Behinderung als ein normaler Teil in einer unnormalen Welt

Artikel von Stephanie Hubach
3. Dezember 2024 — 6 Min Lesedauer

Als mein Sohn Tim 11 Jahre alt war, erklärte ich ihm, dass ich ihn bei den Special Olympics anmelden wollte. „Dort werden Kinder sein, die das Down-Syndrom haben, genau wie du.“ „Ich habe kein Down-Syndrom!“, entrüstete sich Tim. Darauf antwortete ich: „Doch ... das hast du. Erinnerst du dich? Genau wie deine Freunde Annie, Jonathan und Bradley.“ Tim neigte den Kopf und antwortete: „Oh, das hatte ich ganz vergessen! Stimmt, du hast recht!“

Wie für Tim ist es auch für uns manchmal nicht leicht, zu verstehen, welche Auswirkungen eine Behinderung auf einen Betroffenen haben kann. Wenn wir aber erkennen, wie Behinderungen in unserer westlichen Gesellschaft gesehen werden und wie dieser Standpunkt der biblischen Sichtweise widerspricht, beginnen wir zu verstehen, was es bedeutet, eine Behinderung zu haben. Dann können wir Menschen mit Behinderungen auch besser in unsere Gemeinden einbeziehen.

Dimensionen von Behinderung

Behinderungen haben zwei Dimensionen: Die funktionale Ebene einer Behinderung betrifft Teile des Körpers, die nicht so funktionieren, wie wir es normalerweise erwarten. Die soziale Ebene hingegen bezieht sich auf die Art und Weise, wie andere mit Menschen mit Behinderungen umgehen – was die betroffenen Personen oft mehr beeinträchtigt als ihre funktionelle Beeinträchtigung. Aus diesen beiden Komponenten setzt sich das zusammen, was wir als „Behinderung“ bezeichnen.

Moderne und Behinderung

Als die Moderne das westliche Denken des 20. Jahrhunderts beherrschte, wurde eine Behinderung als Abweichung von der Norm betrachtet. Im Weltbild der Moderne ging es darum, die Menschheit zu verbessern, indem beobachtbare Probleme mithilfe von Wissenschaft und Vernunft gelöst wurden. Behinderung ist in diesem Kontext eine beobachtbare Abweichung von der Norm, ein „Problem“, das mit dem Ziel einer utopischen Vision beseitigt, repariert oder zumindest verbessert werden muss.

„Eine modernistische Denkweise kann zwar zur Entwicklung von hilfreichen Therapien für Behinderungen beitragen, doch tragischerweise war sie auch die Grundlage für gesellschaftliche Misshandlungen von Menschen mit Behinderungen.“
 

Eine modernistische Denkweise kann zwar zur Entwicklung von hilfreichen Therapien für Behinderungen beitragen, doch tragischerweise war sie auch die Grundlage für gesellschaftliche Misshandlungen von Menschen mit Behinderungen – wie etwa Euthanasie, Unterbringung in geschlossenen Einrichtungen, Sterilisation oder die Abtreibung von Babys, bei denen im Mutterleib Behinderungen diagnostiziert wurden. Die Moderne konzentriert sich fast ausschließlich auf die funktionale Dimension von Behinderung – die Beeinträchtigung selbst. Außerdem betrachtet sie Behinderungen als abnormalen Teil des Lebens in einer normalen Welt.

Postmoderne und Behinderung

Die Postmoderne hingegen konzentriert sich fast ausschließlich auf die soziale Dimension von Behinderung. Als Reaktion auf das Scheitern der Moderne definiert die Postmoderne Wahrheit als etwas Persönliches und Fließendes und nicht als eine beobachtbare wissenschaftliche Realität. Die Postmoderne zeigt auf, wie der Glaube an Wissenschaft und Vernunft allein die Gesellschaft im Stich gelassen hat und erklärt dieses soziale Versagen mit dem menschlichen Kampf um Macht. Aus postmoderner Sicht ist es nicht der behinderte menschliche Körper, der repariert werden muss, sondern die Systeme, die unsere Kultur prägen.

Behindertenaktivisten in der postmodernen Ära stellen einige sehr wichtige Fragen, wie zum Beispiel:

  • Wer entscheidet, was eine Behinderung ist und was nicht?
  • Wenn das soziale Umfeld Menschen mit Behinderung voll und ganz unterstützen und ihnen entgegenkommen würde, würde dann die Behinderung selbst (pragmatisch gesehen) eine Rolle spielen?

