Wirken von Elia und Elisa (vgl. Lk 4,25–27) und beruft sich auf den Bericht, in dem Mose in der Wüste eine eherne Schlange errichtet (vgl. Joh 3,14). Er glaubt, dass Gott die Israeliten während ihrer Wanderschaft mit Manna versorgte (vgl. 6,32.49.58). Schließlich setzt er die historische Wahrheit eines breiten Querschnitts alttestamentlicher Erzählungen voraus, wenn er pauschal verkündet, dass auf seine Generation das ganze Gericht für „alles gerechte Blut kommt, das auf Erden vergossen worden ist, vom Blut Abels, des Gerechten, bis zum Blut des Zacharias, des Sohnes Barachias, den ihr zwischen dem Tempel und dem Altar getötet habt“ (Mt 23,35; vgl. Lk 11,50–51).
Jesus und die Prophezeiungen des Alten Testaments
An manchen Stellen übernimmt Jesus den Ansatz seiner Zeitgenossen und betrachtet unerfüllte Prophezeiungen als maßgeblichen und wahren Bericht über das, was in der Zukunft noch geschehen muss. So muss es immer noch einen „Gräuel der Verwüstung, von dem durch den Propheten Daniel geredet wurde“, geben (Mk 13,14); es geht dabei um die Entweihung des Jerusalemer Tempels (vgl. Mt 24,15; Lk 21,20), in der sich die Schrecken von Daniel 9,27, 11,31 und 12,11 wiederholen. Jesus gibt auch zu verstehen, dass Hosea 10,8 sich noch erfüllen muss; die Stelle spricht von der Trübsalszeit dieser Welt, in der die Menschen ihr Elend beenden wollen, indem sie sich wünschen, die Berge mögen auf sie fallen und sie töten (vgl. Lk 23,30). Er sieht kosmische Umwälzungen voraus, die seine Wiederkunft begleiten, und verwendet dazu die Bilder aus Jesaja 13,10 und 34,4 (vgl. Mk 13,14). Er sagt auch ein endzeitliches Festmahl für das gesamte Volk Gottes aus aller Welt voraus (vgl. Mt 8,11–12), das auf Jesaja 25,6–8 beruht.
Unterschiede zwischen Jesus und seinen Zeitgenossen
Jesu Verständnis des Alten Testaments deckt sich jedoch nicht vollständig mit dem seiner jüdischen Zeitgenossen. Trotz vieler Ähnlichkeiten zwischen seiner und ihrer Sichtweise zitiert er die Schrift oft auch in Situationen, in denen er sich gegen wichtige Autoritätspersonen oder Autoritätsgruppen im Volk wendet. Manchmal erklärt er, sie hätten den ursprünglichen Sinn oder Zweck eines Textes aufgrund einer Tradition verfehlt, in der dieser verzerrt oder falsch interpretiert worden sei. Manchmal fordert er seine Gesprächspartner direkt heraus, indem er behauptet, sie hätten die klare Lehre eines bestimmten Schriftabschnitts ignoriert oder sogar missachtet. Zum Beispiel fügt Jesus am Ende der längeren Fassung der Berufung des Levi/Matthäus die Anweisung hinzu: „Geht aber hin und lernt, was das heißt: ‚Ich will Barmherzigkeit und nicht Opfer‘“ (Mt 9,13). Jesus kann davon ausgehen, dass seine religiösen Gegner dieselbe Hochachtung vor der Heiligen Schrift haben wie er auch und ihre Wahrhaftigkeit und Autorität anerkennen; aber in diesem Zusammenhang ist die Anwendung Jesu noch radikaler. Denn auch wenn die hebräische Bibel Aussagen wie diese enthält, deutet sie damit niemals an, das Opfersystem müsse abgeschafft werden (vgl. Hos 6,6; 1Sam 15,22; Jes 1,11). Aussagen wie „X und nicht Y“ bedeuteten „X noch viel mehr als Y“. Jesus hingegen schenkt Sündern seine Vergebung und akzeptiert sie als seine Nachfolger (vgl. Mk 2,15), ohne von ihnen zu fordern, im Tempel Tieropfer darzubringen. An dieser Stelle entspricht sein Verhalten ganz sicher nicht der Standardinterpretation der biblisch vorgeschriebenen Praktiken.
