Augustinus’ Weg zur Freiheit

Artikel von John Piper
3. Februar 2025 — 9 Min Lesedauer

Der Einfluss, den die Gedanken des Augustinus auf die westliche Welt ausübten, ist kaum zu unterschätzen. Benjamin Warfield schreibt, dass Augustinus durch seine Schriften „sowohl in die Kirche als auch in die Welt als eine revolutionäre Kraft eintrat und nicht nur eine Epoche in der Geschichte der Kirche hervorrief, sondern auch ... den Verlauf der westlichen Kirchengeschichte bis zum heutigen Tag bestimmt“.[1] Die Herausgeber der Zeitschrift Christian History sagen es in einfachen Worten: „Nach Jesus und Paulus ist Augustinus von Hippo die einflussreichste Gestalt in der Geschichte des Christentums“.[2]

„Das ekle Gewirr schändlicher Liebeshändel“

Augustinus wurde am 13. November 354 in Thagaste in der Nähe von Hippo im heutigen Algerien geboren. Sein Vater Patricius war ein Bauer mit mittlerem Einkommen. Er bemühte sich, Augustinus die bestmögliche Ausbildung in Rhetorik zukommen zu lassen – im Alter von elf bis fünfzehn Jahren zunächst im etwa 30 km entfernten Madaura, dann, nach einem Jahr zu Hause, lernte Augustinus im Alter von siebzehn bis zwanzig Jahren in Karthago.

Bevor Augustinus nach Karthago ging, um dort drei Jahre lang zu studieren, warnte ihn seine Mutter eindringlich davor, „Unzucht zu treiben und vor allem nicht die Frau eines Mannes zu verführen“. Doch in seinen Bekenntnissen schrieb Augustinus später:

„Nach Karthago kam ich und von allen Seiten umtoste mich das ekle Gewirr schändlicher Liebeshändel. … Du selbst, o mein Gott, hattest mir eingepflanzt in das Herz einen Hunger, der du selbst bist die Speise des Herzens; dieser Hunger aber war nicht lebendig in mir, sondern ich war ohne Sehnsucht nach unvergänglicher Speise, doch nicht, weil ich etwa erfüllt war von ihr, sondern je leerer ich war, desto mehr widerstand sie mir.“ (Bekenntnisse, Drittes Buch, Kapitel 1)

In Karthago nahm er sich eine Geliebte, mit der er fünfzehn Jahre lang zusammenlebte und einen Sohn, Adeodatus, bekam. Von seinem neunzehnten bis zum dreißigsten Lebensjahr war Augustinus für elf Jahre seines Lebens ein traditioneller Lehrer der Rhetorik.

Mit Ambrosius in Mailand

Als er 29 Jahre alt war, zog Augustinus von Karthago nach Rom, um dort zu unterrichten. Er war jedoch vom Verhalten seiner dortigen Schüler so enttäuscht, dass er 384 einen Lehrauftrag in Mailand annahm. Dort lernte er den bekannten Bischof Ambrosius kennen.

Augustinus, der sich in dieser Zeit stark mit der platonischen Sicht auf die Realität auseinandersetzte und sie verinnerlichte, war empört über die biblische Lehre, dass „das Wort Fleisch geworden“ ist (vgl. Joh 1,14). Trotzdem hörte er Woche für Woche den Predigten des Ambrosius zu: „Während ich nun mein Herz auftat, um zu erfassen, was er also beredt sprach, ging zugleich auch das mit ein, was er so wahr gesprochen, aber freilich auch nur allmählich“ (Bekenntnisse, Fünftes Buch, Kapitel 14).

Schließlich erkannte Augustinus, dass er nicht durch irgendetwas Intellektuelles, sondern durch sexuelle Begierde zurückgehalten wurde: „Noch aber war ich an ein Weib gebunden“ (Bekenntnisse, Achtes Buch, Kapitel 1).

Dieser Kampf sollte letztlich von der Art des Genusses, die in seinem Leben triumphierte, entschieden werden: „Ich suchte den Weg zu der beharrlichen Stärke, die da befähigt ist, dich zu genießen, doch ich fand ihn nicht, bis ich den Mittler zwischen Gott und den Menschen, den Menschen Jesus Christus umfasste“ (Bekenntnisse, Siebtes Buch, Kapitel 18).