Im postmodernen Denken sind Behinderungen neutrale menschliche Eigenschaften, die angenommen und sogar gefeiert werden müssen. Einige postmoderne Behindertenaktivisten beschreiben die funktionelle Beeinträchtigung als vergleichbar mit unterschiedlichen Haarfarben. In der postmodernen Sichtweise ist eine Behinderung ein normaler Teil des Lebens in einer normalen Welt. Wenn die sozialen Barrieren abgebaut werden, verschwindet auch das Wesen der Behinderung.

Sowohl die moderne als auch die postmoderne Sichtweise sind fehlgeleitet. Die Moderne ist ehrlich in Bezug auf die Schwierigkeiten, die mit einer Behinderung verbunden sind. Doch durch die Konzentration auf die Beeinträchtigung und darauf, wie sie ausgeräumt werden kann, bewirkt die Moderne, dass Menschen mit diagnostizierbaren Behinderungen als „anders“ oder „unnormal“ erlebt und als minderwertig oder zweitklassig betrachtet werden.

Die Postmoderne dagegen ist insofern ehrlich, dass sie die Realität sozialer Barrieren betont, die zu einer passiven und aktiven Unterdrückung von Menschen mit Behinderungen führen. Indem sie sich jedoch auf Lösungen konzentriert, die auf Erwerb und Ausübung sozialer Macht beruhen, minimiert die Postmoderne oft den Schmerz und das Leiden, die mit der funktionalen Beeinträchtigung für Menschen mit Behinderungen und ihre Familien einhergehen können.

Die biblische Sichtweise auf Behinderung

Wo liegt die Wahrheit? Die biblische Sichtweise auf Behinderung betont die Würde und Vielfalt des Menschen und erkennt gleichzeitig ehrlich an, dass es echte Schwierigkeiten gibt – sowohl in funktioneller als auch in sozialer Hinsicht. Indem sie diese beiden Ebenen in einem angemessenen Spannungsverhältnis hält, bekräftigt die biblische Perspektive, dass eine Behinderung ein normaler Teil des Lebens in einer unnormalen Welt ist.

„Die biblische Sichtweise auf Behinderung betont die Würde und Vielfalt des Menschen und erkennt gleichzeitig ehrlich an, dass es echte Schwierigkeiten gibt – sowohl in funktioneller als auch in sozialer Hinsicht.“
 

Behinderung ist insofern normal, als sie zu erwarten ist. Wenn wir Behinderungen begegnen, sollte uns das nicht überraschen oder schockieren. Wir leben in einer Welt, die von den Auswirkungen des Sündenfalls auf die Menschheit und auf die Schöpfung selbst gezeichnet ist. Durch die Brille der Heiligen Schrift betrachtet, ist Behinderung eine wahrnehmbare Form der Gefallenheit der Welt und der Schwierigkeiten, die für die menschliche Erfahrung typisch sind. In einer gefallenen Welt sind die Schwierigkeiten, die Menschen mit Behinderung erleben, sowohl eine Folge der funktionalen Beeinträchtigung als auch des sündhaften Umgangs, mit dem man Menschen gegenüber auftritt, die als grundlegend anders empfunden werden.

Tims anfängliche Antwort – „Ich habe kein Down-Syndrom!“ – mag wie eine Verleugnung der Realität klingen. Aber auch heute, im Alter von 30 Jahren, weiß Tim, dass seine Identität nicht in seiner Behinderung liegt, auch wenn das Down-Syndrom beeinflusst, wie er die Welt wahrnimmt und wie die Welt ihn wahrnimmt.

In erster Linie weiß Tim, dass er ein Mensch ist, der nach Gottes Bild geschaffen wurde. Mit ihm zu leben und für ihn zu sorgen hat mich in all diesen Jahren gelehrt, dass die Gemeinde Menschen mit Behinderungen dann am besten würdigt, wenn sie diese Wahrheit im Kopf behält. Menschen mit Behinderungen sind wie alle Menschen mit Würde und Bestimmung ausgestattet und müssen Christus und seine rettende Gnade kennenlernen.

Ich bete dafür, dass unsere Gemeinden ihren Umgang mit den praktischen Schwierigkeiten, die ein Leben mit Behinderung mit sich bringt, aus einer biblischen Sichtweise auf die funktionale Dimension von Behinderung schöpfen. Darüber hinaus bete ich auch dafür, dass unsere Gemeinden mit einer biblischen Sichtweise der sozialen Dimension von Behinderung aktiv gegen Ungerechtigkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen vorgehen, wo immer sie vorkommt.

Wenn wir die wunderbaren Gaben von Menschen mit Behinderungen würdigen, sie als Ebenbilder Gottes lieben und ihre Perspektiven auf das Leben wahrnehmen und begrüßen, wird der gesamte Leib Christi gesegnet.