Sichtbare Gnade

Über den sanftmütigen Umgang mit Meinungsverschiedenheiten

Artikel von Caleb Batchelor
16. Oktober 2024 — 7 Min Lesedauer

Es gibt sehr herausfordernde Situationen. Ein Beispiel: Wie können wir eine erhebende „Gipfelbesteigung“ genießen, während Markus gleichzeitig laut schmatzend Kaugummi kaut und Verena ihre Videos auf TikGram oder InstaTok (oder wie das heißt) losplärren lässt? Es ist nicht einfach, darauf zu reagieren. Allerdings findet sich vielleicht eine Lösung, wenn wir drei Grundsätze beherzigen:

  1. Christen sollten zur Konfrontation bereit sein, aber keinen Streit suchen.
  2. Christen sollten eine stille Erweckung anstreben, aber keinen heiligen Krieg.
  3. Christen sollten der Fürbitte Jesu lauschen, anstatt in die Anklagen Satans einzustimmen.

Bereitschaft zur Konfrontation oder Streitlust?

Paulus hatte keine Angst, über Sünde zu sprechen. Frag nur die Korinther. Aber was erregte zuerst seine Aufmerksamkeit, als er an die wilde, aufgeblasene Gemeinde in Korinth dachte? Die sichtbare Gnade Gottes (vgl. 1Kor 1,4–9). Er war bereit zur Konfrontation, aber er suchte keinen Streit. Das ist ein Unterschied.

Es kommt auf deine Haltung an. Kannst du es kaum erwarten, in die neueste Kontroverse einzusteigen? Oder rühmst du lieber die Gnade Gottes und streitest nur dann mit anderen, wenn es wirklich nötig ist (vgl. Spr 15,18; 17,19)?

Judas gab der zweiten Haltung den Vorzug, indem er schrieb: „Geliebte, da es mir ein großes Anliegen ist, euch von dem gemeinsamen Heil zu schreiben, hielt ich es für notwendig, euch mit der Ermahnung zu schreiben, dass ihr für den Glauben kämpft, der den Heiligen ein für alle Mal überliefert worden ist“ (Jud 3).

Er wollte mit anderen Einheit im Glauben leben und Gottes Gnade in ihrem „gemeinsamen Heil“ feiern. Aber er musste denen entgegentreten, „welche die Gnade unseres Gottes in Zügellosigkeit verkehren und Gott, den einzigen Herrscher, und unseren Herrn Jesus Christus verleugnen“ (Jud 4).[1]

Wie Judas sollten wir nicht zuerst den Streit suchen – vor allem, wenn er nur der Unterhaltung dient.

Ich verachte alle, die an Gladiatorenspielen teilgenommen haben, um sich am Elend anderer zu ergötzen und an den Verletzungen eines Vaters im Kampf Vergnügen zu finden. Aber ich erinnere mich an einen Vortrag an einer Mittelschule, in dem der Redner unsere Faszination für das Leid anderer mit der antiken Anziehungskraft der Gladiatorenspiele verglich. Ich muss leider bekennen, wie oft ich über die Sünde eines anderen gelacht, mich über die Fehler eines Pastors lustig gemacht und über die fragwürdigen Praktiken einer Gemeinde gespottet habe. Wenn ich durch meinen Twitter-Feed scrolle, steige ich die Stufen eines modernen Kolosseums hinab, wo der moralische Ruin eines anderen mich amüsiert und die geistlichen Wunden eines Vaters, der gerade kämpft, mir Freude bereitet haben.

Wenn du heute gegenkulturell leben willst, dann lass dich nicht vom moralischen Versagen eines Pastors oder von einem dummen Streit faszinieren (vgl. 1Kor 13,6; 2Tim 2,23). Bete. Trauere. Bitte um Gnade. Konfrontiere, wenn nötig. Aber stille deine Neugierde nicht mit den Sünden anderer. Der Puritaner Richard Sibbes formulierte es zutreffend: „Man darf nicht zu neugierig die Schwächen anderer ergründen wollen. Wir sollten uns eher darum bemühen, zu sehen, was bei ihnen für die Ewigkeit taugt, und unser Herz dazu bringen, sie zu lieben, als auf jene Schwächen zu schauen, die der Geist Gottes mit der Zeit beseitigen wird.“[2]

„Bist du nicht froh, dass Jesus deine Sünde traurig macht, anstatt sich über sie zu amüsieren?“
 

Bist du nicht froh, dass Jesus deine Sünde traurig macht, anstatt sich über sie zu amüsieren? Ich bin dankbar, dass meine Schwächen sein warmes Mitgefühl hervorrufen und keinen witzigen Tweet.[3] Wünschst du dir nicht, für deine Brüder und Schwestern in Christus auch ein solches Herz zu haben? Wenn sie anderer Meinung sind als du, nimmst du sie dann an, „gleichwie auch Christus uns angenommen hat, zur Ehre Gottes“ (Röm 15,7; vgl. Röm 14,1–4)? Wenn sie den Speisesaal betreten und alle auf die andere Seite gehen, setzt du dich dann neben sie? Wenn sie keine Liebe verdienen, erweist du ihnen Gnade?

