Das gefälschte Gottesreich

Rezension von Daniel Dangendorf
29. Mai 2025 — 9 Min Lesedauer

Holly Pivec und R. Douglas Geivett beschäftigen sich bereits seit einigen Jahren mit der sogenannten „New Apostolic Reformation“ (NAR) und deren Einfluss auf den Evangelikalismus. Auf Englisch sind bereits mehrere Bücher erschienen, darunter 2014 ihr grundlegendes Werk A New Apostolic Reformation? A Biblical Response to a Worldwide Movement[1], das denominationsübergreifend u.a. auch von führenden pfingstkirchlichen Theologen für die sachliche und faire Analyse und Kritik der NAR-Theologie gewürdigt wurde. Nun liegt mit der Übersetzung des an eine breitere Leserschaft gerichteten Buchs Counterfeit Kingdom[2] erstmals eines ihrer neueren Werke auf Deutsch vor.

Schwerpunktmäßig nehmen Pivec und Geivett in ihrem Buch die Bethel Church in Redding (Kalifornien) in den Blick. Anlass dazu geben ihnen einige kontroverse Ereignisse der letzten Jahre, darunter die misslungene und weltweit medial verfolgte Auferweckungsproklamation über einem am plötzlichen Kindstod verstorbenen Mädchen sowie die unter dem Namen „grave sucking/soaking“ bekannt gewordene Praxis, sich auf Gräber verstorbener Heilungsevangelisten zu legen, um an ihrer geistlichen Kraft zu partizipieren und eine „Salbung“ zu empfangen. Darüber hinaus kursieren aus dem Umfeld der Bethel Church Berichte über angebliche Engelsfreisetzungen. Studentinnen der Bethel School of Supernatural Ministry (BSSM) behaupteten, in Wales schlafende Engel der Erweckung aufgeweckt zu haben. Bill Johnson, der leitende Pastor der Bethel Church, benutzte 2020 gemeinsam mit anderen angeblichen Aposteln seine vermeintliche „Vollmacht“, dem Dämon des Rassismus durch Proklamation und das dreifache Schlagen eines Holzstabes in „Herr der Ringe“-Manier Einhalt zu gebieten. Pivec und Geivett dokumentieren darüber hinaus okkulte Praktiken im Kontext der BSSM, darunter Telephatie, Gespräche mit Toten und das Legen von sogenannten „Destiny Cards“ („Schicksalskarten“) als einer Art prophetisches „christliches Tarot“.

Theologische Merkmale der „New Apostolic Reformation“ (NAR)

Im Hauptteil des Buches hinterfragen die Autoren wesentliche theologische Kernmerkmale der NAR. Ausführlich widmen sie sich dem Prophetieverständnis und hinterfragen von der Bibel ausgehend die Annahme, dass für Propheten in der Gemeinde andere Maßstäbe für die Wahrhaftigkeit gelten sollten als im Alten Testament. Sie entlarven einige falsche Prophetien und teils auch offensichtlich gefälschte vermeintliche Prophetien von NAR-Leitern. Sie problematisieren die apostolische Selbstbevollmächtigung, die auf der Annahme beruht, dass nicht nur eine apostolische Geistesgabe heutzutage von Bedeutung ist (wie sie etwa im Kontext des sogenannten „fünffachen Dienstes“ auch in anderen charismatisch geprägten Gemeinden und Bewegungen praktiziert wird), sondern Gott bestimmten Leitern auch heute noch apostolische Vollmacht und ein apostolisches Amt gibt. Dass diese Annahme geistlichen Missbrauch begünstigen kann, wird von den Autoren gut erarbeitet und dokumentiert. In der NAR-Bewegung existieren zudem auch Gruppierungen, die ihr apostolisches Verständnis mit dem sogenannten „Seven Mountain Mandate“ und einer sehr optimistischen „siegreichen Eschatologie“ verbinden, um das Kommen des Reiches Gottes durch die Besetzung öffentlicher politischer und kultureller Schlüsselpositionen zu beschleunigen. Auch wenn man innerhalb der NAR-Aussagen von Einzelnen nicht pauschalisieren kann und darum auch die Pastoren der Bethel Church darum bemüht sind, sich selbst nicht als der NAR zugehörig labeln zu lassen und sich von autoritären Strukturen abzugrenzen, gelingt es Pivec und Geivett gut, die Gefahren dieser Lehren aufzuzeigen und biblisch fundiert Kritik zu üben.[3]

Darüber hinaus wird auch die in manchen charismatischen Kreisen sehr geschätzte „The Passion Translation“ einer fundierten Kritik unterzogen, die vielfach den Sinngehalt biblischer Texte grob verfälscht wiedergibt. Schlussendlich wird auch die in einigen Gemeinden vertretene Irrlehre behandelt, dass das Evangelium grundsätzlich auch körperliche Heilung von Krankheiten auf Erden impliziere. Diese Theologie durchzieht u.a. auch die Seelsorge- und Proklamationspraxis der Bethel Church und findet sich so auch in ihrem Glaubensbekenntnis wieder.

