Handbook of Neo-Calvinism

Rezension von Hanniel Strebel
27. Februar 2025 — 4 Min Lesedauer

Der vorliegende Sammelband bietet eine umfassende Einführung in den Neo-Calvinismus, eine theologische Bewegung, die sich aus der Reformierten Orthodoxie entwickelt hat. Ziel ist es, eine kritische Weiterentwicklung dieser Tradition zu ermöglichen und theologische Einsichten auf gegenwärtige Fragen anzuwenden. Die Herausgeber verdeutlichen dies bereits in ihrer prägnanten Definition: „Der Neo-Calvinismus ist die kritische Weiterentwicklung der Reformierten Orthodoxie im Interesse des modernen Lebens.“ Diese Definition zeigt drei wesentliche Aspekte auf: Erstens wird die reformierte Orthodoxie als reiche Grundlage ernst genommen, zweitens nicht bloß wiederholt, sondern weiterentwickelt, und drittens kontextualisiert – jedoch nicht im Sinne einer bloßen Anpassung an den Zeitgeist, sondern als Maßstab zur Beurteilung gegenwärtiger Entwicklungen.

Theologische Grundlagen des Neo-Calvinismus

Im ersten Teil des Bandes werden die theologischen Kernanliegen behandelt. Besonders betont wird die Souveränität Gottes (Kapitel 3), die sich in der Schöpfung, der Erlösung und der Heiligung manifestiert. Das Nachdenken über Gott beginnt beim dreieinigen Gott selbst (Kapitel 1), ein Grundsatz, den bereits Kuyper und Bavinck hochhielten. Dabei standen für sie nicht kreative Neuinterpretationen, sondern die Anwendung reformierter Theologie auf Welt und Leben im Mittelpunkt. Auch die Schöpfungslehre (Kapitel 2) spielt eine zentrale Rolle: Sie beschreibt die ontologische Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf und hebt hervor, dass die gesamte Schöpfung göttlichen Charakter widerspiegelt. Die Welt ist von Einheit und Vielfalt durchdrungen, geordnet durch göttliche Gesetzmäßigkeiten, und der Mensch ist dazu berufen, sie weiterzuentwickeln. Ebenso wichtig ist das Verständnis von Theologie als Wissenschaft, die durch göttliche Offenbarung bestimmt wird (Kapitel 4). Deus dixit – Gott spricht. Cory Brock vertieft diese Überlegungen in Kapitel 7 mit der Lehre der Allgemeinen Gnade. Ich persönlich bevorzuge hier den Begriff „erhaltende Gunst“, um diese klar von der rettenden Gnade zu unterscheiden. Brock setzt sich zudem mit kontroversen Debatten zu diesem Thema auseinander.

Zentrale Figuren der Bewegung

Der zweite Teil stellt die maßgeblichen Denker des Neo-Calvinismus vor, angefangen mit Willem Groen van Prinsterer bis hin zu G.C. Berkouwer. Letzterer trug mit seiner Studies in Dogmatics-Reihe maßgeblich zur internationalen Rezeption bei. Die Aufnahme von James Orr (Kapitel 15) erscheint mir hingegen weniger stringent, da er als schottischer Theologe nicht direkt in die Bewegung eingebunden war. Die Philosophen D.H.Th. Vollenhoven und Herman Dooyeweerd werden vorgestellt, jedoch vermisse ich eine kritische Auseinandersetzung mit theologischen Verschiebungen, wie sie etwa John Frame in The Amsterdam Philosophy: A Preliminary Critique thematisiert.

Historische Perspektiven

Der dritte Teil ergänzt die historische Perspektive des Neo-Calvinismus. Der Aufsatz zur mittelalterlichen Theologie (Kapitel 23) konnte mich nicht überzeugen, insbesondere der Vergleich zwischen Bavinck und Hugo St. Victor. Die Kapitel zur Verankerung in der Reformierten Orthodoxie (Kapitel 25) sowie zur geografischen Entwicklung in den Niederlanden (Kapitel 26) sind hingegen gelungen und zeigen die Vielschichtigkeit dieser Bewegung auf. Besonders hervorzuheben ist, wie der Neo-Calvinismus sich nicht nur aus der reformierten Tradition speist, sondern auch mit den gesellschaftlichen Herausforderungen seiner Zeit in den Niederlanden verwoben war – einer Zeit des Umbruchs, geprägt von liberaler Bibelkritik, philosophischem Naturalismus, Urbanisierung und Industrialisierung.

Das Erbe des Neo-Calvinismus

Der vierte Teil reflektiert die heutige Relevanz des Neo-Calvinismus. Vincent Bacote setzt sich kritisch mit Kuypers eurozentrischen Bemerkungen auseinander (Kapitel 35). Ebenso zeigt Kapitel 30 bedeutendes Potential für eine Weiterentwicklung auf. Dass der Sammelband sich nicht auf eine bloße Reproduktion vergangener Einsichten beschränkt, sondern den Auftrag zur konstruktiven Weiterentwicklung ernst nimmt, ist ein klarer Pluspunkt. Der abschließende Beitrag widmet sich Timothy Keller (1950–2023) und dessen spätem Interesse an Herman Bavinck. Keller bemerkte erst in seinen letzten Lebensjahren, dass er unbewusst auf neo-calvinistischen Grundlagen aufbaute. Dies zeigt, dass der Einfluss dieser Bewegung weit über den niederländischen Kontext hinausreicht.

Kritik und Fazit

Ein Sammelband lebt von der Balance zwischen Geschlossenheit und Vielfalt. Dies gelingt den Editoren weitgehend, auch wenn einige Aufsätze inhaltlich stärker hätten verknüpft werden können. So fehlt in Kapitel 10 zur theologischen Ethik ein klarerer Bezug zu Johannes Calvin. Die Beiträge von Richard Mouw (Kapitel 24) und Nicolas Wolterstorff (Kapitel 37) bleiben für meinen Geschmack zu abstrakt. Beide Autoren bewegen sich auf einer hohen Flughöhe, zudem stehen sie in Fragen der Sexualethik und biblischen Autorität auf einer Position, die weder Kuyper noch Bavinck vertreten hätten.

Ein gewichtiger Kritikpunkt ist das Fehlen einer expliziten Auseinandersetzung mit der Sexualethik. Nelson D. Kloosterman weist zurecht darauf hin, dass eine solche Diskussion für eine umfassende Darstellung des Neo-Calvinismus essentiell gewesen wäre. Gerade weil diese Bewegung sich zum Ziel setzt, auf drängende Fragen fundierte Antworten zu geben, ist diese Lücke schwer zu übersehen. Dennoch bleibt der Band eine äußerst wertvolle Einführung, die die Vielfalt und Aktualität des Neo-Calvinismus eindrucksvoll aufzeigt. Als wichtige Ergänzung sei das kürzlich erschienene Neo-Calvinism: A Theological Introduction (2023) empfohlen.

Buch

Nathaniel Gray Sutanto und Cory Brock (Hrsg), T&T Clark Handbook of Neo-Calvinism, London: T&T Clark, 2024, 592 Seiten, ca. 190 EUR.