Stille
Unabdingbar für eine gesunde Seele
Jahrelang habe ich Stille gehasst – und wusste es nicht.
Das war ein großer blinder Fleck bei mir. Ich habe meinen Wunsch, unter Leuten und nicht alleine zu sein, immer damit abgetan, dass ich extrovertiert bin und Menschen liebe. Ich dachte, eine ausgeprägte soziale Kompetenz seien die Erklärung für meine gesprächige Art. Diese Qualitäten schienen mir als Pastor auch im Umgang mit Menschen zu helfen, also dachte ich nicht weiter darüber nach. Erst als ich mich wegen einer Krise selbst in Therapie begab, wurde ich damit konfrontiert, dass ich mich lange getäuscht hatte.
„Stille entblößt die Seele. Nur durch Stille erlebte meine Seele Gottes Gnade und Gegenwart auf eine tiefere Weise.“
Mein Therapeut nahm Verhaltensweisen wahr, die von den meisten unbemerkt blieben, ihm aber Sorgen bereiteten. Er sah, dass ich vor dem Alleinsein davonlief. Er erkannte, dass ich Stille als unangenehm empfand und nicht wusste, wie ich mit ihr umgehen sollte. Er erlebte, wie ich mit meinen Worten oft unsere Gespräche vereinnahmte. Das brachte auch ans Licht, was für ein furchtbarer Zuhörer ich war.
Also fing er an, mich in diesem Bereich herauszufordern – und das war hart. Stille entblößt die Seele. Hässliche Dinge kamen ans Licht und ich war nicht bereit, mich ihnen zu stellen. Einmal fühlte ich mich, als würde alles in meinem Inneren in sich zusammenfallen. Aber Gott in seiner unglaublichen Gnade begegnete mir in einer liebevollen, mächtigen Weise und begann einen Heilungsprozess, der meiner Seele einen beständigen Frieden beschert hat. Nur durch Stille erlebte meine Seele Gottes Gnade und Gegenwart auf eine tiefere Weise.
Ein Pastor muss regelmäßig die Macht und Liebe Gottes in den Tiefen seiner Seele erleben, um einen langen und fruchtbaren Dienst zu haben. Diese Tiefen können und werden inmitten von Hektik, Lärm und Ablenkung, in der die meisten Pastoren leben, nicht erreicht werden. Gehetzte Pastoren fliehen von Natur aus vor der Stille – aber Stille kann ein starker Motor für Erneuerung sein.
Gründe für Stille
Es gibt einige offensichtliche Gründe, warum wir Stille brauchen: um uns neu auszurichten, um mit Gott allein zu sein und ohne Ablenkung beten und Gottes Wort lesen zu können. Aber ich möchte vier weitere, weniger offensichtliche Gründe nennen – und damit aufzeigen, wie Stille eine Waffe im Kampf um das Wohlergehen der eigenen Seele und gegen einen rastlosen, hektischen Dienst sein kann.
Erstens entblößt Stille die Seele. Wir benutzen Lärm und Beschäftigung oft als Abwehrmechanismen, um dem Schmerz in unserem Leben aus dem Weg zu gehen. Das können unbewältigter Schmerz und Missbrauch aus der Vergangenheit oder aktuelles Leid sein. Egal worum es sich handelt, Lärm und Ablenkung können den Anschein erwecken, der Schmerz sei nicht da oder hätte keine Macht über uns. Viele Pastoren sind nicht deshalb ständig gehetzt, weil sie produktiv sein müssen, sondern weil sie vor dem Schmerz ihrer eigenen Seele fliehen. Stille kann diesen tiefen Schmerz in unserer Seele aufdecken, sodass wir nicht mehr leugnen können, dass er da ist.