Ein erbitterter Kampf

Dann kam einer der wichtigsten Tage in der Kirchengeschichte. Diese Episode ist das Herzstück seiner Bekenntnisse und eines der großen Gnadenwerke der Geschichte. Welch ein Kampf es war!

Dieser Tag war vielschichtiger, als es oft dargestellt wird, aber um den Kern des Kampfes zu erfassen, konzentrieren wir uns auf die letzte Krise. Es war Ende August 386. Augustinus war fast zweiunddreißig Jahre alt. Mit seinem besten Freund Alypius sprach er über das bemerkenswerte Opfer und die Heiligkeit von Antonius, einem ägyptischen Mönch. Augustinus wurde von seiner eigenen Knechtschaft der Sinneslust geplagt, während andere in Christus frei und heilig sein konnten.

„An unser Haus stieß ein Gärtchen. … Hierhin trieb mich der Sturm meines Herzens, dass niemand den heißen Streit finden möchte, den ich mit mir auszufechten hatte. … Mich hatte ein seltsamer Wahnsinn ergriffen, und ich starb, um zu leben. … Ich erschauderte im Geiste, ergrimmt in stürmischem Ingrimm, dass ich nicht den Bund mit dir einging, o mein Gott. … Wenn ich mir das Haar ausraufte, mir die Stirne schlug, wenn ich mit gefalteten Händen das Knie umfasste, weil ich es wollte, so tat ich es.“ (Bekenntnisse, Achtes Buch, Kapitel 8)

Augustinus erkannte immer deutlicher, dass der Gewinn weit größer war als der Verlust, und durch ein Wunder der Gnade begann er, die Schönheit der Keuschheit in der Gegenwart Christi zu erkennen.

„Zurück hielten mich die Nichtigkeiten und Eitelkeit … Sie zerrten mich am Mantel meines Fleisches und flüsterten mir zu: Was, du willst uns verlassen? Von dem Augenblick werden wir nicht mehr bei dir sein in Ewigkeit. … es enthüllte sich mir von der Seite, wohin ich mein Antlitz wandte und wohin ich zu gehen doch noch schauderte, die keusche Würde der Enthaltsamkeit, heiter, doch nicht zügellos lustig, mich ehrbar ladend, dass ich käme und nicht mehr Zweifel hegte, nach mir ausstreckend, um mich aufzunehmen und zu umfassen.“ (Bekenntnisse, Achtes Buch, Kapitel 11)

„Nimm und lies“

Der Kampf spielte sich also zwischen der Schönheit der Reinheit und ihrer zärtlichen Liebe und den Nichtigkeiten, die sein Fleisch ansprachen, ab.

„Ich aber warf mich am Stamme eines Feigenbaumes nieder und ließ meinen Tränen freien Lauf … und ich sprach … vieles zu dir: Du, o Herr, wie lange? … Morgen und immer wieder morgen? Warum nicht jetzt, weshalb setzt nicht diese Stunde meiner Schande ihr Ziel?“ (Bekenntnisse, Achtes Buch, Kapitel 12)

Mitten in seinem Weinen hörte Augustinus die Stimme eines Kindes singen: „Nimm und lies. Nimm und lies.“

„Ich entfärbte mich und sann nach, ob vielleicht Kinder in irgendeinem Spiele dergleichen Worte zu singen pflegen, konnte mich aber nicht erinnern, jemals davon gehört zu haben. Da drängte ich meine Tränen zurück, stand auf und legte die gehörten Worte nicht anders, als dass ein göttlicher Befehl mir die heilige Schrift zu öffnen heiße und dass ich das erste Kapitel, auf welches mein Auge fallen würde, lesen sollte.“ (Bekenntnisse, Achtes Buch, Kapitel 12)

Also nahm Augustinus sein Buch mit den Paulusbriefen, schlug es auf und sein Blick fiel auf Römer 13,13–14:

„Lasst uns anständig wandeln wie am Tag, nicht in Schlemmereien und Trinkgelagen, nicht in Unzucht und Ausschweifungen, nicht in Streit und Neid; sondern zieht den Herrn Jesus Christus an und pflegt das Fleisch nicht bis zur Erregung von Begierden!“

„Ich las nicht weiter, es war wahrlich nicht nötig“, schrieb er, „denn alsbald am Ende dieser Worte kam das Licht des Friedens über mein Herz und die Nacht des Zweifels entfloh“ (Bekenntnisse, Achtes Buch, Kapitel 12).

