Jonathans Liebe zu David (Teil 2)

Artikel von Mario Tafferner
12. November 2024 — 14 Min Lesedauer

Einleitung

In den Samuelbüchern finden sich Passagen, in denen die Beziehung zwischen Jonathan und David beschrieben wird. Seit einigen Jahren nun legen Exegeten diese Beziehung als homoerotische oder homosexuelle Liebe aus. Auf diese (wohlgemerkt vergleichsweise neue) Auslegungstradition möchte ich im Rahmen dieses Artikels eine Antwort geben, indem ich nicht nur die relevanten Bibeltexte auslege, sondern anhand des Beispiels der Liebe zwischen Jonathan und David eine ganz generelle Orientierung biete, wie man die Schrift in unserer verwirrenden Zeit zuverlässig lesen kann. Dabei geht es in Teil 1 zunächst darum, was es überhaupt bedeutet, die Bibel in einer Zeit auszulegen, in der sich unser Verständnis von Menschsein radikal verändert. Teil 2 wendet die darin gewonnenen Erkenntnisse dann auf den biblischen Bericht über die Beziehung von Jonathan und David an. Kurz, es geht um die Frage, welche Art von Liebe zwischen David und Jonathan bestand und wie wir das eigentlich wissen können.

Die „Geschichte“ einer homoerotischen Liebe zwischen David und Jonathan

Ausleger, die den Bericht über die Beziehung zwischen David und Jonathan als Erzählung einer homoerotischen Liebe interpretieren, erzählen in der Regel eine „Geschichte“, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Die Liebessprache, die wir in Schlüsselpassagen wie 1. Samuel 18,1–4, 1. Samuel 20,12–17 und 2. Samuel 1,23–26 finden, ist zwar doppeldeutig, sollte aber im Kontext der gesamten Erzählung als erotisch ausgelegt werden. Das Hauptargument dieser Auslegungstradition ist, dass der Sprachgebrauch in Abschnitten wie 1. Samuel 18,1 erotisch zu deuten ist, auch wenn das im Bibeltext selbst nie explizit erwähnt wird.

Aber ergibt diese „Geschichte“ einer homoerotischen Liebe zwischen David und Jonathan tatsächlich mehr Sinn als andere mögliche „Geschichten“? Erklärt sie den Verlauf und die Details von 1. Samuel 18–20 wirklich am besten? Um das herauszufinden, ist es notwendig, diese „Geschichte“ durch eine genaue Lektüre der drei wichtigsten Passagen zur Liebe zwischen David und Jonathan zu überprüfen: 1. Samuel 18,1–4; 1. Samuel 20,12–17 und 2. Samuel 1,23–26.[1]

1. Samuel 18,1–4

1. Samuel 18,1–4 beschreibt die erste Begegnung zwischen David und Jonathan, die kurz nach Davids Sieg gegen Goliath stattfindet (vgl. 1Sam 17):

„Und als er [David] aufhörte mit Saul zu reden, verband sich Jonathans Seele mit Davids Seele und Jonathan liebte ihn wie seine Seele [wie sich selbst]. Und Saul nahm ihn [David] an diesem Tag und erlaubte ihm nicht, zum Haus seines Vaters zurückzukehren. Und Jonathan und David machten einen Bund wegen seiner Liebe für ihn [Jonathans Liebe für David] wie für seine Seele. Und Jonathan zog sein Oberkleid aus und gab es David bis hin zu seinem Schwert, seinem Bogen, und seinem Gürtel.“

Wie sollten wir die Liebessprache in diesem Abschnitt auslegen? Einige Beobachtungen sollen helfen, den Sprachgebrauch hier zu deuten.

Allem voran suggerieren die vorangehenden Abschnitte in 1. Samuel, dass die Darstellung der Liebe Jonathans zu David in diesem Abschnitt nicht auf eine romantische, sondern auf eine politische Entwicklung reagiert.

