Fürchte dich nicht!
Die Worte „Fürchte dich nicht“ ziehen sich wie ein roter Faden durch die Weihnachtsgeschichte. Der Engel sprach sie zu Zacharias (Lk 1,13), Maria (Lk 1,30) und Joseph (Mt 1,20). Auch eine Gruppe von Hirten, die in der Nacht die Schafe hüteten, hörte: „Fürchtet euch nicht!“ (Lk 2,10).
Furcht kennt jeder. Sie erfasste uns schon als Kind, wenn wir in die dunkle Speisekammer geschickt wurden, um eine Dose Tomatensuppe zu holen. Solche Kindheitssorgen lassen wir im Laufe unseres Lebens hinter uns. Stattdessen kommen andere Ängste auf: Angst vor der Zukunft, vor schlechter Gesundheit oder vor dem Tod. Wovor fürchtest du dich? Die ganze Welt kämpft mit der Angst. Wie entwickeln sich die Kriege? Wie sicher sind Frieden und Wohlstand?
Furcht am ersten Weihnachtsfest
Auch an jenem ersten Weihnachten befand sich die Welt in verzweifelter Lage: Eine Volkszählung wurde durchgeführt, um die ohnehin schon hohen Steuern zu erhöhen. Der mörderische König Herodes regierte. Auf den Hügeln von Bethlehem war es wahrscheinlich winterlich – und kalt. In der Stadt war ein mittelloser Zimmermann mit seiner jungen Frau angekommen, weit weg von zu Hause und bis auf die Knochen durchgefroren. Sie lag in Wehen. Ihr Kind sollte nun ausgerechnet in einem Stall zur Welt kommen. „Warum das?“, mag sie sich gefragt haben. Und dann erinnerte sie sich an die Worte des Engels: „Fürchte dich nicht, Maria …“
Auf den windgepeitschten Hügeln außerhalb der Stadt kauerten die Hirten im Dunkeln. Sicher hatten sie ihre eigenen Ängste. Es gab wilde Tiere – Bären oder Löwen, die die Schafe rissen. Da war die politische Unsicherheit in einer von den Römern besetzten Provinz. Sie hatten genügend Grund zur Angst. Doch damit nicht genug. Als sie in dieser denkwürdigen Nacht ihre Schafe bewachten, trat ein Engel des Herrn zu ihnen „und die Herrlichkeit des Herrn umleuchtete sie; und sie fürchteten sich sehr“ (Lk 2,9).
Die Furcht, die in diesem Moment in ihnen aufkam, ging über die Sorgen hinaus, die sie sich um die nächste Mahlzeit und die politische Instabilität machten. Sie fürchteten sich sehr, berichtet uns Lukas. Eben noch war alles in Ordnung. Für sie als Hirten war es okay, im Dunkeln zu sein, aber dann lesen wir: „[D]ie Herrlichkeit des Herrn umleuchtete sie“. Es war finstere Nacht, aber die Herrlichkeit Gottes erschien als ein helles Licht. Sie bekamen, so kann man übersetzen, „Megafurcht“. Wovor? Vor der Herrlichkeit des Herrn.
Das Gewicht der Heiligkeit Gottes
Die „Herrlichkeit“ des Herrn (gr. doxa) bedeutet „Ehre“, „Glanz“, aber auch (hebr. kabod) „Schwere“ oder „Gewicht“. Wenn Gott in seiner Herrlichkeit erscheint, dann heißt das buchstäblich: Er kommt mit seinem Gewicht. Sein Erscheinen ist so schwer und wuchtig, dass der Mensch nicht damit umgehen kann. Die Furcht, die diese Hirten erlebten, war die Furcht von Menschen, die vom Glanz, der Pracht und Schönheit, aber auch von der Schwere der Heiligkeit Gottes getroffen wurden. Stehen wir in diesem Lichtstrahl Gottes, dann kommt Furcht in uns auf, denn wir spüren, dass wir nicht so rein und heilig sind wie Gott. Wenn er erscheint, dann werden wir automatisch mit unserer eigenen Schuld konfrontiert. Es ist nicht nötig, dass Gott etwas sagt. Er muss nur erscheinen. Bereits der Glanz der Heiligkeit Gottes, den der Engel widerspiegelt, vermittelt diese Botschaft und löst bei den Hirten großes Entsetzen aus.
Die Bibel berichtet an anderer Stelle von ähnlichen Vorkommnissen. Mose verhüllte sein Gesicht vor Furcht, als Gott sich im brennenden Busch offenbarte. Als Jesaja den Herrn auf seinem Thron sitzen sah, rief er: „Wehe mir, ich vergehe! Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und wohne unter einem Volk, das unreine Lippen hat; denn meine Augen haben den König, den Herrn der Heerscharen, gesehen“ (Jes 6,5). Und Petrus kniete vor Christus nieder, nachdem Jesus das Wunder des großen Fischfangs bewirkt hatte, und sagte: „Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch“ (Lk 5,8).
