Was das Kreuz uns heute sagt

Artikel von Christian Schmid
18. April 2025 — 7 Min Lesedauer

Es ist ein schöner Frühlingsnachmittag. Ich spaziere durch meine geliebte Stadt. Plötzlich beginnen die Kirchenglocken zu läuten. Doch es ist kein gewöhnliches Stundengeläut – es ist ein langes, eindringliches Läuten, wie es im Berner Münster sonst nur bei Beerdigungen bedeutender Persönlichkeiten erklingt. Ich blicke auf die Uhr: Drei Uhr nachmittags. Karfreitag. Und auch wenn das wohl nur wenigen bewusst ist, die durch die alten Gassen Berns schlendern, erinnern die Glocken an den Tod der bedeutendsten Person der Geschichte: Jesus Christus. Sein Kreuzestod ist nicht nur ein historisches Ereignis, sondern offenbart uns vier zentrale Wahrheiten, die bis heute von Bedeutung sind.

Die Tiefe unserer Schuld

Alle vier Evangelien des Neuen Testaments zeichnen ein Bild von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Sie rufen uns auf, unser altes Leben hinter uns zu lassen, der Sünde zu entsagen und Jesus, dem König, zu vertrauen und nachzufolgen. Jeder Evangelist tut dies auf seine Weise – mit eigenen Schwerpunkten und für ein jeweils anderes Publikum. So lässt der eine bestimmte Details weg, während ein anderer zusätzliche Erklärungen gibt oder eine andere Reihenfolge wählt, um zentrale Wahrheiten zu betonen.

Es gibt nur wenige Ereignisse aus dem Leben Jesu, die alle vier Evangelien berichten. Doch der blutige Tod Jesu am Kreuz an jenem düsteren Freitagnachmittag gehört dazu. Geschmäht von römischen Soldaten, verachtet vom Volk und gehasst von den religiösen Führern, wird Jesus ans Kreuz geschlagen. Er, der Geber und Vollender des Gesetzes, wird unter die Gesetzlosen gerechnet (vgl. Jes 53,12).

Was sich vor den Augen der Menschen bei der Kreuzigung abspielte, ist erschütternd – und doch verblasst es gegenüber dem, was sich im Unsichtbaren vollzog. Matthäus berichtet: „Aber von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde“ (Mt 27,45). Mitten am Tag wird es dunkel – ein sichtbares Zeichen für eine tiefere, geistliche Finsternis. Der heilige Gott richtet seinen geliebten Sohn. Jesus gibt dies selbst zu erkennen: „Eli, Eli, lama sabachthani?“ – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46).

Wie einst der Priester in 3. Mose 16 die Sünde des Volkes auf den Sündenbock legte und ihn in die Wüste schickte, so wird auch unsere Sünde auf Jesus gelegt. Dem einzigen Menschen, der jemals sündlos lebte, wird unsere Schuld angerechnet. Und so wendet sich Gott – dessen Augen zu rein sind, um das Böse anzusehen (vgl. Hab 1,13) – von seinem Sohn ab. Das Ausmaß dieses Leids können wir kaum erfassen. Denn wir haben nie in solch vollkommener, inniger Gemeinschaft mit Gott gelebt.

Die körperlichen Qualen der Kreuzigung und die Demütigungen durch Spott und Ablehnung sind nur ein schwacher Abglanz der eigentlichen Pein. Warum musste das alles geschehen? Jesaja schreibt: „Doch er wurde um unserer Übertretungen willen durchbohrt, wegen unserer Missetaten zerschlagen” (Jes 53,5). Und Paulus lehrt: „Christus [ist] für unsere Sünden gestorben...” (1Kor 15,3). Wenn unsere Sünden so schwerwiegend sind, dass Jesus dafür sterben musste und von Gott verlassen wurde – wie ernst ist dann unsere Schuld?

Manche Sünden erscheinen uns vielleicht gering, fast harmlos. Vielleicht, weil wir uns an sie gewöhnt haben. Oder weil sie in unserer Gesellschaft nicht mehr als schlecht gelten, sondern als normal – ja sogar als gut. Doch jede Sünde ist Rebellion gegen Gott. Und Jesus musste dafür leiden. Karfreitag erinnert uns daran, wie schwerwiegend unsere Sünde ist.

Kein anderer Weg als Jesus

Du kennst sicher die Geschichte von Abraham und Isaak im Alten Testament. Eines Tages sagt Gott zu Abraham: „Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, Isaak, und geh ins Land Morija. Dort bring ihn auf einem Berg, den ich dir zeigen werde, als Brandopfer dar“ (1Mose 22,2). Abraham gehorcht – ein beeindruckendes Beispiel des Glaubens. Als er das Messer hebt, um seinen Sohn zu opfern, spricht Gott erneut: „Lege deine Hand nicht an den Knaben ... denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest“ (1Mose 22,12). Gott sorgt für einen Widder, den Abraham stattdessen opfert.

Stell dir nun die Geschichte andersherum vor: Gott fordert Abraham auf, einen Widder zu opfern. Doch Abraham entscheidet sich, Isaak zu opfern – obwohl Gott das nie verlangt hat. Wäre das Ausdruck der Liebe eines Vaters? Natürlich nicht.