Bischof von Hippo

Am nächsten Osterfest wurde er im Jahr 387 in Mailand von Ambrosius getauft. Im Herbst desselben Jahres starb seine Mutter, die sehr glücklich darüber war, dass der Sohn, über den sie viele Tränen vergossen hatte, in Christus gerettet war. Im Jahr 388 (mit fast vierunddreißig Jahren) kehrte Augustinus nach Afrika zurück, um für sich und seine Freunde, die er „Diener Gottes“ nannte, eine Art Kloster zu gründen. Er hatte alle Träume von einer Ehe aufgegeben und sich zum Zölibat und zur Armut verpflichtet, d.h. zum gemeinschaftlichen Leben mit anderen Gleichgesinnten. Er hoffte auf ein monastisches Leben der philosophischen Reflexion.

Gott hatte jedoch andere Pläne. Augustinus' Sohn, Adeodatus, starb 389. In Anbetracht der Ewigkeit verflüchtigten sich seine Träume von einer Rückkehr in ein ruhiges Leben in seiner Heimatstadt Thagaste. Augustinus erkannte, dass es sinnvoller sein könnte, seine Klostergemeinschaft in die größere Stadt Hippo zu verlegen. Um nicht Gefahr zu laufen, in das Amt eines Bischofs gedrängt zu werden, wollte er in einer Stadt sein, in der es bereits einen Bischof gab, was in Hippo der Fall war. Er hatte sich aber verkalkuliert. Die Gemeinde kam zu Augustinus und drängte ihn, erst Priester und dann Bischof von Hippo zu werden, wo er für den Rest seines Lebens blieb.

Im Alter von sechsunddreißig Jahren wurde er also – wie viele Personen der Kirchengeschichte, die bleibende Spuren hinterließen – aus einem Leben der stillen Kontemplation in ein Leben der Tat gedrängt. Auf dem Gelände der Kirche gründete Augustinus ein Kloster und prägte fast 40 Jahre lang eine Schar von bibelfesten Priestern und Bischöfen, die überall auf dem Kontinent eingesetzt wurden und geistliche Erneuerung brachten. Immer verteidigte er die rechte Lehre vor heftigen Angriffen und schrieb einige der einflussreichsten Bücher in der Geschichte des Christentums, darunter die BekenntnisseÜber die christliche Bildung, Über die Dreifaltigkeit und Vom Gottesstaat.

Der Schwan ist nicht stumm

Als Augustinus im Jahr 426, vier Jahre vor seinem Tod, die Leitung seiner Gemeinde abgab, empfand sein Nachfolger ein starkes Gefühl der Unzulänglichkeit. „Der Schwan schweigt“, sagte er und fürchtete, dass die Stimme dieser geistlichen Lichtgestalt mit der Zeit verloren gehen würde.

Aber der Schwan schweigt nicht – nicht im Jahr 426, nicht heute und auch nicht in den Jahrhunderten dazwischen. Seit 1.600 Jahren führt Augustinus‘ Stimme Sünder zur befreienden, souveränen Freude Jesu Christi:

„Wie herrlich war es mir plötzlich, die Reize der Nichtigkeiten zu entbehren, und wenn ich ihren Verlust sonst fürchtete, war es mir jetzt eine Freude, sie preiszugeben. Denn du warfst sie von mir, du wahre und höchste Wonne, du warfst sie von mir und tratest an ihre Stelle, wonniger als alle Wonne, freilich nicht dem Fleisch und dem Blute; leuchtender als alles Licht, aber tiefer liegend als alles Verborgene; höher als alle Herrlichkeit, doch nicht denen, die sich selbst hoch dünken. … ich lallte wie ein Kind dir entgegen – meiner Klarheit, meinem Reichtume, meinem Heile, Gott, meinem Herrn.“ (Bekenntnisse, Neuntes Buch, Kapitel 1)

1 Benjamin Breckinridge Warfield, Calvin and Augustine, Barakaldo Books, 2022, S. 306.

2 Christian History Insititute, „St. Augustine: From the Publisher“, in: Christian History, VI/3, 1987, S. 2, online unter: https://christianhistoryinstitute.org/uploaded/50cf7646606c49.43445714.pdf (Stand: 03.02.2025).