Sonntagspredigt vs. Bibelstudium?
„Gepriesener Herr, der bewirkte, dass alle Heiligen Schriften zu unserer Lehre geschrieben wurden: Gewähre uns, dass wir sie so hören, lesen, beachten, lernen und innerlich annehmen, dass wir die gesegnete Hoffnung auf ewiges Leben ergreifen und für immer festhalten, welche du uns in unserem Heiland Jesus Christus geschenkt hast; der lebt und regiert mit dir und dem Heiligen Geist, ein Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“
So lautet das Gebet für den 2. Adventssonntag im Book of Common Prayer (dem Gebetbuch der anglikanischen Kirche) von 1662. Es ist zu Recht ein berühmtes Gebet, dessen Formulierungen noch immer in Gebeten des gesamten evangelischen Kontextes auftauchen, ohne dass wir seinen Ursprung immer wiedererkennen.
Die Aussage, die vielen in Erinnerung geblieben ist, ist die Bitte, dass Gott uns befähigen möge, dass wir die Heilige Schrift „lesen, beachten, lernen und innerlich annehmen“ können. Sie bringt ein zutiefst biblisches Anliegen zum Ausdruck, nämlich die zentrale Bedeutung des Wortes – den instinktiven Wunsch, dass die Bibel in unseren Köpfen und Herzen „hängen bleibt“ und in unserem Leben Frucht bringt, was jedes geistliche Leben kennzeichnet. Als „neugeborene Kinder“ müssen alle Christen „begierig nach der unverfälschten Milch des Wortes“ sein, um zum Heil heranzuwachsen (1Petr 2,2). Dieser vom Geist geweckte Instinkt treibt uns zum persönlichen Studium der Heiligen Schrift an. Wenn Texte wie Psalm 19,10–11, in denen die Heilige Schrift angepriesen werden, ernst zu nehmen sind, gleicht ein Christ, der nicht fleißig und regelmäßig die Bibel studiert – allein und in Kleingruppen – einem Bergmann, der reiche Erzadern vernachlässigt, in denen „Gold und viel Feingold“ zu finden ist. Ein christliches Leben ohne Bibelstudium ist ein Leben, das nicht durch das Wort und die Verheißung Gottes versüßt wird, die „süßer als Honig und Honigseim“ sind. Es bedeutet, die Warnzeichen zu ignorieren, die unser gnädiger Herr in der Heiligen Schrift für seine Diener auf den gefährlichen Wegen des Lebens aufgestellt hat. Und wie können wir jemals hoffen, den „reichen Lohn“ zu empfangen, der sich aus dem Halten von Gottes Wort ergibt, wenn wir es nicht kennen und lieben? In dem Maß, in dem wir bibelfeste Menschen sind, werden wir auch heilige, gläubige, geduldige und glückliche Menschen sein.
„In dem Maß, in dem wir bibelfeste Menschen sind, werden wir auch heilige, gläubige, geduldige und glückliche Menschen sein.“
Dennoch gibt es eine unbemerkte Tragödie in unserer kollektiven Erinnerung an den im Gebetbuch enthaltenen Appell, die Heilige Schrift zu lesen, zu beachten, zu lernen und innerlich anzunehmen. Es ist die Lücke in unserem Gedächtnis, was den ersten Teil der Bitte betrifft: „Gewähre uns, dass wir sie so hören, lesen, beachten, lernen und innerlich annehmen“. Das Gebet sieht den primären Ort des Dienstes des Wortes in der öffentlichen Lesung und Predigt am Sonntag. Wir haben uns an einem Teil der Bitte festgebissen und haben sie, vom Zeitgeist mitgerissen, in einer Weise individualisiert, die nicht vollständig die Weisheit der uns hinterlassenen reformatorischen Tradition zum Ausdruck bringt. Historisch gesehen haben die Reformierten immer geglaubt, dass die öffentliche Lesung und Predigt des Wortes Gottes durch Pastoren, die für diese Arbeit berufen und ausgerüstet sind, das wichtigste Mittel ist, durch das Sünder bekehrt werden und Gläubige reifen. Der Große Westminster Katechismus drückt es so aus: „Der Geist Gottes macht das Lesen, besonders aber die Predigt des Wortes, zu einem wirksamen Mittel“ des Heils (Großer Westminster Katechismus, Frage 155). Paulus macht dies mit Nachdruck deutlich, wenn er fragt:
„Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht geglaubt haben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne einen Verkündiger? Wie sollen sie aber verkündigen, wenn sie nicht ausgesandt werden?“ (Röm 10,14–15)
Im griechischen Urtext ist die zweite Frage direkter formuliert, als die meisten Übersetzungen es vermuten lassen. Eigentlich fragt Paulus: „Wie sollen sie an den glauben, den sie noch nie gehört haben?“ Der Punkt ist klar und tiefgründig zugleich: In der treuen Verkündigung des Wortes durch die von Gott Gesandten hören die Sünder nicht nur von Christus; sie hören Christus selbst, der sie mit der Stimme seines Evangeliums ruft. Im Zweiten Helvetischen Glaubensbekenntnis fasst Heinrich Bullinger, der Schweizer Reformator und Zeitgenosse Johannes Calvins, die Aussage des Paulus wortgewandt zusammen und zeigt uns, warum die Predigt – mehr als das Bibelstudium in Kleingruppen – im Zentrum unserer Erwartungen an christliches Wachstum und Segen stehen muss: „Wenn also heute dieses Wort Gottes durch rechtmäßig berufene Prediger in der Kirche verkündigt wird, glauben wir, dass Gottes Wort selbst verkündigt und von den Gläubigen vernommen wird.“ Oder wie es einige spätere Ausgaben des Bekenntnisses einfacher zusammenfassten: „Die Verkündigung des Wortes Gottes ist das Wort Gottes.“ Mit anderen Worten: In einer Predigt, die dem Bibeltext treu bleibt, spricht der auferstandene Christus durch die Kraft des Heiligen Geistes zu seinem Volk.
„In einer Predigt, die dem Bibeltext treu bleibt, spricht der auferstandene Christus durch die Kraft des Heiligen Geistes zu seinem Volk.“
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts ereignete sich während eines Gottesdienstes ein interessanter Vorfall: König James VI. von Schottland unterbrach mehrfach die Predigt von Robert Bruce, indem er lautstark mit seinen Höflingen plauderte. Bruce hielt daraufhin in seiner Predigt inne und wandte sich direkt an den König: „Man sagt, es sei ein Ausspruch des weisesten aller Könige gewesen: ‚Wenn der Löwe brüllt, sind alle Tiere des Feldes still‘: Der Löwe des Stammes Juda brüllt jetzt mit der Stimme seines Evangeliums, und alle kleinen Könige der Erde müssen schweigen.“
Studiere die Bibel in Kleingruppen. Vernachlässige das persönliche Bibelstudium nicht. Aber welch stilles Staunen sollten wir alle empfinden, wenn wir in der Öffentlichkeit in der Erwartung stehen, das Brüllen des Löwen aus dem Stamm Juda zu hören.