Seit 1. Samuel 13 steht die Frage im Raum, wer der Nachfolger Sauls, des ersten Königs von Israel und Jonathans Vater, werden soll. Gott hatte Saul verworfen, nachdem dieser aus Angst vor den Philistern illegitime Opfer dargebracht hatte. Samuel prophezeite Saul daher in 1. Samuel 13,14:

„Und nun wird dein Königtum nicht bestehen. Der HERR wird sich einen Mann nach seinem Herzen suchen und der HERR wird ihn als Prinz über sein Volk einsetzen, denn du [Saul] hast nicht eingehalten, was der HERR geboten hat.“

Der Vers ist wahrscheinlich bewusst doppeldeutig formuliert. Es wird nicht klar, ob nur Sauls eigene Regierung oder die Herrschaft seiner gesamten Dynastie zu einem gottgewirkten Ende kommen soll. Als Leser bleibt man daher mit der Frage zurück, wer Saul denn in Zukunft ersetzen soll: sein Sohn Jonathan oder jemand aus einer ganz anderen Familie?

1. Samuel 14 scheint diese Unklarheiten zunächst zu beseitigen. Das Kapitel handelt von Jonathans heroischem Sieg gegen die Philister in der Schlacht bei Michmas sowie der Gunst, die Jonathan dadurch beim ganzen israelitischen Volk findet. Es scheint im Nachklang von 1. Samuel 13 erstmal so, als entpuppte sich Jonathan hier als der Mann nach Gottes eigenem Herzen, der Saul ablösen soll.

Die beiden folgenden Kapitel schieben allerdings einen Riegel vor diese Möglichkeit. Hier erfährt der Leser, dass Gott einen ganz anderen Plan verfolgt als das, was man im Angesicht von Jonathans Heldentum erwarten würde. In 1. Samuel 15–16 lesen wir, wie nicht Jonathan, sondern David, ein dynastischer Außenseiter, erwählt wird, um das göttliche Versprechen von 1. Samuel 13,14 wahr zu machen. Dieses wird in 1. Samuel 15,28 noch einmal bestätigt:

„Und Samuel sagte zu ihm [Saul]: Der HERR hat das Königreich heute von dir gerissen und es deinem Nachbarn gegeben, der besser ist als du.“

Davids Salbung in 1. Samuel 16 macht dem Leser dann unmissverständlich klar, dass nicht Jonathan seinem Vater auf den Thron folgen wird, sondern ein schlichter Hirtenjunge aus Bethlehem. In 1. Samuel 13 ist also die gesamte Dynastie Sauls verworfen worden.

Als moderne Leser stehen wir in der Gefahr, die Sprengkraft dieser geschichtlichen Entwicklung zu verkennen. Für einen eisenzeitlichen Israeliten muss die Erwählung Davids zunächst einmal großes Konfliktpotential bedeutet haben. David stammte nicht aus der königlichen Familie, sondern war ein politischer Außenseiter. Während er aus Gottes Perspektive zwar als erwählter König galt, war er aus menschlicher Sicht doch ein Usurpator, ein illegitimer Thronräuber. David riss eine Königsherrschaft an sich, die er laut Erbfolge nicht hätte erlangen dürfen. Ähnliche Nachfolgestreitigkeiten waren an altvorderorientalischen Höfen nicht nur häufig; sie verliefen in der Regel auch außerordentlich blutig.

Das ist die Dynamik zwischen David, Jonathan, und Saul, die die Kapitel vor 1. Samuel 18 präsentieren. Gerade für den antiken Leser ergibt sich hier somit vor allem eine Frage: Wie wird sich Jonathan, der eigentliche und beim Volk beliebte Thronfolger, gegenüber David, Gottes erwähltem neuen König verhalten? Müssen wir mit einer blutigen Fehde im Palast rechnen? Wird es vielleicht einen Bürgerkrieg zwischen David und den Sauliden geben (wie es später tatsächlich in 2. Samuel passiert)? Was geschieht, wenn Jonathan und David aufeinandertreffen?

Die Liebesprache von 1. Samuel 18,1–4 reagiert genau auf diese Entwicklung. Entgegen allem, was ein antiker Leser erwartet hätte, finden wir hier ein erlösendes Moment: Jonathan hasst David nicht. Er liebt ihn wie sich selbst.

Jonathans Liebe, auch wenn sie auf den ersten Blick blumig beschrieben wird, ist keine bloße Emotion, sondern konstituiert eine konkrete soziale Realität. Sie äußert sich in einem Bund zwischen Jonathan und David, den die beiden in 1. Samuel 18,1–4 schließen.