Jesus und die typologische Erfüllung des Alten Testaments
Jesus sieht die Schrift häufig in ihm oder in den Ereignissen, die mit ihm zu tun haben, als erfüllt an. Gelegentlich handelt es sich dabei um direkte Vorhersagen von Dingen, die nun eingetreten sind. Weitaus häufiger handelt es sich jedoch um Typologie – die Wiedererkennung von Mustern in der Geschichte, wenn Gott seine charakteristischen und immer wiederkehrenden Wege mit den Menschen offenbart, insbesondere wenn er sie rettet oder richtet. So zitiert Jesus in Matthäus 10,35–36 (und den entsprechenden Parallelstellen) Micha typologisch, um zu bekräftigen, dass seine Jünger – genau wie die Menschen zu Michas Zeiten – in ihren eigenen Familien mit Feindseligkeit und Widerstand konfrontiert werden könnten. Die Typologie Jesu bleibt jedoch fest verankert in historischen Ereignissen, sodass seine Jünger diese Art der Anwendung der Schrift wohl kaum als ungewöhnlich empfunden hätten. Dasselbe gilt für Jesu Verwendung von Jesaja 6,9–10 als einen Grund dafür, zu seiner eigenen Generation in Gleichnissen zu reden (vgl. Mk 4,11–12), und ebenso für seine erneute Anwendung von Jesaja 29,13 auf den heuchlerischen Gottesdienst der religiösen Führer seiner Zeit (vgl. Mk 7,6–7). Auch sein Gebrauch des Begriffs „Räuberhöhle“ in Markus 11,17 wendet Jeremias Verwendung des Begriffs in dem Kontext der korrupten Führer seiner Zeit neu an (vgl. Jer 7,11). In diesem Fall hat Jesus gerade Jesaja 56,7 zitiert, wo es heißt, der Tempel werde ein Bethaus für alle Völker sein (vgl. Mk 11,17) – eine Eigenschaft, die bereits dadurch angedeutet wird, dass es in diesem einen „Vorhof der Heiden“ gibt. Aber im messianischen Zeitalter wird dieser eine noch größere Bedeutung erlangen, wenn die Völker der Welt in noch nie dagewesener Zahl nach Jerusalem pilgern werden, um den Gott Israels anzubeten.
Jesus und das christologische Wesen des Alten Testaments
An vielen Stellen legt Jesus die Schrift christologisch aus, wobei er sowohl direkte als auch typologische Vorhersagen auf sich bezieht, den neu eingetroffenen messianischen König. Auch wenn er mit seiner Verwendung der Schrift nicht unmittelbar eine systematische Christologie entwickelt, wirft die souveräne Autorität, mit der er die Schrift handhabt, dennoch (zumindest implizit) die Frage auf, wer er ist; oder zumindest, wer er zu sein meint. Dieser christologische Ansatz erreicht nach Jesu Tod und seiner Auferstehung seinen Höhepunkt, wenn er in Lukas 24,44 erklärt, „dass alles erfüllt werden muss, was im Gesetz Moses und in den Propheten und den Psalmen von mir geschrieben steht“. Die Psalmen stehen hier für die Schriften im Allgemeinen, da Jesus sich auf alle drei Hauptteile des hebräischen Kanons bezieht (es ist das einzige Mal im gesamten Neuen Testament, wo alle drei zusammen erwähnt werden). Es ist wichtig zu beachten, dass Christus nicht sagt (wie einige Christen im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder behauptet haben), alles in der gesamten Schrift verweise auf ihn. Nicht jeder Vers oder Abschnitt von 1. Mose bis Maleachi lehrt etwas über Christus. Vielmehr behauptet Jesus, dass alles das, was in jedem Teil der Schrift auf ihn hinweisen sollte, tatsächlich erfüllt ist. Tatsächlich hat er dies bereits in Lukas 24,27 behauptet, wo er sich auf die hebräische Bibel mit ihrer einfacheren Zweiteilung in Gesetz und Propheten bezieht: „Und er begann bei Mose und bei allen Propheten und legte ihnen in allen Schriften aus, was sich auf ihn bezieht.“ Aber wenn dies die Zusammenfassung seines langen Gesprächs mit Kleopas und seinem ungenannten Begleiter war, dann gab es sicherlich einige Passagen aus dem Alten Testament, die er mit ihnen erörtern konnte.