Es ist leicht zu erkennen: Die Begebenheit auf dem Berg Morija ist ein Bild für Gottes Opfer. Während Gott Abraham im letzten Moment einen Ersatz bietet, gibt er für uns seinen Sohn hin. Nicht, weil es keine Alternative gäbe, sondern weil es keine ausreichende Alternative gab. Ein liebender Gott würde seinen Sohn nicht opfern, wenn ein anderer Weg ausgereicht hätte.

Der Hebräerbrief erklärt: Ohne Blutvergießen gibt es keine Vergebung (vgl. Hebr 9,22). Doch das Blut von Tieren kann keine Sünden tilgen (vgl. Hebr 10,4). Nur das Blut des sündlosen Lammes Gottes genügt. Es reinigt von aller Schuld – jeden, der auf Jesus vertraut (vgl. 1Joh 1,7). Ohne dieses Blut gibt es keine Vergebung. Karfreitag erinnert uns daran, dass Jesus der einzige Weg ist.

Gottes gerechter Zorn ist Realität

Zu Beginn des Römerbriefs schreibt Paulus, dass Gott sich durch die Schöpfung jedem Menschen offenbart hat. Doch wir Menschen unterdrücken diese Wahrheit, weil wir lieber unser eigener Herr sein wollen. Statt Gottes guten Willen zu befolgen, leben wir nach unseren eigenen Maßstäben. Das führt dazu, dass Gottes Zorn über uns kommen wird.

Deshalb rief Johannes der Täufer zur Umkehr auf. Die Menschen sollten sich von ihren bösen Wegen abwenden. Doch viele religiöse Führer sahen keinen Grund, Buße zu tun. Sie waren schließlich keine „offensichtlichen Sünder“. Ähnlich wie heute viele Menschen dachten sie: „So schlecht bin ich doch nicht – zumindest nicht im Vergleich zu anderen.“ Doch Johannes fand klare Worte für sie: „Schlangenbrut! Wer hat euch eingeredet, ihr könnt dem zukünftigen Zorn entfliehen?“ (Mt 3,7). Weder religiöses Wissen noch fromme Werke retten vor Gottes gerechtem Zorn – nur Jesus kann das. Paulus schreibt: Jesus ist es, „der uns errettet vor dem zukünftigen Zorn“ (1Thess 1,10). Genau deshalb musste er sterben.

Am Kreuz erlebte Jesus den Zorn der religiösen Führer, des Volkes und der römischen Soldaten. Doch der Zorn, den er dort trug, ging weit über menschlichen Hass hinaus. Gott goss seinen ganzen Zorn über die Sünde auf Jesus aus – auf den, der ohne Sünde war, aber an unserer Stelle zur Sünde gemacht wurde (vgl. 2Kor 5,21). So kann Paulus sagen: „Wieviel mehr nun werden wir ... durch ihn vor dem Zorn errettet werden!“ (Röm 5,9). Das erfüllt Gottes Kinder mit tiefer Freude und Dankbarkeit. Zugleich ist es eine ernste Warnung für alle, die Jesus ablehnen. Denn wenn Gottes gerechter Zorn nicht einmal vor seinem geliebten Sohn Halt machte – warum sollte er es dann vor irgendjemandem sonst tun? Karfreitag erinnert uns: Gottes Zorn kommt.

Die Liebe Gottes – offenbart in der Hingabe seines Sohnes

Wenn wir erkennen, wie ernst unsere Sünde ist, wie notwendig Jesu Opfer war und wie sicher Gottes Zorn kommt, dann wird uns umso deutlicher, wie groß seine Liebe ist.

Wie schnell zweifeln wir an Gottes Liebe, wenn unsere Gebete scheinbar unbeantwortet bleiben! Doch Gottes Liebe zeigt sich nicht zuerst in körperlicher Heilung, in erfüllten Beziehungsträumen oder geretteten Kindern – so wichtig all das auch ist. Gottes Liebe zeigt sich in erster Linie am Kreuz. Paulus schreibt: „Gott aber beweist seine Liebe zu uns dadurch, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“ (Röm 5,8).

Während wir in unserer Sünde lebten, führte Gott seinen Plan zur Versöhnung aus – durch Jesus.

Ergriffen von dieser überwältigenden Liebe schreibt Paulus: „Er, der sogar seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat – wie sollte er uns mit ihm nicht auch alles schenken?“ (Röm 8,32). Das bedeutet nicht, dass Gott uns immer alles gibt, was wir wollen. Aber wenn er etwas zurückhält, dann nicht aus Mangel an Liebe, sondern weil er weiß, dass es (noch) nicht das Beste für uns ist.

Auch wenn wir Gottes Liebe in vielen täglichen Segnungen erkennen – am deutlichsten offenbart sie sich im Kreuz. So erinnert uns Karfreitag schlussendlich daran, wie groß Gottes Liebe ist.

Möge uns Karfreitag zu tiefer Dankbarkeit und aufrichtiger Anbetung führen – und in uns das Verlangen wecken, Jesus, den Gekreuzigten, unseren Mitmenschen bekannt zu machen.