Warum wir Reformation brauchen

Artikel von Robin Dammer
30. Oktober 2024 — 13 Min Lesedauer

Am 31. Oktober feiern Protestanten den Reformationstag. Doch warum eigentlich? Was macht die Reformation zu einem Ereignis, das nach über 500 Jahren immer noch von Bedeutung ist? Der Schweizer Reformator Johannes Calvin war davon überzeugt, dass die Reformation kein Zufall oder Missgeschick, sondern eine dringliche Notwendigkeit war. In einem Schreiben an Kaiser Karl V. betont er: „Wir streiten ja doch nicht um des Kaisers Bart, … sondern um die Kernfragen des ganzen Christentums“ (S. 243)[1].

Calvin erkannte, dass die Kirche des 16. Jahrhunderts nicht nur mit Anfechtungen zu kämpfen hatte, sondern in einer Krise steckte, die tiefgreifende Reformen erforderlich machte. Aber welche Reformen genau waren damals notwendig, und warum haben diese bis heute Relevanz?

Warum Reformation damals notwendig war

Missstände in der Kirche

Die Notwendigkeit der Reformation erklärt sich durch einen Blick auf die Missstände, die die Christenheit des 16. Jahrhunderts kennzeichneten. Calvin sah, dass die Kirche von ihrem eigentlichen Auftrag abgekommen war. Die Anbetung Gottes und die Verkündigung des Evangeliums rückten in den Hintergrund, während andere Dinge ihre Stelle einnahmen.

Götzendienst und Traditionen: Der Gedanke vom Gottesdienst als Ort der Anbetung war beinahe völlig verschwunden. Die Heilige Schrift spielte nur noch eine untergeordnete Rolle, während liturgische Zeremonien und menschliche Traditionen überhandnahmen. Calvin zeugt: „Es haben sich da noch so viele kindliche Dummheiten angesammelt, gottlose Gebräuche, weltliches Wesen, lauter Dinge, die viel besser aufs Theater passen als zur Würde unserer Religion!“ (S. 176). Die Menschen verehrten Gott nicht mehr auf Grundlage der göttlichen Offenbarung, sondern auf Basis selbsterdachter Regeln und Riten.

Menschenkult und Abkehr von Christus: Die Verehrung von Heiligen hatte die zentrale Stellung von Christus als einzigem Mittler zwischen Gott und Mensch verdrängt. „Christus hat man seiner Stelle als einziger Mittler entkleidet und jeder wendet sich an seinen eigenen, erdichteten Patron, und wo Christus doch noch Erwähnung findet, da steckt er unscheinbar unter dem großen Haufen“ (S. 175). Anstatt in Christus zu ruhen, wandten sich Gläubige an Heilige und ihre Reliquien in der Hoffnung, dadurch Gunst bei Gott zu finden.

Heillosigkeit und Ungewissheit: Der falsche Fokus auf den Menschen führte dazu, dass die Gnade Gottes immer unbedeutender und die eigenen Werke immer wichtiger wurden. „Wir tadeln es als Irrtum, wenn man die Menschen mehr auf ihre eigenen Werke als auf Christus schauen heißt“ (S. 180). Die Folge war eine ständige Unsicherheit, denn niemand konnte ohne Zweifel wissen, ob die erbrachten Werke wirklich genug waren, um Gottes Gnade zu erlangen.

Irreführung und Korruption: Calvin kritisierte den geistlichen und moralischen Zustand der Obrigkeit scharf. Bischöfe und Priester vernachlässigten ihre Pflichten, insbesondere die der Verkündigung des Evangeliums: „Unter hundert Bischöfen findet man kaum einen, der die Kanzel besteigt, um zu predigen“ (S. 187). Viele missbrauchten ihre Positionen, um Macht und Reichtum zu erlangen, während sie die Seelsorge und geistliche Führung vernachlässigten. Die moralische Verkommenheit des Klerus war allgemein bekannt. Calvin bezeugt: „Ihre Schande liegt offen vor aller Augen, ihre unersättliche Habsucht und Raffgier, ihre unerträgliche Tyrannei und Grausamkeit“ (S. 188).

Die Heilmittel der Reformation

Die Reformatoren schlugen radikale und umfassende Maßnahmen vor, um die Missstände in der Kirche anzugehen. Ihr Ziel war es, die Christenheit zurück zu den biblischen Grundlagen ihres Glaubens zu führen.