Jesus und die Reinheitsgesetze des Alten Testaments
Es gibt auch Momente, in denen Jesus die Erfüllung und Anwendung der levitischen Gesetze völlig auf den Kopf zu stellen scheint. Am dramatischsten ist vielleicht, dass Jesus einen Präzedenzfall dafür schuf, alle Speisen – was einen ausdrücklichen Bruch mit den Speisegesetzen in 3. Buch Mose darstellt – für „rein“ zu erklären. In Markus 7,14–15 (und den Parallelstellen) ruft er die Menge auf: „Hört mir alle zu und versteht! Nichts, was außerhalb des Menschen ist und in ihn hineinkommt, kann ihn verunreinigen; sondern was aus ihm herauskommt, das ist es, was den Menschen verunreinigt.“ Auch wenn Jesus hier in gewisser Hinsicht metaphorisch spricht (daher der Verweis auf „das Gleichnis“ in V. 17), sind die Implikationen relativ klar. Warum benötigen die Jünger weitere Erklärungen? Vermutlich deshalb, weil sie es sich nicht vorstellen konnten, dass Jesus etwas so Dramatisches und Radikales wie die Aufhebung der jüdischen Speisegesetze im Sinn haben könnte. Bevor Petrus (etwa 10 Jahre später) sich überzeugen ließ, dass alle Speisen tatsächlich rein sind, musste Gott ihm die Vision von den unreinen Tieren schicken und ihn dreimal auffordern, zu schlachten und zu essen (vgl. Apg 10,9–16). Markus hingegen, der, wie die frühe Kirche berichtet, sein Evangelium aus der Sicht von Petrus schreibt, konnte noch 20 Jahre (oder mehr) danach zurückblicken und erkennen, dass Jesus tatsächlich alle Speisen für rein erklärt hatte (vgl. Mk 7,19).
Jesus und die Erfüllung des Alten Testaments
Die vielleicht wichtigste Stelle für das Verständnis von Jesu grundsätzlicher Einstellung zum Alten Testament ist Matthäus 5,17–20. Nimmt man die Ähnlichkeiten und Unterschiede Jesu mit anderen Juden in den Blick, ist es von entscheidender Bedeutung, diesen Text richtig zu interpretieren. Jesus beginnt mit der entschiedenen Zurückweisung des Vorwurfs – in welcher Form auch immer dieser erhoben wird –, er würde einen Teil der hebräischen Schriften („das Gesetz oder die Propheten“; V. 17) abschaffen. Bis die gegenwärtige Weltordnung vergangen ist, fügt er mit Nachdruck hinzu, kann nicht der kleinste Teil der Schriften vergehen (vgl. V. 18); außerdem erklärt er, dass jeder seiner Anhänger, der auch nur das kleinste der biblischen Gebote ignoriert oder aufhebt, der Geringste in Gottes Reich sein wird (vgl. V. 19).
