Spaltung wegen Lehrfragen – ein offener Brief
Liebe Gemeinde,
wir leben in polarisierten Zeiten. Überall um uns herum brodelt es, die ideologischen Grenzen verfestigen sich, Empörung und Hass sind an der Tagesordnung und es wird immer schwieriger, mit Leuten von der „anderen Seite“ zu reden.
Als Gemeinde bietet sich uns die Gelegenheit, unserer gespaltenen Kultur eine Alternative aufzuzeigen – einen Diskurs, der von Freundlichkeit und Vernunft bestimmt ist. Aber wenn wir ehrlich sind, scheinen wir leider oft eher Teil des Problems (und nicht die Lösung) zu sein. In unseren schlimmsten Momenten greifen wir unsere Brüder und Schwestern in Christus an und verleumden die, für die Christus sein Blut vergoss und mit denen wir gemeinsam die Ewigkeit verbringen werden. Denk nur daran, wie viele bittere Twitter-Fehden zwischen Christen sich vor den Augen der Welt abspielen!
Sicher: Es gibt Zeiten, in denen es angebracht ist, sich in der Gemeinde öffentlich zurechtzuweisen und Meinungsverschiedenheiten offen auszutragen. Trotzdem gilt Jesu Wort: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Joh 13,35). Diese Liebe sollte sich auch in der Art und Weise widerspiegeln, wie wir trotz unterschiedlicher Meinungen miteinander umgehen. Ich schlage drei Möglichkeiten vor, wie wir unsere Meinungsverschiedenheiten – insbesondere Meinungsverschiedenheiten in Lehrfragen – in einem Geist der Liebe austragen können.
Zeige Wertschätzung für die Einheit der Gemeinde
Ein erster Schritt könnte darin bestehen, die kostbare Realität unserer Einheit in Christus wertzuschätzen. Diejenigen unter uns, die Wert auf gesunde Lehre legen, erkennen oft schnell, was uns von anderen im Leib Christi trennt. Es ist gut, um die Lehre besorgt zu sein, aber wir dürfen eine Frage nicht vergessen, die mein Vater oft stellt: Besteht die Einheit der Gemeinde in den Lehren, die uns am Herzen liegen?
Die Einheit der Gemeinde ist keine optionale Beigabe; kein netter Zusatz, über den wir uns auch noch freuen, nachdem wir unsere theologischen Positionen geklärt haben. Vielmehr ist sie ein integraler Bestandteil unseres Lebens als Volk Gottes. Jesus starb, um sie herzustellen (vgl. Eph 2,14), und das Evangelium ruft uns dazu auf (vgl. 1Kor 1,10–17; Phil 2,1–11). Einheit ist auch ein essentieller Bestandteil des Missionsbefehls: Jesus betete, „dass sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir; auf dass auch sie in uns eins seien, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,21).
Natürlich ist das Streben nach Einheit kompliziert. Wir können nicht einfach alle lehrmäßigen Unterschiede der heutzutage bestehenden Denominationen und Gemeinden ignorieren. Auch werden unsere Bemühungen in den meisten Fällen nicht in einer formellen gemeinsamen Gemeindemitgliedschaft münden. Trotzdem sollten wir – soweit wir dazu in der Lage sind – etwas dafür tun, unsere Einheit zu bewahren. Wollen wir das? Beten wir dafür?
Der Apostel Paulus sprach davon, nicht nur bestimmte Vorlieben, sondern auch bestimmte Rechte aufzugeben, um die Einheit des Leibes zu erhalten (vgl. 1Kor 8,13; Röm 14,13). Wenn uns unser Bemühen um die Einheit der Gemeinde keine Opfer abverlangt – wenn es uns nichts kostet –, dann tun wir wahrscheinlich nicht genug.
Prüfe deinen theologischen Eifer
Ein zweiter Schritt sollte darin bestehen, unsere Geisteshaltung im Hinblick auf Lehre zu überprüfen. Das Neue Testament fordert uns dazu auf, zwischen wahrer und falscher Lehre zu unterscheiden (vgl. z.B. 1Joh 4,1). Gleichzeitig kann man in Lehrfragen auf eine Weise sehr genau sein und dabei doch nicht im Geiste Christi handeln. Wir müssen uns vor einem übermäßig kritischen und nach Fehlern suchenden Geist hüten, der die Liebe verrät.