Im Sprachgebrauch des Alten Testaments ist „Liebe“ Teil des Vokabulars für Bundesschlüsse und Bundesbeziehungen. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist 5. Mose 6,4–5 (Hervorh.d.Verf.):

„Höre Israel,
der HERR ist unser Gott;
der HERR ist einer.
Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben,
mit deinem ganzen Herzen,
mit deiner ganzen Seele [deinem ganzen Selbst],
und mit deiner ganzen Stärke.“

Ähnlich wie 1. Samuel 18,1–4 spricht 5. Mose 6,4–5 von Israels Bundestreue zu Gott als von einer starken Liebe. Diese Art von Sprachgebrauch birgt keine erotischen Konnotationen, sondern kommuniziert eine vollkommene Selbstverpflichtung an den jeweiligen Bundespartner. Kurzum: Jonathans Liebe zu David bedeutet seine Bundestreue gegenüber Gottes eingesetztem König vor dem Hintergrund eines möglichen Konflikts zwischen David und den Sauliden. Deshalb händigt Jonathan David am Ende dieses Abschnitts auch die Zeichen seiner eigenen prinzlichen Existenz aus, nämlich Gewand und Waffen (vgl. 1Sam 18,4).

1. Samuel 20,12–17

Der in 1. Samuel 18,1–4 gewonnene Eindruck verstärkt sich in 1. Samuel 20,12–17. Dieser Abschnitt enthält in hoher Konzentration ebenfalls Sprache, die die Beziehung zwischen David und Jonathan als Liebesgeschichte darstellt.

„Wie bereits in 1. Samuel 18,1–4 hat die Liebessprache von 1. Samuel 20,12–17 einen konkreten Bundescharakter. Die Beziehung zwischen Jonathan und David wird hier nicht in romantischen, sondern in bundesgemeinschaftlichen Kategorien präsentiert.“
 

Im Verlauf des Plots folgt 1. Samuel 20,12–17 Davids Schwierigkeiten an Sauls Hof, an welchen er nach seinem Sieg über Goliath berufen worden ist. Sauls zunehmender Neid auf David lässt den jungen Helden vermuten, dass der König bereits plant, ihn in naher Zukunft zu töten. Jonathan verspricht David daraufhin, dass er die Pläne seines Vaters herausfinden und David diese mitteilen wird. Genau an dieser Stelle setzt der nicht ganz leicht zu übersetzende Text von 1. Samuel 20,12–17 ein. Hier meine eigene Version:

„Und Jonathan sagte zu David: Der HERR, der Gott Israels (ist mein Zeuge)! Wenn ich es morgen um diese Zeit, dem dritten Tag, von meinem Vater ersuche, und es ist gut mit David, und ich sende nicht zu dir und offenbare es deinen Ohren nicht, dann soll der HERR (solches Böses) an Jonathan tun und so soll er (Böses) hinzufügen. Aber wenn es meinem Vater gut erscheint, dass Böses auf dir sei [dass er dich töten will], werde ich es deinen Ohren offenbaren, und ich werde dich fortschicken und du sollst in Frieden gehen. Und der HERR soll mit dir sein wie er mit meinem Vater war. Und nein, wenn ich noch am Leben bin, dann sollst du die Treue des HERRN nicht an mir tun, dass ich nicht sterbe, sondern du sollst deine Treue niemals von meinem Haus abschneiden, auch nicht wenn der HERR die Feinde Davids jeweils vom Angesicht der Erde abschneidet.[2] Und Jonathan machte (einen Bund) mit dem Haus Davids und der HERR ersuchte es von den Händen von Davids Feinden. Und Jonathan schwor David noch einmal wegen seiner Liebe für ihn, denn er liebte ihn wie seine Seele [sich selbst].“

Wie bereits in 1. Samuel 18,1–4 hat die Liebessprache von 1. Samuel 20,12–17 einen konkreten Bundescharakter. Die Beziehung zwischen Jonathan und David wird hier nicht in romantischen, sondern in bundesgemeinschaftlichen Kategorien präsentiert.

