Jonathans Liebe zu David (Teil 1)
Einleitung und Fragestellung
In den Samuelbüchern finden sich Passagen, in denen die Beziehung zwischen Jonathan und David beschrieben wird. Seit einigen Jahren nun legen Exegeten diese Beziehung als homoerotische oder homosexuelle Liebe aus. Auf diese (wohlgemerkt vergleichsweise neue) Auslegungstradition möchte ich im Rahmen dieses Artikels eine Antwort geben, indem ich nicht nur die relevanten Bibeltexte auslege, sondern anhand des Beispiels der Liebe zwischen Jonathan und David eine ganz generelle Orientierung biete, wie man die Schrift in unserer verwirrenden Zeit zuverlässig lesen kann. Dabei geht es in Teil 1 zunächst darum, was es überhaupt bedeutet, die Bibel in einer Zeit auszulegen, in der sich unser Verständnis von Menschsein radikal verändert. Teil 2 wendet die darin gewonnenen Erkenntnisse dann auf den biblischen Bericht über die Beziehung von Jonathan und David an. Kurz, es geht um die Frage, welche Art von Liebe zwischen David und Jonathan bestand und wie wir das eigentlich wissen können.
Eine „neue“ Auslegung der Liebe zwischen Jonathan und David
Wahrscheinlich würden die meisten Leser mir darin zustimmen, dass wir in sonderbaren Zeiten des Umbruchs leben. Solche sonderbaren Zeiten bringen es mit sich, dass Menschen beginnen, die Bibel auf sonderbare Weise auszulegen. Das gilt auch für die Geschichte der Liebe zwischen Jonathan und David.
Die relevanten Bibeltexte werfen für Menschen diesseits der sexuellen Revolution zumindest Fragen auf. In 1. Samuel 18,1 lesen wir, dass Jonathans Seele sich mit Davids Seele verband und er ihn „liebte wie sein eigenes Leben“. 1. Samuel 20,41 berichtet, wie die beiden „einander [zum Abschied] küssten“. In Davids Ausruf über Jonathans Tod in 2. Samuel 1,26 lesen wir: „[D]eine Liebe ist mir wundersamer gewesen, als Frauenliebe ist.“[1]
So vielsagend diese Stellen auch sein mögen, so erschien das erste Buch, das eine homosexuelle Interpretation auf akademisch-exegetischem Niveau vorschlug, doch erst im Jahr 1978. Seit diesem Werk von Tom Horner (Jonathan Loved David: Homosexuality in Biblical Times, dt. Jonathan liebte David: Homosexualität zur Zeit der Bibel) gibt es allerdings eine Vielzahl von Exegeten, die in 1. Samuel 18–20 den Bericht einer homosexuellen, homoerotischen oder zumindest homosoziablen Liebe vermuten.[2] Warum kam diese Auslegungstradition nicht früher auf? Der Bibeltext selbst hatte sich ja nicht verändert.
Bibelauslegung in der Ära des modernen Selbst
An dieser Stelle sind die ideengeschichtlichen Einsichten von Carl R. Trueman hilfreich. Trueman zeigt in seinem viel beachteten Werk Der Siegeszug des modernen Selbst, dass unser modernes Zeitalter von einem neuen Verständnis des menschlichen „Selbst“ geprägt ist. Wir leben in der Ära des expressiven Individualismus, in der Menschen ihr Dasein auf Grundlage ihrer Gefühle und Wünsche selbst bestimmen können. Dieser Prozess beinhaltet daher auch eine Rebellion gegen kulturelle Institutionen und Normen wie etwa die Bibel.
Es ist somit kaum verwunderlich, dass diese Auffassung auch die Schriftauslegung radikal beeinflusst. In Truemans Kategorien könnte man das in etwa so zusammenfassen: In der Ära des modernen Selbst und des expressiven Individualismus wird die Botschaft der Schrift häufig mehr durch die Gefühle und Wünsche des Auslegers bestimmt als durch eine Autorität in oder hinter dem biblischen Text.
„In der Ära des modernen Selbst und des expressiven Individualismus wird die Botschaft der Schrift häufig mehr durch die Gefühle und Wünsche des Auslegers bestimmt als durch eine Autorität in oder hinter dem biblischen Text.“
Oder anders ausgedrückt: Ebenso wie moderne Menschen sich selbst transformieren, transformieren sie auch die biblische Botschaft im Angesicht ihrer Gefühle und Wünsche. Die kulturelle Rebellion gegen Normen ist somit eng mit einer Rebellion gegen traditionelle Schriftauslegungen verbunden. Eben dafür ist die Beziehung zwischen Jonathan und David ein gutes Beispiel.
