Die Apokryphen

Artikel von Michael Kruger
10. Februar 2025 — 9 Min Lesedauer

Wir haben heute gute historische Beweise dafür, dass der Kanon des Alten Testaments zur Zeit Jesu feststand und dass der Kernkanon des Neuen Testaments in der Mitte des zweiten Jahrhunderts existierte (siehe „Der Kanon der Bibel“). Doch es gab zu dieser Zeit auch „andere“ Bücher, die unter dem Volk Gottes zirkulierten. Einige davon bewegten sich am Rande des Kanons und sorgten gelegentlich für Streit und Meinungsverschiedenheiten bezüglich ihres Status.

Diese Bücher nennen wir die Apokryphen (was einfach nur „verborgen“ oder „dunkel“ bedeutet). Es gibt sowohl alttestamentliche apokryphe Schriften als auch neutestamentliche apokryphe Schriften. Beide sollen hier näher beleuchtet werden.

Die alttestamentlichen Apokryphen

Die Apokryphen des Alten Testaments (AT) sind vor allem deshalb so bekannt, weil sie ein Streitpunkt zwischen Protestanten und Katholiken sind. Sie wurden etwa zwischen dem dritten Jahrhundert v. Chr. und dem ersten Jahrhundert n. Chr. geschrieben. Die Apokryphen des AT umfassen 1. und 2. Makkabäer, das 3. Buch Esra, Judit, Tobit, das Buch der Weisheit, das Buch Jesus Sirach, Baruch sowie einige kleinere Werke und sogar einige Ergänzungen zu bestehenden kanonischen Büchern (z.B. zum Buch Daniel). Alle diese Bücher sind in griechischer Sprache erhalten, auch wenn einige ursprünglich in hebräischer bzw. aramäischer Sprache verfasst worden sein könnten.

Obwohl diese Schriften unter den Juden dieser Zeit bekannt waren und verwendet wurden, gibt es kaum Hinweise darauf, dass sie als Heilige Schrift angesehen wurden. Sowohl Flavius Josephus als auch Philon von Alexandria sind wichtige Quellen für unser Verständnis vom Umfang des alttestamentlichen Kanons, und keiner der beiden benennt die Bücher als Heilige Schrift. Außerdem zitiert kein neutestamentlicher Autor (von denen die meisten Juden waren) auch nur ein einziges Buch aus den Apokryphen als Heilige Schrift. Auch spätere rabbinische Autoren rezipieren die Apokryphen nicht; sie bejahen nur die hebräischen Schriften als Teil des jüdischen Kanons (Bava batra 14-15).

Die Tatsache, dass die Juden ihre Schriften auf den hebräischen Kanon beschränkten, sollte nicht überraschen, wenn man bedenkt, dass im vierten Jahrhundert v. Chr. die Überzeugung vorherrschte, die inspirierte Prophetie habe aufgehört. Dieser Gedanke ist sogar in den alttestamentlichen Apokryphen selbst (1Makk 4,46; Prolog zu Sirach) sowie in anderen jüdischen Quellen zu finden (z.B. bei Josephus („Gegen Apion“ 1,8) oder in späteren rabbinischen Schriften (Sota 48b)).

Was die frühen Christen betrifft, so scheinen sie zunächst den hebräischen Kanon so akzeptiert zu haben, wie er von ihren jüdischen Vorfahren überliefert worden war. Melito von Sardes, die Bryennios-Liste und Origenes bestätigen alle denselben alttestamentlichen Kanon, den wir heute kennen. Gleichzeitig schreibt Origenes aber, dass die Bücher der Apokryphen von der Kirche mit Gewinn gelesen werden können (wenn auch nicht als Wort Gottes) (siehe Eusebius, Hist. eccl. 4.26.13, 6.24.1-2). Augustinus geht noch weiter: Er vertritt die Ansicht, dass die Apokryphen zu den biblischen Büchern gezählt werden sollten (De doctrina christiana 2,8). Ebenso enthalten manche der frühesten christlichen Kodizes und kanonischen Verzeichnisse die alttestamentlichen Apokryphen (z.B. Synode von Karthago; der Codex Vaticanus und der Codex Sinaiticus).

Andere frühe Christen beharrten jedoch weiterhin darauf, dass der ursprüngliche hebräische Kanon der richtige sei und immer gegolten habe. Hieronymus stimmte zwar beispielsweise zu, dass die apokryphen Bücher nützlich seien, argumentierte aber dafür, dass die Kirche sie „nicht in den Kanon der Schriften aufnimmt“ (Prolog zu Weisheit und Sirach).