Dazu kommt, dass 1. Samuel 20,12–17 den Bund zwischen David und Jonathan über ihre persönliche Beziehung hinaus auf ihre jeweiligen Häuser bzw. Dynastien überträgt. Der Bund, den Jonathan bereits mit David in 1. Samuel 18,1–4 geschlossen hat, wird in diesem Abschnitt auf Davids gesamte Dynastie und in Relation zu Jonathans Nachkommenschaft übertragen. Es geht nicht mehr um Jonathan und David allein. Im Gegenteil, Jonathan versucht seine Nachkommenschaft durch diesen Bund zu schützen. Wenn Davids Dynastie schlussendlich die Macht ergreift, dann soll sie im Nachklang Jonathans Familie nicht ausrotten.

Das schließt sich an das an, was wir bereits zuvor gesehen haben, und nimmt wichtige spätere Themen in den Samuelbüchern vorweg. In der Dynamik zwischen Jonathan, David und Saul, die unausweichlich auf einen Bürgerkrieg hinausläuft, stellt Jonathan sich nicht komplett auf Davids Seite, erkennt aber dessen zukünftige Königsherrschaft an. Das geht so weit, dass er die Zukunft seines „Hauses“ durch einen Bund an Davids „Haus“ anvertraut. Somit begreift Jonathan bereits, was dem Leser erst in 2. Samuel 7,1–17 deutlich werden wird: Davids „Haus“ ist von Gott selbst gebaut und wird Bestand haben. David selbst wird seinen Teil des Bundes einlösen, indem er „Treue“ an Jonathans Sohn Mefiboschet ausüben wird (vgl. 2Sam 9), nachdem Gott seine Feinde vor ihm ausgelöscht hat (vgl. 2Sam 8).

2. Samuel 1,23–26

Der letzte wichtige Text, der die Beziehung zwischen Jonathan und David in Form von Liebessprache kommuniziert, ist 2. Samuel 1,23–26. Dieser Abschnitt ist ein Teil von Davids Trauerlied, nachdem Saul und Jonathan in der Schlacht gegen die Philister gefallen sind:

„Saul und Jonatan, geliebt und einander zugetan, im Leben und im Tod nicht geschieden; schneller waren sie als die Adler und stärker als die Löwen. Ihr Töchter Israel, weint über Saul, der euch kleidete mit kostbarem Purpur und euch schmückte mit goldenen Kleinoden an euren Kleidern. Wie sind die Helden gefallen im Streit! Jonatan ist auf deinen Höhen erschlagen! Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonatan, ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt; deine Liebe ist mir wundersamer gewesen, als Frauenliebe ist.“ (LUT17)

Von den drei hier behandelten Abschnitten ist dieser mit Sicherheit derjenige, der sich am ehesten für eine homoerotische Interpretation der Beziehung zwischen Jonathan und David heranziehen lässt. Dies ist aber nicht die einzige mögliche Interpretation.

Wenn es den letzten Satz „deine Liebe ist mir wundersamer gewesen, als Frauenliebe ist“ in diesem Abschnitt nicht gäbe, würde wohl kaum jemand auf die Idee kommen, hier den Belegtext einer homoerotischen Beziehung zwischen David und Jonathan zu suchen. Davids Trauerrede betrifft nämlich nicht nur Jonathan allein, sondern bezieht auch seinen Vater Saul mit ein. Auch im Abschnitt über ihn finden wir deutliche Liebesrhetorik.

Dazu kommt, dass wir es mit einem Gedicht zu tun haben, dessen metaphorische Sprache nicht überinterpretiert werden sollte. Es ist schlicht problematisch, zu viel argumentatives Gewicht auf eine schwer zu interpretierende Phrase über die „Frauenliebe“ zu legen.

Dabei stellt sich auch die Frage, ob der Vergleich mit „Frauenliebe“ überhaupt eine romantische Konnotation trägt. Der Ausruf könnte sich auch auf andere weibliche Eigenschaften wie etwa die der Fürsorge einer Hausfrau, der Treue einer Ehefrau oder der Mutterschaft einer Mutter beziehen.

Deshalb: Auch wenn sich 2. Samuel 1,23–26 nicht in direkte Verbindung zu den Bundeskategorien von 1. Samuel 18,1–4 und 1. Samuel 20,12–17 setzen lässt, steht dieser Text wohl kaum im Wiederspruch zu dem, was wir bereits gesehen haben.