Natürlich ist es kein neues Phänomen, dass Menschen die Bibel gebrauchen, um ihre Weltsicht zu legitimieren. Neu ist der Umstand, dass persönliche und individuelle Auffassungen in der Bibelauslegung normativ geworden sind. Was eine Einzelperson denkt und fühlt, bestimmt mehr und mehr, wie diese Einzelperson die Bibel liest. Die Konsequenz daraus ist eine Abwertung traditioneller Schriftauslegung.
Das wirft natürlich Fragen auf. Als Christen greifen wir instinktiv zur Bibel, um die kulturellen Phänomene unserer Zeit zu bewerten. Aber in unserer Ära des modernen Selbst mit seiner Fülle von ständig wachsenden Auslegungsvorschlägen wird es immer schwieriger, überhaupt zu bestimmen, was die Bibel eigentlich sagt.
Die Wahrheit ist, dass die Bibel nicht davon ausgenommen ist, dass gegenwärtig alle kulturellen Institutionen infrage gestellt werden. Gleichzeitig sind wir selbst, egal welchem theologischen oder politischen Spektrum wir angehören, ebenfalls nicht gegen das Problem des modernen expressiven Individualismus gefeit. Wie können wir also zuverlässiges Wissen darüber erlangen, was die Bibel sagt?
Interpretative Tugenden in der Bibelauslegung
Um zu einer zuverlässigen Auslegung der Bibel in der Ära des modernen Selbst zu gelangen, sind interpretative Tugenden entscheidend. Wir müssen die Schrift mit Liebe, Demut und Sorgfalt lesen.
Liebe
Die Bibel mit Liebe zu lesen ist unabdingbar. Die moralische Verpflichtung, Gott zu lieben, geht der intellektuellen Verpflichtung voraus, die Schrift sorgfältig auszulegen. Liebe ist in diesen sonderbaren Zeiten schlicht eine ethische Voraussetzung für die Bibellese. Erst wenn wir Gott mehr als uns selbst lieben, sind wir auch bereit, unsere Wünsche und Gefühle im Prozess der Schriftauslegung abzugeben. Wenn wir uns allerdings selbst in den Mittelpunkt stellen, dann ist es auch wenig überraschend, dass wir nur unsere eigenen Wünsche und Vorstellungen im Bibeltext finden.
Darüber hinaus zeigt Augustinus in seinem Werk über die christliche Lehre auf, dass die Liebe auch das Ziel der Bibelauslegung sein muss. Wir müssen die Schrift lesen, um Gott und unseren Nächsten besser lieben zu können. Er schreibt:
„Das Hauptziel all unserer Worte vom Beginn unserer Abhandlung an ist die Erkenntnis, daß die Fülle und die Aufgabe des Gesetzes die Liebe ist, und zwar die Liebe zu der zum Genuß bestimmten Sache und die Liebe zu der mit uns zum Genuß berufenen Sache“.[3]
Demut
Demut ist in der Schriftauslegung ebenfalls unerlässlich, weil wir uns dadurch eingestehen, dass auch wir Teil der modernen Welt sind. Auch unsere Bibelauslegung könnte unseren Gefühlen, Vorstellungen, und Hintergründen geschuldet sein. Da auch wir ein „modernes Selbst“ haben, stehen wir in der Verpflichtung, für die Korrektur und Einsichten anderer offen zu bleiben.
Nun meinen gerade Christen, dass sie ganz persönlich durch das Wirken des Heiligen Geistes eine Art Sonderzugang zur Wahrheit der Schrift haben. Dabei sollte allerdings die von Luther getroffene Unterscheidung zwischen der „äußeren“ und der „inneren Klarheit der Schrift“ bedacht werden. Armin Buchholz stellt diese in seiner Doktorarbeit „Schrift Gottes im Lehrstreit“ auf hilfreiche Weise dar:[4]
Die äußere Klarheit der Schrift bedeutet, dass die Bibel verständlich ist, weil sie Gottes Worte in gewöhnlicher menschlicher Sprache vermittelt. Gott spricht in der Bibel keine himmlischen Sprachen, sondern menschliche Sprachen wie Griechisch, Hebräisch, oder Aramäisch. Die innere Klarheit der Schrift bezieht sich dagegen auf das Wirken des Heiligen Geistes, der es uns ermöglicht, das zu glauben, was wir in der Schrift gelesen und verstanden haben, weil sie eben zunächst äußerlich klar ist.