Während des gesamten Mittelalters existierten diese unterschiedlichen Auffassungen über die Apokryphen unter den Christen parallel, in der Zeit der Reformation prallten sie jedoch beide aufeinander. Da die Apokryphen die Grundlage für viele umstrittene Lehren bildeten (z.B. das Fegefeuer), befassten sich die Reformatoren erneut mit der Frage, welche Bücher die richtige Schrift ausmachen, und kamen zu dem Schluss, dass die alttestamentlichen Apokryphen nicht die Grundlage für die christliche Lehre sein sollten.

Im Zuge der Gegenreformation erklärte die römisch-katholische Kirche dann auf dem Konzil von Trient (1546) offiziell, dass die Apokryphen fortan als Heilige Schrift zu betrachten seien. Trotz des umstrittenen und zwiespältigen Status der Apokryphen in der Geschichte des Christentums machte die römisch-katholische Kirche ihre Ansicht offiziell. Die Uneinigkeit in dieser Frage mit den Protestanten hält bis heute an.

Die neutestamentlichen Apokryphen

Anders als ihr alttestamentliches Gegenstück sind die neutestamentlichen Apokryphen keine fest umrissene Gruppe von Texten. Vielmehr beziehen sich die neutestamentlichen Apokryphen auf eine große Anzahl von Büchern, die unseren neutestamentlichen Schriften sowohl im Stil als auch in der Gattung ähneln, vielleicht sogar apostolische Ursprünge für sich beanspruchen und dennoch nie einen festen Platz im entstehenden Kanon der frühen Kirche gefunden haben. Die vier Hauptgattungen dieser apokryphen Schriften entsprechen den vier Hauptgattungen des NT selbst: Evangelium, Apostelgeschichte, Briefe der Apostel und Apokalypse.

Apokryphe Evangelien

Es überrascht nicht, dass die bekanntesten apokryphen Werke diejenigen sind, die sich auf die Worte oder Taten Jesu konzentrieren – apokryphe Evangelien. Der Begriff „Evangelium“ ist jedoch nicht immer angemessen, da sich viele von ihnen stark von den kanonischen Fassungen unterscheiden. Das Thomasevangelium beispielsweise umfasst nicht die üblichen historischen Erzählungen des Lebens Jesu (Geburt, Tod, Auferstehung), sondern ist lediglich eine Liste von 114 Sprüchen Jesu. Auch das Evangelium der Wahrheit ist kein erzählendes Evangelium, sondern eine ausführliche theologische Abhandlung über den gnostisch-christlichen Valentinianismus.

Apokryphe Apostelgeschichten

Im frühen Christentum kursierten auch Texte, in denen die Reisen und Abenteuer der Apostel aufgezeichnet wurden, oft mit exzentrischen und ausgeschmückten Geschichten: da findet man einen Hund, der spricht, einen Mann, den Simon Magus, der fliegt, und einen Löwen, der getauft wird. Zu diesen apokryphen Schriften gehören die Apostelgeschichte des Paulus, die Apostelgeschichte des Johannes und die Apostelgeschichte des Petrus.

Apokryphe Briefe

Apokryphe Briefe waren weniger verbreitet, aber aus dem frühen Christentum sind einige erhalten. Ein Brief, der als 3. Korintherbrief bekannt ist, stammt angeblich von Paulus, ist aber eindeutig eine anti-doketische Abhandlung zur Bekämpfung von Häretikern im frühen Christentum. Es gibt auch den gefälschten Brief an die Christen in Laodizea, der Paulus zugeschrieben wird, aber eindeutig eine Zusammenstellung von Zitaten aus den echten Paulusbriefen (wie Galater und Philipper) ist.

Apokryphe Apokalypsen

Die bekannteste apokryphe Apokalypse ist die Apokalypse des Petrus. Sie enthält einen Dialog zwischen Jesus und Petrus nach der Auferstehung, in dem sehr detailliert auf das künftige Gericht hingewiesen wird, das die Ungläubigen erwartet. Dieses Werk war in einigen Kreisen des frühen Christentums sehr beliebt und wird sogar in der frühesten kanonischen Liste, dem Kanon Muratori, erwähnt.