All das besagt jedoch nicht, dass Jesus der Meinung war, sein Kommen habe den Vollzug bzw. die Umsetzung des Gesetzes unberührt gelassen. Wie wir eben gesehen haben, sprach er einzelnen Menschen die Vergebung ihrer Sünden zu, unabhängig davon, ob sie im Tempel Tieropfer darbrachten (vgl. Mk 2,5; man beachte auch die Reaktion der Schriftgelehrten in V. 6–7). Er schuf auch den Präzedenzfall dafür, fortan alle Lebensmittel als rein anzusehen. Er kündigte die bevorstehende Ankunft einer Ära an, in welcher der Jerusalemer Tempel seine einzigartige Heiligkeit verlieren würde (vgl. Joh 4,21–24). Er warf den religiösen Führern seiner Zeit nicht nur vor, die Sabbatgebote auf eine zu gesetzliche Art und Weise zu interpretieren, sondern erklärte, dass es immer angemessen sei, am Sabbat Gutes zu tun (vgl. Mk 3,4). Es sollte uns also nicht überraschen, dass Christus nach seiner Erklärung, er sei nicht gekommen, das Gesetz abzuschaffen, sondern es zu erfüllen, nicht das erwartete Gegenteil behauptet – dass er gekommen sei, um es unverändert zu erhalten. Vielmehr spricht er von der Erfüllung des Gesetzes (vgl. Mt 5,17). Er gebraucht dabei dasselbe Verb, das bei Matthäus bereits sechsmal für das Eintreten eines Ereignisses verwendet wird, auf das die Schrift entweder wörtlich oder typologisch hingewiesen hatte (plēroō; vgl. 1,22; 2,15.17.23; 3,15; 4,14). Dies passt perfekt zu der Zeitklausel „bis alles geschehen ist“ in Vers 18. Alles, was nötig war, um die Sünden der Menschheit vollständig zu sühnen, wurde durch das Kreuzeswerk Christi vollbracht.
Für die Gläubigen heute bedeutet es, dass die Opfergesetze in 3. Mose zwar Teil der inspirierten Heiligen Schrift bleiben, sie jedoch nicht mehr buchstäblich befolgt werden müssen (selbst wenn wieder ein Tempel in Jerusalem errichtet werden sollte), sondern die Funktion haben, uns an das einmalige Opfer Jesu zu erinnern. Die Zeit, in der sich Israel von anderen Völkern durch eine Vielzahl ritueller oder zeremonieller Praktiken abgrenzen sollte, ist ebenfalls vorbei: Jesus setzt alles daran, „Sünder“ aller Art (einschließlich Nichtjuden) in die Gemeinschaft mit ihm aufzunehmen, unabhängig von den Vorschriften der Thora (wie das dramatische Beispiel des Hauptmanns von Kapernaum deutlich macht; vgl. Mt 8,5–13). Aber die Einhaltung der Moralgesetze sollte immer noch das Verhalten der Gläubigen kennzeichnen und sie von denen abgrenzen, die sich unmoralisch verhalten.
Wer kann so über das heilige, vollkommene und unveränderliche Gesetz Gottes reden? Nur ein göttlicher Messias. Hätte ein anderer solche Behauptungen von sich gegeben, würde es sich um eine ungeheuerliche Gotteslästerung handeln. Dies also ist der größte Unterschied zwischen den Ansichten Jesu über das Alte Testament und denen seiner übrigen Zeitgenossen: seine Person. Jesus bestätigt das, indem er unmittelbar nach Matthäus 5,17–20 die sogenannten „Antithesen“ formuliert, in denen er das, was seine Zuhörer als wahr über die Thora glauben, von dem unterscheidet, was er darüber lehrt. Manche haben diese Unterschiede auf Auslegungsunterschiede beschränkt, vor allem weil die letzte Antithese nicht das Gesetz selbst zitiert, sondern nur dessen Missverständnis („Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen“; V. 43). Außerdem verschärft Jesus mit seinen Verboten zu zürnen, zu begehren und sich scheiden zu lassen (V. 22, 28 und 32) vielmehr die Gebote, auf die sich seine Verbote beziehen (Mord, Ehebruch und das Ausstellen einer Scheidungsurkunde für die Frau). Andererseits verbietet Jesus Schwüre und Vergeltung, wohingegen das Alte Testament die Erfüllung von Schwüren sowie Vergeltung („Auge um Auge“) tatsächlich einfordert (vgl. V. 33–42); hier verändert er also die Anforderungen des geschriebenen Gesetzes. Es ist daher besser, von dem Versuch abzusehen, eine allgemeine Aussage über alle sechs Antithesen zu treffen; stattdessen wird deutlich, dass Jesus die Autorität hat, Gottes Absicht mit dem Gesetz – sowohl in seiner Ganzheit als auch all seinen Teilen – im Zeitalter der Erfüllung seines Neuen Bundes zu verkünden.