Diese Lehre Luthers ist wichtig, denn sie zeigt auf, dass die Bibel kein mythisches Buch ist, das seinen Inhalt auf eine spiritualistische Weise allein an Eingeweihte vermittelt. Die Bedeutung des biblischen Textes liegt daher nicht hinter, unter oder über dem Wortlaut der Schrift, sondern darin. Sie kann durch das Studium des menschlichen Sprachgebrauchs in der Bibel und der damit verbundenen Konzepte und Kommunikationshintergründe erschlossen werden.
Die Bibel ist sicher mehr als ein Buch. Aber sie ist eben auch nicht weniger. Während es eine geistliche Notwendigkeit ist, ihrer Botschaft als Wort Gottes zu vertrauen, muss diese zunächst durch gründliches Studium der Schrift als literarisches Werk erschlossen werden. Das macht den Unterschied zwischen der äußeren und der inneren Klarheit der Schrift so bedeutsam.
„Die Bibel ist sicher mehr als ein Buch. Aber sie ist eben auch nicht weniger. Während es eine geistliche Notwendigkeit ist, ihrer Botschaft als Wort Gottes zu vertrauen, muss diese zunächst durch gründliches Studium der Schrift als literarisches Werk erschlossen werden.“
Paradoxerweise ist die Generalisierbarkeit der biblischen Botschaft gerade durch ihren bestimmten geschichtlichen Ort gegeben. Wäre die Bibel ein mythisches Buch, das auf über-natürliche und über-sprachliche Weise zu den Gläubigen spräche, dann wäre christliche Einheit unmöglich. Jeder hätte seine persönliche Sicht auf Gott und die Welt. Gott hat sich aber zu einem speziellen Zeitpunkt, in einer speziellen Sprache, und unter den speziellen weltbildlichen Voraussetzungen eines bestimmten Kulturkreises offenbart (Israel im Altertum). Gerade deshalb kann die biblische Botschaft durch ein gründliches Studium des Bibeltextes sachlich erschlossen werden. Weil die Bibel ein geschichtlicher Gegenstand ist, ist es auch möglich, anhand eines Maßstabs (nämlich des realen menschlichen Sprachgebrauchs in ihr) Argumente und Gegenargumente in der Schriftauslegung ins Feld zu führen. Aus diesem Grund können Christen gemeinsam erforschen, was das Wort Gottes wirklich sagt.
Dass die Schrift klar ist, bedeutet nicht, dass sie immer einfach zu verstehen ist. Es bedeutet, dass das, was Exegeten in den letzten 200 Jahren so maßlos problematisiert haben – nämlich die Tatsache, dass die Bibel Gottes Wort unter den sprachlichen Voraussetzungen des Altertums offenbart – weniger ein Hindernis als eine göttliche Gnade darstellt. Gott spricht auf verständliche, öffentliche und allgemeingültige Weise zu den Menschen. Deshalb gilt es, die Schrift auch in persönlicher Demut in der Gemeinschaft anderer auszulegen. Ja, die Bibel selbst spricht fast nie zu Individuen, sondern zur Bundesgemeinschaft des Volkes Gottes.
Sorgfalt
Diese Beobachtungen unterstreichen die Notwendigkeit einer sorgfältigen Schriftauslegung. Aber wie kann das in der Ära des modernen Selbst gelingen?
Auf der einen Seite ist der Einfluss der eigenen Gefühle und Wünsche auf die Bibelauslegung ernüchternd. Manche haben die Vorstellung, dass eine saubere exegetische Methode dieses Problem umschiffen würde. Dem ist (vor allem in der Ära des modernen Selbst) häufig allerdings leider nicht so. James Harding veröffentlichte 2015 ein Buch zur Auslegungsgeschichte der Geschichte von Jonathan und David, in dem er überzeugend feststellte, dass die Frage, ob die beiden Männer nun eine homosexuelle Beziehung hatten oder nicht, selbst unter akademisch arbeitenden Exegeten vor allem auf Grundlage der eigenen theologischen Überzeugungen beantwortet wurde.[5]
Die Vorstellung des 19. Jahrhunderts (nämlich dass wir die Fakten der Geschichte durch eine objektive Methode entschlüsseln könnten) hat das 20. Jahrhundert überzeugend infrage gestellt. Aber wie kann es dann gelingen, zu einer zuverlässigen Schriftauslegung zu kommen?