Besonders einflussreich und bekannt ist die Bethel Church vor allem durch ihre beliebte Musik, die inzwischen Eingang in das Repertoire der meisten Freikirchen auch in Deutschland gefunden hat. Pivec und Geivett sehen diese Musik als Einfallstor für NAR-Praktiken und Lehren und warnen davor, die Lieder der Bethel Church in Gemeinden zu verwenden oder die Lieder zu hören. Hier unterschätzen sie aus Sicht des Rezensenten jedoch die mediale Omnipräsenz ihrer Lieder im Alltag vieler Christen. Die großen Player innerhalb der Lobpreisszene wie Hillsong und Bethel verstehen es seit Jahrzehnten, Liedtexte für ein breites denominationelles Spektrum zu verfassen, die auf denominationsspezifische theologische Festlegungen verzichten. Diese Texte werden dann mit eingängigen Melodien verbunden.[4] So können viele Lieder in unterschiedlichen gemeindlichen Kontexten theologisch ganz unterschiedliche Konkretisierungen annehmen. Nachvollziehbar ist das beispielsweise am inhaltlich unverfänglichen und beliebten Lied „Jesus meine Hoffnung lebt“/„Living Hope“). Eine Formulierung wie „sprach deinen Namen in die Nacht“/„spoke your name into the night“ wird je nach Situation im Sinne einer durch Aussprache wirksamen Proklamation oder aber im Sinne einer tröstenden Vergegenwärtigung der Nähe Gottes im Gebet verstanden werden können, wenngleich die deutschen Übersetzer hier letzteres im Sinn haben und der unmittelbare Kontext dies auch näherlegt.[5] „Einfach abschalten“ erscheint dem Rezensenten von daher im Umgang mit Liedern von Bethel eine zu kurz gegriffene Devise. Vielmehr bedarf der gemeindliche Umgang mit Musik beständiger Weisheit im Umgang mit dem unvermeidlichen privaten wie auch öffentlichen Gebrauch und Konsum von Liedern aus dem Kontext der NAR-Bewegung. Das digitale Zeitalter lässt sich nicht zurückdrehen und Christen müssen zunehmend einen weisen Umgang mit der virtuellen Welt lernen.[6] Die Musik von Bethel wird so schnell nicht aus den Gemeinden verschwinden und selbst, wenn Gemeinden konsequent auf die Verwendung dieser Musik verzichten würden, würde die Musik weiterhin das private Glaubensleben und den persönlichen Musikkonsum ihrer Besucher und Mitglieder prägen. Gottesdienstverantwortliche oder verantwortliche Musiker sollten ihre Liedauswahl aber stets inhaltlich prüfen oder prüfen lassen, wenn sie sich selbst eine Überprüfung noch nicht zutrauen.[7]

Übersetzung mit kleinen Mängeln

Es bleibt nicht aus, dass man dem Buch anmerkt, dass es übersetzt wurde. Stehende Begriffe werden gelegentlich uneinheitlich oder nicht übersetzt (etwa bei der „Prophetietechnik“ „hot reading“). Manchmal wird ein deutscher Neologismus erschaffen. Die Praxis des „Gravesucking/soaking“ wird z.B. umschrieben als „Grabsaugen/Grab aussaugen/sich vom Grab durchtränken lassen“). Unverständlich bleibt dem deutschen Leser, wenn der Empfang von Offenbarungen wörtlich übersetzt durch das „[Kommen von] Downloads“ umschrieben wird (S. 148). Im Wesentlichen gibt die Übersetzung aber meist zuverlässig den Gehalt des englischen Originaltexts wieder. Hilfreich und gut gelungen ist im Anhang der deutschen Ausgabe der von Richard P. Moore erarbeitete ergänzende Kurzüberblick über den Einfluss der NAR auf die deutsche Gemeindelandschaft.

Sachliche Momentaufnahme

Im Vergleich zu ihrem eher wissenschaftlich angelegten 2014 erschienenen Erstlingswerk ist zu beobachten, dass die Autoren von einer weniger konfrontativen und sachlichen Herangehensweise gelegentlich abrücken und einen polemischeren und direkteren Ton wählen. Die Jahre der Auseinandersetzung mit der NAR und der Bethel Church hinterlassen im Ton der Autoren ihre Spuren. Angesichts der im Buch dokumentierten Ereignisse erscheint die Charakterisierung der Bethel Church als „Hogwarts für Christen“ zwar polemisch und nicht gerade diskursförderlich, aber nicht unberechtigt, zumal diese Charakterisierung auf Studenten der BSSM zurückzuführen ist. Sympathisanten, die sich erstmals einer kritischen Auseinandersetzung stellen wollen, mag solche gelegentliche Polemik aber wohl eher abschrecken. Die Kritik ist Pivec und Geivett in ihrem Erstlingswerk von 2014 sachlicher gelungen.