„Calvin forderte, dass die Verkündigung des Evangeliums wieder ins Zentrum des Gemeindelebens rückt.“
 

Im Herzen aller Diskussionen stand die Wiederentdeckung des Evangeliums. Calvin sagte über die Verbindung von Gottes Gnade und menschlicher Genugtuung: „Gute Werke verdienen die ewige Seligkeit, nicht weil sie durch Christi Verdienst aus Gnaden zur Gerechtigkeit angerechnet werden, sondern auf Grund gesetzlichen Anspruchs. Nicht durch freie Vergebung der Sünden, sondern durch sogenannte Genugtuung der Werke wird der Mensch mit Gott versöhnt, so oft er auch aus seiner Gnade fiel. Zu den Werken der Genugtuung tritt eine Unterstützung aus dem Verdienst Christi und der Heiligen, sofern sich nur der Sünder dieser Unterstützung würdig erweist. Mit solch gottloser Einbildung ist die Welt vor Luther verblendet gewesen, das steht fest“ (S. 181). Das bedeutet, dass nach der Reue (contritio) und der Beichte (confessio) der Schuld die Freisprechung (absolutio) nur unter der Bedingung von Werken der Genugtuung (satisfactio) wirksam wurde. Kurz gesagt: Gute Werke galten als Grundlage der Vergebung Christi und nicht als deren Folge. Dieser geistlichen Verirrung entgegneten die Reformatoren mit sola gratia (allein aus Gnade), sola fide (allein durch den Glauben) und solus Christus (allein durch Christus).

Verkündigung: Calvin forderte, dass die Verkündigung des Evangeliums wieder ins Zentrum des Gemeindelebens rückt. Unter den reformatorischen Gemeinden achtete man darauf, dass man „keine Kirche ohne ordnungsgemäße Predigt des Wortes Gottes“ findet (S. 223). Die Verkündigung sollte sich auf die biblischen Wahrheiten konzentrieren, insbesondere auf die Betonung der menschlichen Verlorenheit und der heilsamen Gnade Gottes in Christus. Dies war entscheidend, um die Menschen von ihrer geistlichen Armut und ihrer Abhängigkeit von Gott zu überzeugen. Dabei galt vor allem auch die Überzeugung, dass Gottes Wort verständlich gemacht werden muss, damit es seine Kraft entfalten kann. Ebenso wie Christus es selbst vorlebte: „Kraft, Wesen und Brauch der Taufe wird ja im Evangelium auch nicht mit unklaren Worten ausgedrückt, und beim Abendmahl brummelt Christus auch nicht über dem Brot in seinen Bart, sondern gibt den Jüngern klar und deutlich seine Verheißung und schließt daran den Befehl, es möge damit ein gemeinsames Bekenntnis der Gläubigen abgelegt werden“ (S. 184).

Heiligung: Die Reformation zielte nicht nur auf eine äußere, sondern primär auf eine persönliche, inwendige Veränderung ab. Es genügt nicht, Gott mit scheinfrommen Äußerlichkeiten wie der Ohrenbeichte abzuspeisen und sich dann einzubilden, „alles wunderschön erledigt zu haben – gerade als ob die ganze Wucht des Frommseins, der Verehrung Gottes in solchen Dingen beschlossen läge!“ Was es braucht, ist ein Leben in Heiligung und Selbstverleugnung, denn dies „ist das geistliche Opfer, das uns Gott vor allem empfiehlt: daß wir uns durch den Tod des alten Menschen zu einem neuen Menschen umgestalten lassen“ (S. 177).

Gottesdienst: Calvin betonte, dass Gottesdienste gemäß der biblischen Offenbarung gestaltet werden müssen. „Wir dürfen uns nicht etwas nach eigenem Gutdünken ausdenken, sondern müssen auf das schauen, was der vorschreibt, der allein Befehlsgewalt hat. Wollen wir also mit unserer Verehrung seinen Beifall finden, so müssen wir gewissenhaft sein Gesetz halten, das er uns überall so ernstlich einschärft“ (S. 172). Dies bezog sich sowohl auf die liturgischen Elemente als auch auf die grundsätzliche Herzenshaltung der Anbetung. Die Bibel sollte wieder die Richtschnur und das Maß aller Dinge im Gottesdienst sein, ganz gleich, was Menschen darüber denken.

Kirchenleitung: Calvin legte auch großen Wert auf die Integrität und Lehrfähigkeit der geistlichen Leiter. Wortzentrierte und gottesfürchtige Prediger waren seiner Meinung nach der Schlüssel zur Reformation. Aber sie sollten nicht nur in der Lage sein, die biblische Wahrheit zu lehren, sondern mussten sich auch selbst als Vorbilder im Glauben und in der Nachfolge erweisen. Seiner Meinung nach sollten Kirchen „die regelrechte, ernstliche Prüfung über Bildung und Lebensführung wieder einführen, die bei ihnen schon seit vielen Jahrhunderten außer Übung gekommen ist“ (S. 227). Andererseits mahnt er zur Bereitschaft, rigoros unter dem Klerus auszumisten: „Wer sein Amt missbraucht, verdient es zu verlieren“ (S. 226).

