
Mere Christian Hermeneutics
Ein Buch zu schreiben, das eine Brücke über die Kluft zwischen biblischer Exegese und lebensverändernder Theologie schlägt, ist eine Herausforderung für sich. Beginnend mit einem Zitat von Karl Marx beklagt Vanhoozer die Interpretation der Bibel, die die heutige Zivilisation nicht verändert. Einerseits erfordert die theologische Lektüre der Bibel eine akademische Verantwortung; andererseits wird erwartet, dass im Herzen der Leser eine geistliche Transformation stattfindet. Die Bibelexegese erfordert eine bestimmte Theologie und setzt diese voraus, während eine fundierte Theologie ebenso auf einer korrekten Bibelexegese basieren sollte. Es ist nicht einfach, das Gleichgewicht dieser Dialektik zu wahren.
Dennoch schaffte es Kevin J. Vanhoozer in seinem Buch Mere Christian Hermeneutics: Transfiguring What It Means to Read the Bible Theologically eine Tour de Force der biblischen Hermeneutik zu bieten.
Vom Figuralen zum Trans-figuralen
Wie Daniel Treier in seinem Lob auf dieses Buch feststellt, besitzt Vanhoozer „die Gabe, die evangelikale Theologie mit originellen Paradigmen neu zu beleben“. Vanhoozer selbst erklärt, dass sein auf der Verklärung Jesu basierendes Paradigma „sowohl um den wörtlichen Sinn der Bibel als auch um das Licht im Buchstaben geht“ (S. xxii). Jeder gute Bibelausleger sollte sowohl den figuralen als auch den wörtlichen Aspekt des Textes berücksichtigen.
Um dem wörtlichen Sinn der Bibel gerecht zu werden, ist für die Auslegung der biblischen Figuren ein eschatologischer Bezugsrahmen erforderlich. Vanhoozer versteht unter transfiguraler Auslegung eine Interpretation, „bei der biblische Figuren ‚über‘ (Lat. trans) Zeiten und Testamente hinweg miteinander verbunden werden, um eine zusammenhängende, einheitliche Erzählung zu bilden, in deren Mittelpunkt Jesus Christus steht“ (S. 168). Daher sollte sich die christliche Hermeneutik nicht nur mit dem bloßen grammatikalisch-historischen Kontext befassen, sondern insbesondere mit dem historisch-eschatologischen Bezugsrahmen, der es dem wörtlichen Sinn ermöglicht, seine ganze Herrlichkeit zu entfalten. Vanhoozer stellt seine These auf: „Die transfigurale Auslegung folgt der Art und Weise, wie die biblischen Worte über die Figuren hinweg oder darüber hinaus zu den Realitäten verlaufen, die diese Figuren andeuten und vorwegnehmen“ (S. 169).
Kanonische Auslegung
Vanhoozer bemüht sich, die Heilige Schrift in einem kanonischen Kontext zu lesen. Mere Christian Hermeneutics versteht er als einen Vorschlag, die Bibel in der Lesekultur der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche zu lesen (S. 180). Nicht nur der kanonische Kontext, sondern auch die liebevolle Beachtung des Buchstabens des biblischen Textes, die Bedeutung göttlicher Autorschaft, eine christozentrische Heilsgeschichte und die Bereitschaft, sich stets durch den Text selbst korrigieren und reformieren zu lassen, sind Schwerpunkte, die von Reformatoren wie Luther und Calvin gelehrt wurden (S. 181). Von Calvin erbt Vanhoozer eine exegetische via media, das heißt eine vermittelnde Position zwischen philologischen Studien, die die Herrlichkeit Christi schmälern, und alttestamentlicher christlicher Forschung, die die Bedeutung ihres ursprünglichen Publikums missachtet (S. 187). Solche vermittelte Auslegung bei Calvin beruht auf einer göttlichen transfigurativen Absicht. Die kanonische Lesart bedeutet, dass wir das Alte und das Neue Testament nicht voneinander isolieren sollten. Indem wir das Neue Testament aus dem Reichtum der alttestamentlichen Theologien besser verstehen, gewinnen wir auch ein tieferes Verständnis des Alten Testaments aus der christozentrischen Perspektive des Neuen Testaments.