In seinem Buch Cure for Church Divisions (dt. „Heilung für Gemeindespaltungen“) warnt uns Richard Baxter, dass ein solcher Geist dem Satan selbst in die Hände spielt:
„Satan wird jede Art von Strenge vortäuschen, wenn er durch diese nur die Liebe abtöten kann. Wenn du in dir eine Strenge hinsichtlich bestimmter Meinungen oder in Fragen der Exaktheit bezüglich bestimmter Gemeinde- oder Gottesdienstordnungen wiederfindest, die nur dazu beiträgt, die Liebe der Menschen abzutöten und die Gemeinden in Spaltungen zu führen, dann wird Satan dein Gehilfe (und dazu noch der Strengste und Genaueste unter euch allen) sein.“
Baxter erinnert uns daran, dass nicht jeder theologische Eifer von Gott kommt. Wir müssen unsere Herzen bei Meinungsverschiedenheiten prüfen und sicherstellen, dass es die Liebe ist, die uns antreibt:
„Wenn in dir ein heißer, zorniger Eifer gegen die Menschen wegen ihrer Schuld entbrennt, dann denkst du, dass es gewiss ein Eifer ist, der von Gott kommt – aber prüfe, ob nicht mehr Zorn als Liebe darin ist und ob er nicht eher dazu dient, deinen Bruder zu entehren, als ihn zu heilen; ob er nicht eher Parteiungen und Spaltungen schafft, als sie zu heilen. Wenn dem so ist – und wenn der heilige Jakobus recht hat –, dann betrügst du dich hinsichtlich des Ursprungs deines Eifers selbst (vgl. Jak 3,15–16); und er hat einen schlimmeren Ursprung, als du vermutest.“
Baxters ernüchternde Worte warnen uns: Es reicht nicht, einfach nur recht zu haben. Unser Kennzeichen muss die Liebe sein. Selbst unsere Kritik muss auf Heilung abzielen, nicht auf Verurteilung und Beschämung – auf Vereinigung, nicht Spaltung.
Betrachte andere Christen als Geliebte in Christus
Ein letzter Schritt besteht darin, unsere Mitchristen so zu sehen, wie Jesus sie sieht. Ganz gleich, wie schwerwiegend deine Differenzen mit einem Bruder oder einer Schwester in Christus auch sein mögen – wenn es sich um ein Kind Gottes handelt, das Jesus in seiner Liebe angenommen hat, kannst du es nicht abstoßen. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Meinungsverschiedenheiten ignorieren sollten. Auch ist unter bestimmten Umständen Rechenschaft und Konfrontation angebracht. Aber selbst unsere Meinungsverschiedenheiten und Konfrontationen müssen in Liebe geschehen.
Charles Spurgeon brachte das schön zum Ausdruck, als er über seine Meinungsverschiedenheiten mit George Herbert in der Frage der Lehre von der Gemeinde sprach:
„Wo der Geist Gottes ist, muss Liebe sein. Und wenn ich einmal einen Mann als meinen Bruder in Christus Jesus erkannt und anerkannt habe, dann nötigt mich die Liebe Christi, ihn nicht mehr als Fremden oder Außenstehenden zu betrachten, sondern als einen Mitbürger: als Heiligen unter anderen Heiligen. Nun hasse ich das Hochkirchentum, wie meine Seele den Satan hasst; aber ich liebe George Herbert, obwohl George Herbert ein hoffnungsloser Hochkirchler ist. Ich hasse sein Hochkirchentum, aber ich liebe George Herbert von ganzem Herzen (und ich habe eine warme Ecke in meinem Herzen für jeden Mann, der ist wie er). Lasst mich einen Mann finden, der meinen Herrn Jesus Christus so liebt, wie George Herbert es tat, und ich frage nicht, ob ich ihn lieben soll oder nicht; es gibt keinen Raum für derartige Fragen, denn ich kann nicht anders: Wenn ich nicht aufhören kann, Jesus Christus zu lieben, kann ich nicht aufhören, diejenigen zu lieben, die ihn lieben. … Ich werde mich dir entgegenstellen, wenn du als einer, der Jesus Christus liebt, damit beginnst, unter seinen Leuten Unterschiede zu machen.“
Haben wir eine „warme Ecke in unserem Herzen“ für jeden wahren Christen, egal wie sehr wir in verschiedenen zweit- oder drittrangigen Lehren unterschiedlicher Meinung sein mögen? Wenn es um die Schafe Christi geht, können wir nicht wählerisch sein. Wenn sie wertvoll für ihn sind, sollten sie auch wertvoll für uns sein.
Wir müssen unsere Identität im Evangelium finden
Theologische Streitigkeiten sind oft darauf zurückzuführen, dass wir unsere Identität nicht im Evangelium finden. Es ist leicht, dass sich gerade bei unseren lehrmäßigen Besonderheiten ein Geist der Selbstgerechtigkeit einschleicht. Wie John Newton warnte: „Selbstgerechtigkeit kann sich sowohl von Lehren als auch von Werken ernähren!“
Wenn wir erkennen, dass unsere theologische Mentalität nicht mit dem Evangelium übereinstimmt, müssen wir in unserem Herzen zu Jesus selbst zurückkehren. Er allein verdient unsere ultimative emotionale Treue. Im Verhältnis zu seinem Evangelium finden alle Lehren ihren richtigen Platz. Wenn Jesus allein den Thron unseres Herzens besetzt, wird er uns zu der wunderbaren Ausgewogenheit verhelfen, die uns erlaubt, sowohl alle seine Nachfolger zu lieben als auch alle seine Lehren aufrechtzuerhalten.
Herzlich verbunden in der Sache Christi
Gavin
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