Schlussfolgerung
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Jesus das Alte Testament als Gottes Wort an diese Welt ansieht, was sich in seinem Umgang mit einer ganzen Bandbreite von Texten zeigt (und mit dem seine jüdischen Zeitgenossen nicht immer einverstanden waren). Was wir in den Lehren Christi, die auf der Bibel seines Volkes basieren, nicht finden, sind Anhaltspunkte, die auf einen Kanon im Kanon hinweisen, der nur bestimmte Teile der Bibel als maßgeblich betrachtet. Sicher, wie andere Rabbiner auch, kann Jesus einige Bücher als zentraler anerkennen als andere und zwischen den leichteren und den gewichtigeren Teilen der Schrift unterscheiden (vgl. Mt 23,23). Aber die gesamte Bibel bleibt inspiriert, und alle Gesetze Gottes müssen befolgt werden. Das können sie allerdings erst dann, wenn wir sehen, wie die Ankunft des Neuen Bundes die Dinge verändert hat. Um nur zwei Beispiele zu nennen, die über die Evangelien und die Lehre Jesu hinausgehen: Wir finden kein Gebot für Gläubige, den Zehnten zu geben, dafür aber die Aufforderung zu einer opferbereiten Großzügigkeit, die zehn Prozent für viele zu wenig macht (vgl. 2Kor 8,13–15). Auch finden wir kein Gebot zur Ährennachlese, aber wir sehen genug Fürsorge für die Armen, die uns dazu veranlasst, uns nach gleichwertigen Verfahren umzusehen, die den Armen helfen, sich selbst zu helfen.
Entscheidend ist auch, dass Jesus die „Schriften“ als kohärentes und einheitliches Dokument behandelt. Er unterscheidet nicht zwischen irrtümlichen und irrtumslosen Passagen, zwischen Fragen des Glaubens und der Praxis einerseits und Fragen der Geschichte oder Wissenschaft andererseits. Wir dürfen in einen alttestamentlichen Abschnitt nicht etwas hineininterpretieren, das der Abschnitt so nicht lehrt. Aber wenn wir von uns selbst behaupten, Jesus nachzufolgen, sollten wir uns seine Sicht der Bibel zu eigen machen – ihren gänzlich göttlichen Ursprung, ihre Zuverlässigkeit und ihre Autorität für unser Leben.
Weiterführende Literatur
- G.K. Beale und D.A. Carson (Hrsg.), Commentary on the New Testament Use of the Old Testament, Grand Rapids: Baker, 2007.
- R.T. France, Jesus and the Old Testament, Vancouver: Regent College, 1992.
- Steve Moyise, Jesus and Scripture: Studying the New Testament Use of the Old Testament, London: SPCK; 2010.
- Emerson B. Powery, Jesus Reads Scripture: The Function of the Use of Scripture in the Synoptic Gospels, Leiden: Brill, 2002.
- John Wenham, Christ and the Bible, Eugene: Wipf & Stock, 3. Aufl., 2009.