„Viele Pastoren sind nicht deshalb ständig gehetzt, weil sie produktiv sein müssen, sondern weil sie vor dem Schmerz ihrer eigenen Seele fliehen.“
Zweitens konfrontiert Stille die Stimmen in uns; diese Stimmen sind Botschaften über uns selbst, die sich in Dauerschleife in unseren Gedanken abspielen. Wir alle haben sie. Es sind die Stimmen von Menschen aus unserer Vergangenheit. Es sind die Lügen, die der Feind uns so gern ins Ohr flüstert. Es sind die Meinungen derer, die aktuell in unserem Leben sind. Wenn diese Stimmen harsch und beleidigend sind und Lügen über unseren Wert und unsere Identität in Christus erzählen, dann wird es sehr unangenehm, sie zu hören, und wir tun, was wir können, um vor ihnen zu fliehen.
Jahrelang wurde ich von diesen Stimmen geplagt. Boshafte Stimmen der Vergangenheit, Lügen des Feindes und schmerzhafte Kritik der Gegenwart formten all die Botschaften des eigenen Versagens und der Verachtung, die am lautesten waren, wenn ich alleine der Stille ausgesetzt war. Also floh ich vor der Stille, um den Stimmen zu entkommen.
Was mir jedoch nicht bewusst war: Ich brauchte die Stille, um diesen Stimmen entgegenzutreten. Die Lösung war nicht, vor ihnen wegzulaufen, sondern zu ihnen zu sprechen; mir im Angesicht der Lügen, die ich so lange gehört und geglaubt hatte, die mächtige Wahrheit des Evangeliums zuzusprechen. Martyn Lloyd-Jones äußerte einmal folgende bekannte Worte über diese Stimmen, als er über Depressionen sprach:
„Das Hauptproblem beim Thema spirituelle Depression ist in gewisser Weise, dass wir unserem Selbst erlauben, zu uns zu sprechen, anstatt dass wir zu unserem Selbst sprechen. Das klingt paradox, oder? Aber das trifft den eigentlichen Kern der Weisheit, die wir in diesem Bereich benötigen. Mir müssen begreifen, dass der größte Teil der Unzufriedenheit in unserem Leben darauf zurückzuführen ist, dass wir uns selbst zuhören, anstatt zu uns selbst zu sprechen.“ (Martyn Lloyd-Jones in Spiritual Depression; eigene Übersetzung)
Um das zu tun, brauchte ich Freiraum. Stille half mir, die Lebensbereiche zu erkennen, in denen ich mir selbst zuhörte, statt zu mir selbst zu sprechen. In der Stille konnte ich die Stimmen besser ausmachen und ihnen mit der Wahrheit entgegentreten.
Drittens lehrt Stille uns zuzuhören. Es war erschreckend festzustellen, dass ich schon lange Pastor und trotzdem ein so schlechter Zuhörer war. Während ich zuhörte, bereitete ich in der Regel bereits meine Antwort vor. Ich musste lernen zuzuhören, ohne den inneren Drang, direkt antworten zu müssen: einfach zuhören und mitfühlen. Als ich lernte, Stille anzunehmen, bemerkte ich, dass ich auch anfing zuzuhören. Ich hörte Geräusche um mich herum, die ich vorher nie wahrgenommen hatte. Ich konnte die Botschaft von Gottes Wort besser aufnehmen. Es ist unglaublich, was passiert, wenn man nicht davon abgelenkt ist, über das nachzudenken, was man als Nächstes sagen oder machen soll. Einfach zuhören.
Und schließlich zeigt Stille uns, wie stark bedürftig wir nach Lärm sind. Ich dachte, dass ich nun mal Menschen und Trubel liebe. Ich hatte keine Ahnung, dass ich Lärm brauchte, weil Stille eine Qual für meine Seele war. Wenn du ein gehetzter Pastor bist, könnte es daran liegen, dass du auch ein ungesundes Bedürfnis nach Lärm hast. Stille entblößt die Seele und zeigt uns, wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, uns auf Lärm zu verlassen, um den Schmerz in unserem Leben zu verdrängen.
Pastoren müssen sich um Lärm und Ablenkung nicht bemühen. Beide sind das Ergebnis eines hektischen Lebens. Aber Stille ist ein anderes Thema. Wir müssen um sie kämpfen. Stille fordert uns heraus, uns dem Schmerz zu stellen und zuzulassen, dass die Macht des Evangeliums in die Tiefen unserer Seele dringt und Heilung bringt.