Diese Furcht in der Gegenwart Gottes ist nicht losgelöst von unseren anderen Ängsten. Alle Kriege und jede Angst, die wir aus unserem Leben kennen, sind nur Symptome der tiefen Dunkelheit, die unsere Schuld und Sünde über uns gebracht hat. Die Erbsünde hat uns in die Finsternis gestürzt. Sie ist der Grund, weshalb Menschen töten, Ehen scheitern und Nahrung knapp wird. Wir müssen uns vor Tod und Zerstörung fürchten, weil unsere Schuld sie hervorgebracht hat. Die Angst weist darauf hin, dass Gott verärgert ist über unsere Verdorbenheit, unsere verletzenden Worte, unsere bösen Gedanken und das Leid, das wir unseren Nächsten zufügen. Die Herrlichkeit Gottes bringt also ein Gewicht und eine Schwere mit sich.
Sehnsucht nach Herrlichkeit
Die Herrlichkeit Gottes ist aber zugleich das, was wir begehren. Wir haben eine tiefe Sehnsucht nach ihr, wie C.S. Lewis treffend auf den Punkt bringt. Die Herrlichkeit des Herrn, sagt er, ist wie „der Duft einer Blume, die wir noch nicht gefunden, das Echo einer Melodie, die wir noch nicht gehört, Berichte von einem fernen Land, das wir noch nie besucht haben“. Stets bleiben wir „uns dessen bewußt, daß wir ein Verlangen in uns tragen, das durch kein natürliches Glück gestillt werden kann“.[1]
Wenn nun das, was wir wirklich begehren, plötzlich als Gottes Licht erscheint, sind wir geblendet – es lässt uns zunächst erschaudern. Wir sind gezwungen, einen Schritt zurückzutreten, und doch wollen wir näherkommen, weil uns die Herrlichkeit Gottes zutiefst fasziniert. Es ist wie bei Mose, als er Gott auf dem Berg Sinai begegnete. Er sagte: „Ich will doch hinzutreten und diese große Erscheinung ansehen“, musste aber sogleich die Worte hören: „Tritt nicht näher heran … denn der Ort, wo du stehst, ist heiliges Land!“ (2Mose 3,3.5).
Du brauchst dich nicht zu fürchten
Aber die Engel kommen nicht, um Angst zu machen, sondern um die Furcht der Hirten durch Freude zu ersetzen. Sie kommen mit der Botschaft: Da ist etwas geschehen, das euch zu eurem tiefsten Glück führt.
„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ (Lk 2,10–11; Hervorhebung hinzugefügt)
Die Botschaft an die Hirten und an uns lautet: Gott ist Mensch geworden! Er öffnet dir einen Weg. Du kannst ohne Angst in seine Gegenwart kommen, das Land betreten, nach dem du dich so sehr sehnst. Du kannst das Glück finden, nach dem du so sehr verlangst. Es ist Gottes Herrlichkeit selbst.
Jesus nahm sich unserer Schuld an. Er ging ans Kreuz und starb für unsere Sünden. Dadurch wusch er alle, die an ihn glauben, so rein, dass sie dieses ersehnte Land betreten können. Das ist wirklich ein Grund zur Freude! Deshalb verbreiteten die Engel diese Nachricht enthusiastisch. Das heilige Heer der Engel kann nicht anders, als ein Lied anzustimmen und Gott für diese großartige Nachricht zu preisen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“ (Lk 2,14).
Wenn diese Botschaft schon Engeln solche Freude bereitet, wie viel mehr Freude bereitet sie dann den Hirten und uns? Jesus nimmt sich auch deiner Furcht an. Er kam, um eine Brücke zwischen dem Vater im Himmel und dir zu bauen. Er stiftet Frieden zwischen dir und dem lebendigen Gott.
Frei von Furcht
Wie sollen wir darauf reagieren? Die Hirten glaubten dem Engel, suchten das Zeichen und fanden ihren Retter: „Und sie gingen eilends und fanden Maria und Joseph, dazu das Kind in der Krippe liegend“ (Lk 2,16). Wir können heute nicht einfach nach Bethlehem laufen. Selbst wenn wir es täten, würden wir dort nicht das in Windeln gewickelte Kind finden. Dieses Zeichen sollten die Hirten suchen, aber wir müssen glauben. Die Bibel sagt: „Glaube an den Herrn Jesus Christus, so wirst du gerettet werden“ (Apg 16,31). Dann wird er sich auch deiner Furcht annehmen.
Wie die Hirten auf die Botschaft des Engels hin ihre Furcht ablegten, losliefen und glaubten, so bist auch du eingeladen, deine Ängste bei Jesus abzulegen. Hab keine Angst, denn Gott hat dir einen Retter gesandt – Jesus Christus, den Herrn. Er sagt: „Ich will dich nicht verlassen und nicht von dir weichen“ (Hebr 13,5). Er verspricht, dich mit allem zu versorgen, was du brauchst: „Mein Gott aber wird all eurem Mangel abhelfen nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus“ (Phil 4,19). Richte dein Verlangen ganz auf ihn aus: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen“ (Mt 6,33).
Über alle Jahrhunderte hinweg hat die Weihnachtsbotschaft ihre Kraft nicht verloren. Deswegen heißt es auch in diesem Jahr: „Fürchte dich nicht!“
1 C.S. Lewis, „Das Gewicht der Herrlichkeit“, S. 93–108 in: C.S. Lewis, Der innere Ring – und andere Essays, 2. Taschenbuchaufl., Basel u. Gießen: Brunnen, 1992, dort S. 97 u. 98.