Der Ausgangspunkt für ein solches Unterfangen muss, wie bereits oben erwähnt, Liebe und Demut auf Seiten des Auslegers sein. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass unser Studium der Schrift nicht aus Gottes Perspektive heraus stattfindet: Wir haben keine objektive, umfassende Sicht auf die Welt, sondern legen die Bibel im Zusammenhang unseres eigenen Lebens und unter Einfluss unserer eigenen Gefühle und Wünsche aus.
Zuverlässige Schriftauslegung in der Ära des modernen Selbst beginnt also auch mit dieser Einsicht. Wir nähern uns der Bibel nicht als einer Sammlung von Fakten an, die wir losgelöst von unserer subjektiven Sicht auf die Welt ordnen könnten. Es ist vielmehr so, dass wir in der Schriftauslegung regelmäßig „Geschichten“ bauen, die uns und anderen das erklären sollen, was wir im Bibeltext vorzufinden meinen.
Dafür ist der Bericht von Jonathans Liebe zu David ein gutes Beispiel. Welche „Geschichte“ erzählen Ausleger auf der Grundlage dessen, was sie im Text sehen? Seit 1978 wird hier häufig die Geschichte einer homoerotischen Liebesbeziehung erzählt.
Sorgfältige Bibelauslegung bedeutet, solche „Geschichten“ (unsere eigenen oder die anderer Ausleger) anhand des Bibeltextes genauestens zu inspizieren und zu hinterfragen. Ergibt die „Geschichte“ wirklich Sinn? Ergibt sie mehr Sinn als andere „Geschichten“? Gerade hier wird wieder die Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen Bibelauslegung deutlich.
N.T. Wright (mit dem man sicher viele Meinungsunterschiede zu verschiedenen Themen haben kann) hat diese Herangehensweise (häufig „kritischer Realismus“ genannt) hilfreich für das Studium des Neuen Testamentes aufgearbeitet. Er schreibt:[6]
„Letztlich heißt es wie immer: Probieren geht über Studieren. Einen ‚neutralen‘ oder ‚objektiven‘ Beweis gibt es nicht; es gibt nur die Behauptung, dass die Story, die wir jetzt über die Welt als Ganze [Tafferner: oder einen bestimmten Bibeltext] erzählen, in der Grundanlage und im Detail mehr Sinn ergibt als andere potentielle oder tatsächliche Storys, die im Angebot sein könnten. Einfachheit der Grundanlage, Eleganz in der Behandlung der Details, Einbeziehung aller Teilabschnitte der Story, ...: dies sind die Elemente, die zählen.“
Wright schreibt im Original treffend: „The proof of the pudding is in the eating“ (dt. hier übersetzt mit „Probieren geht über Studieren“). Genau das gilt es im zweiten Teil dieses Aufsatzes zu tun: Wir müssen die „Geschichte“ einer homoerotischen Liebe zwischen David und Jonathan anhand des Bibeltextes inspizieren und „probieren“, ob diese Erzählung tatsächlich mehr Sinn ergibt als andere Auslegungsmöglichkeiten der relevanten Passagen.
1 Die Bibeltexte sind, wo nicht anders angegeben, eine Übersetzung des Autors.
2 Letzterer, viel beachteter Begriff findet sich bei Martti Nissinen, „Die Liebe von David und Jonatan als Frage der modernen Exegese“, Biblica 80, Nr. 2, 1999, S. 261.
3 Zitiert nach: Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften Bd. 8; Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 49, Kempten; München: F. Pustet, 1925, DCC 1.35.
4 Buchholz, Armin, Schrift Gottes im Lehrstreit: Luthers Schriftverständnis und Schriftauslegung in seinen drei großen Lehrstreitigkeiten der Jahre 1521–1528. Gießen: TVG Brunnen, 2007.
5 Harding, James, The Love of David and Jonathan: Ideology, Text, Reception, London: Routledge, 2015.
6 N.T. Wright, Das Neue Testament und das Volk Gottes, Marburg: Francke-Buch, 2011, S. 70f.