Obwohl die Menge an christlichem apokryphen Material überwältigend sein kann, gibt es ein paar Überlegungen, die man im Hinterkopf behalten sollte:

  1. Alle diese apokryphen Schriften werden auf das zweite bis dritte Jahrhundert oder sogar noch später datiert. Obwohl Versuche unternommen wurden, einige dieser Schriften bis ins erste Jahrhundert zurückzuverfolgen, hat dieser Ansatz keine breite Unterstützung gefunden. Es gibt also keinen Grund zu der Annahme, dass diese Texte einen echten Anspruch auf apostolische Autorschaft haben.
  2. Viele (wenn auch nicht alle) dieser apokryphen Schriften enthalten Lehrsysteme, die nicht mit den Glaubensregeln übereinstimmen, die der frühen Kirche überliefert wurden. Das Philippus-Evangelium zum Beispiel lehrt eine Version des valentinianischen Gnostizismus, die im Wesentlichen polytheistisch ist und behauptet, es gäbe eine Vielzahl göttlicher Wesen in den himmlischen Welten. Ein solches Buch kann kaum als „christlich“ bezeichnet werden.
  3. Keine der apokryphen Schriften des Neuen Testaments, mit einer seltenen Ausnahme, war jemals ein ernsthafter Anwärter auf einen Platz im Kanon. Trotz der Behauptungen einiger, dass die apokryphen Schriften ebenso populär waren wie die kanonischen Werke, sprechen die historischen Beweise eine ganz andere Sprache. In der Tat wurden die meisten apokryphen Werke von den Kirchenvätern entweder ignoriert oder negativ bewertet. Als im vierten Jahrhundert die Grenzen des neutestamentlichen Kanons abgesteckt wurden, fielen die apokryphen Werke vor allem durch ihre Abwesenheit auf.

Die Geschichte des alttestamentlichen und neutestamentlichen Kanons ist eine Geschichte, die auch „andere“ Bücher umfasst. Diese anderen Bücher waren zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte des Christentums Gegenstand von Auseinandersetzungen und Kontroversen. Manchen Christen bereiten diese Bücher noch heute Sorge – sie fragen sich, ob die Apokryphen fälschlicherweise nicht in den Kanon aufgenommen wurden.

Die historischen Beweise legen jedoch nahe, dass wir sowohl auf den Inhalt des alttestamentlichen als auch des neutestamentlichen Kanons vertrauen können. Trotz des jahrelangen Streits um die Apokryphen des Alten Testaments gilt der von den Juden überlieferte hebräische Kanon nach wie vor als die Schrift, die auch Jesus und die Apostel kannten. Dieser Kanon wird daher zu Recht als Heilige Schrift angesehen. Auch wenn immer wieder von „verlorenen Evangelien“ die Rede ist, wurden diese neutestamentlichen Apokryphen viel später als unsere kanonischen Texte verfasst und haben kaum Anspruch auf historische Authentizität.

Unser biblischer Kanon ist also vollständig. Wie Origenes erklärte: „Das Netz des Gesetzes und der Propheten musste fertig geknüpft werden ... Durch die Evangelien und die Worte Christi in der Überlieferung der Apostel entstand ein lückenloses Gewebe“ (Kommentar zu Mt 10,12).

Weiterführende Lektüre

  • Andrew E. Steinmann, The Oracles of God: The Old Testament Canon, St. Louis: Concordia Pub House, 1999.
  • Bruce M. Metzger, Der Kanon des Neuen Testaments. Entstehung, Entwicklung, Bedeutung, Ostfildern: Patmos, 2012.
  • David A. deSilva, Introducing the Apocrypha: Message, Content and Significance, Baker Academic, 2004.
  • E. Earle Ellis, The Old Testament in Early Christianity: Canon and Interpretation in Light of Modern Research, Eugene, Oregon: Wipf & Stock Publishers, 2003.
  • F. F. Bruce, The Canon of Scripture, London: IVP Academic, 2018.
  • Greg Lanier, A Christian’s Pocket Guide to How We Got the Bible, Tain: Christian Focus Publications, 2018.
  • J. K. Elliott, The Apocryphal New Testament, Oxford: Oxford University Press, 2005.
  • Michael J. Kruger, Canon Revisited: Establishing the Origins and Authority of the New Testament Books, Wheaton, IL: Crossway Books, 2012.
  • Michael J. Kruger, The Question of Canon: Challenging the Status Quo in the New Testament Debate, London: IVP Academic, 2013.
  • R. T. Beckwith, The Old Testament Canon of the New Testament Church, and Its Background in Early Judaism, Eugene, Oregon: Wipf & Stock Publishers, 2008.