Zusammenfassung und Schluss

Die Ausgangsfrage dieser Untersuchung war, ob die „Geschichte“ einer homoerotischen Beziehung zwischen Jonathan und David die Liebesrhetorik in 1. Samuel 18,1–4, 1. Samuel 20,12–17 und 2. Samuel 1,23–26 ausreichend erklärt. Wir haben gesehen, dass dies in 1. Samuel 18,1–4 und 1. Samuel 20,12–17 keineswegs der Fall ist. Die dortige Liebessprache hat einen konkreten Bundescharakter, wie man ihn auch in 5. Mose 6,4–5 findet.

„Die Bibel ist vielleicht nicht so klar, wie manche Christen meinen. Sie ist aber klar genug, dass wir zu einem zuverlässigen Wissen über Gott und seine Beziehung zu uns kommen können.“
 

Dazu kommt, dass die Beziehung zwischen Jonathan und David im Zusammenhang der Samuelbücher auf eine politisch-theologische Entwicklung reagiert. Jonathans „Liebe“ zu David kommuniziert seine Treue gegenüber David und seinem Haus im Wandel der Dynastien. Gerade 1. Samuel 20,12–17 hat gezeigt, dass es dabei noch nicht mal unbedingt um David und Jonathan selbst geht, sondern um ihre jeweiligen „Häuser“ bzw. Familien.

Zu dem allen passt, dass diese Texte immer von Jonathans Liebe zu David (und nicht umgekehrt) sprechen. Wie Israels „Liebe“ zu Gott in 5. Mose 6,4–5 kommuniziert Jonathans „Liebe“ zu David seine Bundestreue für Israels neuen König.

In dieses enge Netz von literarischen Entwicklungen noch eine homoerotische Beziehung zwischen zwei Individuen hineinquetschen zu wollen, erscheint somit wenig überzeugend. Selbst die blumige Sprache von 2. Samuel 1,23–26 fällt kaum so schwer ins Gewicht, dass sie das deutliche Bild von 1. Samuel 18,1–4 und 1. Samuel 20,12–17 aushebeln könnte.

Die Geschichte von Jonathans Liebe zu David ist somit ein gutes Beispiel dafür, dass Bibelauslegung auch noch in Zeiten des modernen Selbst gelingen kann. Wenn wir die Schrift mit Liebe, Demut und Sorgfalt lesen, dann ist es uns möglich, zwischen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Interpretationen („Geschichten“) zu unterscheiden. Nur weil wir unsere Auslegungen nicht über jeden Zweifel erhaben beweisen können, bedeutet das nicht, dass wir uns selbst in den Bibeltext hineinlesen dürfen. Die Bibel ist vielleicht nicht so klar, wie manche Christen meinen. Sie ist aber klar genug, dass wir zu einem zuverlässigen Wissen über Gott und seine Beziehung zu uns kommen können.


1 Die Bibeltexte sind, wo nicht anders angegeben, eine Übersetzung des Autors.

2 Der hebräische Text von 1. Samuel 20,14 ist aufgrund der ungewöhnlichen dreifachen Konstruktion ולא ... ולא ... ולא schwierig zu deuten. Die Problematik schlägt sich schon in den frühesten Übersetzungen nieder, die den Abschnitt ganz unterschiedlich auslegen (siehe dazu die Anmerkungen im kritischen Apparat der BHS). Da alle vorgeschlagenen Emendationen in den antiken Versionen das Problem bereits vorauszusetzen scheinen, muss der masoretische Text, so schwer er auch ist, Grundlage der Übersetzung bleiben. Eine sinnige Auslegung ergibt sich, wenn man das erste ולא als „absolut verneinende Antwort“ auffasst (vgl. Gesenius-Kautzsch §152c) und dieses als „Und Nein!“ übersetzt. Dieses absolute „Nein“ verstärkt die adversative Gegenüberstellung zwischen Jonathans Wunsch, dass David seinem (Jonathans) Haus bzw. seiner Nachfahrenschaft treu sein soll und nicht ihm persönlich. Absolut verneinendes לא „Nein!“ findet sich im Bibelhebräischen auch an anderer Stelle in adversativen Konstruktionen (vgl. 1Mose 19,2; Jos 5,14; 1Kön 3,22).