Warum Reformation heute notwendig ist

Die Missstände der Kirche heute

Die Probleme, die die Reformatoren vor 500 Jahren ansprachen, sind nicht verschwunden. Im Gegenteil nehmen wir ähnliche Tendenzen auch in der Gegenwart wahr. Das verdeutlicht, dass die Notwendigkeit einer Reformation nach wie vor gegeben ist.

Menschenzentrierte Gottesdienste: Auch in modernen Gemeinden kann die Verherrlichung Gottes aus dem Zentrum rücken. Der Gottesdienst wird dann viel mehr als Unterhaltungsprogramm inszeniert, um vordergründig Menschen anzuziehen. Man versucht, Programm und Inhalt an den Geschmack der Konsumenten anzupassen und bemüht sich, „politisch korrekt“ über Klima, Vielfalt und Flüchtlingskrise zu sprechen. Ob die Verkündigung aber auch „theologisch korrekt“ die Kernwahrheiten des christlichen Glaubens wiedergibt, ist dann weniger bedeutend. Gottesdienste werden lieber gemäß aktuellen Trends gestaltet, anstatt gemäß den zeitlosen Anordnungen Gottes. Aktivisten, Künstler und Politiker werden lieber thematisiert und gefeiert als der Gott, der alles geschaffen hat.

Verwässerung des Evangeliums: Auch wir stehen in Gefahr, die Botschaft des Evangeliums nur noch in homöopathischen Dosen zu verabreichen, um den Anforderungen der modernen Gesellschaft gerecht zu werden. Auf unliebsame Themen wie Sünde, Gericht und Gnadenbedürftigkeit verzichtet man, um bloß niemanden zu verärgern. Das Evangelium wird zu einer moralischen Botschaft reduziert, die mehr von Selbsthilfe als von Erlösung spricht.

Schlechte Leiterschaft: Das Thema geistliche Leiterschaft ist ebenfalls ein ernstes Problem. In manchen Gemeinden mangelt es an biblisch fundierten und lehrfähigen Hirten. Darüber hinaus offenbaren Skandale und Missbrauchsfälle, wie sie in den letzten Jahren auch in Freikirchen bekannt wurden, dass geistliche Integrität oft nur eine untergeordnete Rolle spielt. Wie es von der Gemeindeleitung vorgelebt wird, wird es dann auch schnell von der Gemeindebasis nachgeahmt.

Geistliche Unmündigkeit: Christen stehen auch heute in der Gefahr, nur oberflächlich im Glauben verwurzelt zu sein und nur geringe Kenntnis der biblischen Lehre zu haben. Diese geistliche Unmündigkeit macht sie anfällig für falsche Lehren und unbiblische Praktiken. Dies kann sich daran zeigen, dass die Erfahrung mit Gott oft völlig losgelöst vom Wort Gottes in subjektiven Empfindungen und Eindrücken gesucht wird.

Die Heilmittel der Reformation heute

Die Antworten, die Calvin und die anderen Reformatoren auf die Missstände ihrer Zeit fanden, sind auch für die Gegenwart von zentraler Bedeutung. Die zeitlosen Mittel der Reformation haben im 21. Jahrhundert die gleiche Kraft, die Kirche zu erneuern und auf festen Grund zu stellen, wenn wir bereit sind, ihnen zu vertrauen und sie anzuwenden.

Biblische Verkündigung als Priorität: Die klare und unverkürzte Verkündigung der biblischen Wahrheit muss auch heute wieder das Herzstück der Kirche werden. Calvin eckte bereits vor 500 Jahren kulturell mit seinen biblischen Prinzipien an. Widerstand und Kritik sollten uns nicht den Wind aus den Segeln nehmen, sondern im Gegenteil ermutigen. Zu allen Zeiten hat die Welt sich gegen die Verkündigung des Wortes Gottes gesträubt. Nicht umsonst weist Jesus darauf hin, dass die Propheten seit jeher verfolgt wurden (vgl. Mt 5,12), und doch war es ihre Botschaft, die die Welt verändert hat – nicht die der falschen Propheten, die sich ihrem jeweiligen Zeitgeist gefügt haben.