Darüber hinaus ist zu beachten, dass in den drei Jahren seit der englischen Erstauflage manche Aussagen aktualisiert werden müssen. So haben beispielsweise die Kritik an den wohl gefälschten „Prophetien“ von Shawn Bolz und Anschuldigungen bezüglich übergriffigen Verhaltens dazu geführt, dass sich die Bethel Church Anfang Februar dieses Jahres von ihm distanziert hat.[8] Die Gemeinde war und bleibt nicht untätig, sich mit Kritikern auseinanderzusetzen. Wer sich tiefergehend mit der Thematik beschäftigen möchte, findet online viel Material.

Jede Bewegung ist im Fluss und damit bleibt auch dieses Buch eine Momentaufnahme. Nicht immer wird man sympathisierende Gemeinden und im Buch genannte Einzelpersonen in Sippenhaft nehmen können für alle im Buch angesprochenen problematischen Praktiken und theologischen Grundannahmen der NAR. Man sollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass Gemeinden und Einzelpersonen umkehren. Das Buch leistet insgesamt einen sehr wichtigen und notwendigen Beitrag dazu, Gemeindeleitungen für die NAR-Bewegung zu sensibilisieren und die Theologie der NAR anhand der Bibel kritisch zu prüfen. Gleichzeitig ist es jedem Leser möglich, anhand der verlinkten Videos und Texte in den Endnoten die Beobachtungen von Pivec und Geivett nachzuvollziehen und sich selbst eine differenzierte Meinung zu bilden.

Buch

Holly Pivec und R. Douglas Geivett, Das gefälschte Gottesreich. Die Gefahren neuer Offenbarungen, neuer Propheten und Apostel und esoterischer Praktiken für die Gemeinde, Dillenburg: Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg, 2025.
Das Buch kann auch hier, direkt beim Verlag bestellt werden.


1 R. Douglas Geivett und Holly Pivec, A New Apostolic Reformation? A Biblical Response to a Worldwide Movement, Bellingham, WA: Lexham Press, 2014.

2 Holly Pivec und R. Douglas Geivett, Counterfeit Kingdom. The Dangers of New Revelation, New Prophets and New Age Practices in the Church, Nashville, TN: B&H Publishing Group, 2022.

3 Vgl. „Does Bethel Church Belong to the New Apostolic Reformation (NAR)? | Rediscover Bethel”, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=6_2cFs32Rss (Stand: 6.4.2025).

4 Diese Dynamik, die die globale Verbreitung der Musik von Hillsong und Bethel maßgeblich mit beschleunigt hat, wird eindrucksvoll nachgezeichnet von Mark Evans, „Hillsong Abroad: Tracing the Songlines of Contemporary Pentecostal Music“, in: Monique M. Ingalls und Amos Yong (Hg.), The Spirit of Praise: Music and Worship in Global Pentecostal-Charismatic Christianity, University Park, PA: Penn State University Press, 2015, S. 179–196.

5 „Jesus meine Hoffnung lebt/Living Hope“. CCLI-Liednummer 7116987 Arne Kopfermann | Brian Johnson | Kris Madarasz | Matthias Nitsch | Phil Wickham © Phil Wickham Music; Simply Global Songs; Sing My Songs; Bethel Music Publishing. Ein eindeutiges Beispiel für das Verständnis einer ähnlichen Redewendung im Sinne einer Proklamation bietet das Lied „Ich sag Jesus/I speak Jesus“. CCLI-Liednummer 7159089. Abby Benton | Carlene Prince | Dustin Smith | Jesse Reeves | Kristen Dutton | Raina Pratt | Stefanie Wutka © 2019 BEC Worship; Raina Pratt Publishing Designee; WriterWrong Music; For Me and My House Songs; Integrity's Praise! Music; Anchored In Hope Music; Give It A Lift Music.

6 Vgl. dazu Samuel James, Digital Liturgies: Rediscovering Christian Wisdom in an Online Age, Wheaton, IL: Crossway 2025.

7 Vgl. als Hilfestellung zur allgemeinen Beurteilung von Liedern mein Buch Handbuch Daniel Dangendorf, Musik im Gottesdienst, Bonn: VKW, 2020.

8 „Bethel Statement on Shawn Bolz to Alumni.“, online unter: https://www.bethel.com/h/bethel-statement-on-shawn-bolz-to-alumni?mibextid=UyTHkb (Stand: 6.4.2025).