Die Verklärung Christi als hermeneutisches Paradigma
Inspiriert von Hieronymus, der die geistliche Auslegung mit der Verklärung Jesu verglich, schlägt Vanhoozer vor, „den hermeneutischen Berg zu erklimmen … um nach dem Licht Christi zu suchen“ (S. 226). Dieses Licht sollte nicht getrennt vom Text gesucht werden, sondern in und durch seine Buchstaben. Vanhoozer argumentiert, dass die Verklärung Jesu nicht nur eine Randnotiz im Leben Jesu ist, sondern aus der Perspektive der Theologie des Lichts das wichtigste Ereignis zwischen Schöpfung und eschatologischer Vollendung darstellt. Was wie eine allegorische Exegese erscheinen mag, erklärt Vanhoozer als analogia corporis: Es muss eine gewisse Analogie zwischen der Verklärung des Leibes Jesu und der Verklärung des Buchstabens des biblischen Textes in seiner Auslegung geben (S. 228–229). Die Ähnlichkeit zwischen dem Leib Jesu und dem Buchstaben des Textes hat mit der Tätigkeit des Wortes in der Ökonomie des Lichts zu tun. Vanhoozer definiert die „Ökonomie des Lichts“ als „die Art und Weise, wie Gott seinen ewigen Zweck verwirklicht, sich den Geschöpfen in Raum und Zeit bekannt zu machen“ (S. 221). Aus der evangelischen Tradition ist Jonathan Edwards der inspirierendste Theologe, der sich mit der Ökonomie des Lichts beschäftigt. Laut Edwards genügt es nicht, das Licht bloß objektiv wahrzunehmen. Vielmehr bedarf es der richtigen religiösen „affections“, eines „neuen Sinns des Herzens“, um das Licht Christi sehen zu können (S. 253–254).
Nicht nur der Buchstäbliche, sondern auch der Leser
Eine gute Auslegung hat die Aufgabe, nicht nur den Buchstaben des Textes, sondern auch den Leser zu verklären. Im Text des Alten Testaments sollte der Leser zur Ehre Christi lesen, auch wenn diese Herrlichkeit verschleiert sein könnte. Hermeneutik ist auch eine doxologische Gelegenheit, denn man kann die Bibel nicht interpretieren, ohne Gott anzubeten. Nicht weniger wichtig ist die Transformation des Lesers bei dieser doxologischen Suche. Inspiriert von Kierkegaard verwendet Vanhoozer die Geschichte von Jakobs Ringen mit Gott am Jabbok als Modell für den Kampf des Lesers, sich selbst angesichts der Heiligen Schrift zu verstehen (S. 332–333). Genau wie in der Geschichte von Jakobs Kampf muss der Leser seinen alten Namen (vgl. 1Mose 32,27), das heißt sein falsches Selbst und seine falschen Ideologien, bekennen. Paulus sprach davon, die Herrlichkeit des Herrn mit aufgedecktem Angesicht widerzuspiegeln und von einer Herrlichkeit zur anderen verwandelt zu werden (vgl. 2Kor 3,18). Dasselbe sollte für den Leser gelten, der im Text das Licht Christi widerspiegelt; er wird in das Bild des Herrn verwandelt.
Einschränkung des Buches
Man sollte hier eher von Einschränkungen als von Schwächen sprechen. Trotz der vielen erhellenden Punkte in dem Buch kann nicht erwartet werden, dass alle umstrittenen Interpretationsdebatten der Kirche gelöst werden können. Man könnte sich fragen, wie sich dieser Rahmen auf die hermeneutische Debatte über die Auslegung von Passagen des Neuen Testaments, etwa über die Natur der Erlösung, die kirchliche Autorität und die Sakramente, anwenden lässt. Die Geschichte der Verklärung Jesu kann als eine Hilfe zum besseren Verständnis und zur Vertiefung der reformatorisch-christozentrischen Auslegung dienen, wohl aber nicht als der hermeneutische Schlüssel.
Fazit
Das Buch bietet einen neuen Ansatz in hermeneutischen Studien und ist gleichzeitig in der ökumenischen Sensibilität (insbesondere der katholischen und reformierten Tradition) verwurzelt. Da wir in einem Land leben, in dem die Unzulänglichkeit der historisch-kritischen Methode kaum deutlicher zu spüren ist, ist Vanhoozers transfigurale Hermeneutik tatsächlich rein christlich (merely Christian). Es ist rein christlich, weil es Grundsätze für das Lesen der Bibel sowohl in universeller Zeitlichkeit als auch in universeller Räumlichkeit verspricht, ohne in eine billige ökumenische Vereinfachung zu verfallen. Mit seinem evangelischen Geist und seiner Gelehrsamkeit ist das Buch sowohl für Theologiestudenten als auch für erfahrene Theologen geeignet. Es sollte Pflichtlektüre auch für Pfarrer und alle Christen sein, die das Wort Gottes mit Nutzen lesen und davon verändert werden möchten.
Buch
Kevin J. Vanhoozer, Mere Christian Hermeneutics: Transfiguring What It Means to Read the Bible Theologically, Grand Rapids: Zondervan, 2024, 448 Seiten, ca. 35 EUR.