Gottesdienst als ehrfurchtsvolle Anbetung: Ebenfalls müssen wir neu begreifen, dass es im Gottesdienst nicht nur unter anderem um Gott geht, sondern ausschließlich und in allem. Wenn wir ihn wirklich ehren wollen, dann muss unsere Anbetung in einer Weise geschehen, die seine Heiligkeit und Herrlichkeit widerspiegelt (vgl. Ps 96,9), und das bedeutet vor allem, sie muss gemäß seinem Wort geschehen (vgl. Joh 4,23–24). Wer kennt nicht die Situation, wie er voller Freude ein Weihnachtsgeschenk öffnet, nur um dann festzustellen, dass in dem Papier etwas gänzlich anderes eingewickelt ist als das, was man sich im Vorfeld klar gewünscht hat. Wie viel mehr muss es Gott stören, dem wirklich niemand vorwerfen kann, er habe sich nicht präzise genug in dem ausgedrückt, was ihm wichtig ist.

Leiter mit Integrität und Lehrfähigkeit: Geistliche Leiter müssen nicht nur kompetent, sondern auch moralisch und geistlich integer sein (vgl. 1Tim 3,1–7). Es ist an der Zeit, dass die Gemeinde darauf wieder mehr achtet. Es sollte nicht hinnehmbar für uns bleiben, wenn Pastoren sich in ihrer Ausbildung nicht ausreichend das hermeneutische Handwerkzeug angeeignet haben, um den Ratschluss Gottes recht auszulegen. Gott fordert von seinen Hirten, dass sie seine Gemeinde in Heiligkeit und Gottesfurcht anleiten (vgl. 1Petr 5,2–3) und sich in der Verkündigung befleißigen (vgl. 2Tim 2,15).

Biblische Erziehung und geistliche Reife: Eine der größten Herausforderungen der modernen Kirche ist die geistliche Unreife vieler Christen. Die Reformatoren legten großen Wert auf die Bildung der Gläubigen, damit diese in der Lage waren, ihren Glauben zu verteidigen und im Alltag zu leben. Auch das sollten wir für uns neu lernen. Jeder Christ wird dazu aufgefordert, zur vollen Reife und Mündigkeit heranzuwachsen (vgl. Eph 4,13–15). Wenn wir uns Jünger Jesu nennen, dann sollten wir eben jenen Eifer und die Lernbereitschaft an den Tag legen, die einen guten Schüler auszeichnen. Eine Gemeinde voller gestandener und reifer Christen kann weniger leicht in die Irre geführt werden als eine Herde blökender Schafe, die nicht wissen, wohin sie gehen sollen (vgl. Hebr 5,12–14).

Fazit

Calvin erkannte die Nöte seiner Zeit und wusste, dass sich daraus eine persönliche Verantwortung zum Handeln ableitet. Vor der gleichen Entscheidung stehen wir heute ebenfalls. Es reicht nicht aus, die Missstände zu erkennen – es ist an der Zeit, den Geist der Reformation in der Gegenwart neu zu entfachen, damit die Kirche auf festem Grund bestehen bleibt.

„Die Reformation war kein einmaliges Ereignis in der Geschichte, sondern beschreibt einen fortwährenden Ruf zur Erneuerung der Kirche und des individuellen geistlichen Lebens.“
 

Die Reformation war kein einmaliges Ereignis in der Geschichte, sondern beschreibt einen fortwährenden Ruf zur Erneuerung der Kirche und des individuellen geistlichen Lebens. Die Missstände, die Calvin und die anderen Reformatoren im 16. Jahrhundert anprangerten, sind zu jeder Zeit gegenwärtig. Sie mögen sich heute in einem anderen Gewand zeigen, aber im Kern geht es nach wie vor um den Kampf gegen menschenzentrierte Ansätze, gegen die Verwässerung des Evangeliums und für die Zentralität der Heiligen Schrift in Glauben und Leben.

Auch 500 Jahre nach dem Thesenanschlag in Wittenberg lehrt uns die Reformation, dass Veränderung nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist. Sie ermutigt uns, die Kirche auch im 21. Jahrhundert aufs Neue durch das Licht des Evangeliums zu erhellen und auf dem unerschütterlichen Fundament des Wortes Gottes zu erbauen, damit sie jedem Gegenwind, der auch kommen mag, standhalten kann. Möge dieser Geist uns antreiben, um in unserer Generation und darüber hinaus die Kirche Jesu Christi in ihrer Reinheit und Wahrheit zu bewahren und voranzubringen. Nur so kann die Kirche auch in Zukunft Salz und Licht der Erde sein – zur Ehre Gottes und zum Heil der Menschen.


1 Die Seitenangaben im Artikel beziehen sich alle auf Johannes Calvin, „Untertäniges Mahnschreiben an den unüberwindlichen Kaiser Karl den Fünften“ in: Um Gottes Ehre, S. 163–300, hrsg. v. Matthias Simon, München: Chr. Kaiser Verlag, 1924.