Da du den Geist Christi hast, neigst du dazu, dich so zu verhalten. Der Geist deines sanften und demütigen Erlösers wohnt in dir. Das Ergebnis ist Sanftmut.

Stille Erweckung oder Heiliger Krieg?

Betrachte einmal Galater 5,16–24, einen der bekanntesten Abschnitte über den Heiligen Geist. Worauf legt Paulus hier sein besonderes Augenmerk? Auf einen sanften Geist:

„Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach leerem Ruhm streben, einander nicht herausfordern noch einander beneiden! Brüder, wenn auch ein Mensch von einer Übertretung übereilt würde, so helft ihr, die ihr geistlich seid, einem solchen im Geist der Sanftmut wieder zurecht.“ (Gal 5,25–6,1)

Merkwürdig. Ist es nicht seltsam, wenn Paulus nach einer ausführlichen Erläuterung über den Heiligen Geist Provokationen verurteilt und zur Sanftmut ermutigt? Ich finde das eigenartig. Und dann lese ich Jonathan Edwards’ Bericht über die „Große Erweckung“. Eine der größten Erweckungen der Kirchengeschichte beschrieb er so:

„Nachdem das Wirken des Geistes Gottes angefangen hatte und er in so wunderbarer Weise ganz allgemein über der gesamten Stadt ausgegossen worden war, hatten die Leute ihre alten Streitigkeiten, Verleumdungen und die Einmischung in Angelegenheiten anderer Menschen schnell hinter sich gelassen.“[4]

Das klingt für mich sehr nach Galater 5,25–6,1. Und wie eine Reaktion auf den Geist Christi in Matthäus 11,28–29.

„Nein, wir dürfen nicht vom Evangelium abrücken, und ja, wir müssen für den Glauben kämpfen. Aber wir werden die Kraft des Geistes niemals ohne die Sanftmut des Geistes erfahren.“
 

Lieber Christ, einer der besten Beweise für das Wirken des Geistes in einer Gemeinde ist, wenn sie von einem Geist der Sanftmut geprägt ist. Nein, wir dürfen nicht vom Evangelium abrücken, und ja, wir müssen für den Glauben kämpfen (vgl. Gal 1,6–9; Jud 3). Aber wir werden die Kraft des Geistes niemals ohne die Sanftmut des Geistes erfahren (vgl. Gal 5,23; Eph 4,29–32). Wir müssen also überlegen, was uns wichtiger ist – ein „heiliger Krieg“ oder eine Erweckung? Wir müssen uns entscheiden, ob wir kämpferische, schrille Kreuzzügler oder mutige, sanfte Reformer sein wollen. Ich bete dafür, dass du das Letztere sein willst. Ich bete für eine Erweckung.

Der Klang der Fürbitten Jesu oder der Ton der Anklagen Satans

Klingen deine Worte bei Meinungsverschiedenheiten eher wie die Fürbitten Jesu oder wie die Anklagen Satans?

„Es ist niemals biblisch, sich gegenüber unbiblisch Denkenden teuflisch zu verhalten.“
 

Auch wenn ein Widerspruch deinen Standpunkt klar zum Ausdruck bringen kann, ist die Klarheit der Lehre keine Entschuldigung dafür, Menschen auf jene satanische Weise anzuklagen, für die Jesus gestorben ist (vgl. Offb 12,10). Es ist niemals biblisch, sich gegenüber unbiblisch Denkenden teuflisch zu verhalten. Wenn du also mit einer vermeintlich irrigen Einstellung konfrontiert wirst, dann hör auf Christus, der sein Blut auch für diesen Heiligen, der dahinter steht, gegeben hat. Lausch auf die Worte der Fürbitte Jesu und spiegle seine Haltung in deiner Kommunikation wider.

Ich frage mich, wie sich unsere Auseinandersetzungen verändern würden, wenn wir hören könnten, wie Christus im Nebenzimmer Fürsprache hält?[5] Wenn wir ihn flehen hören würden:

„Vater, vergib ihnen.
Sie wissen nicht, was sie tun.
Sieh auf meine Gerechtigkeit.
Sieh nicht auf ihre Ungerechtigkeit.

Wie würde sich unser Tonfall ändern? Wie würde sich unsere Wortwahl ändern? Mein Freund, lass die Fürbitte Christi für deinen Bruder oder deine Schwester deine Worte prägen, wenn du sie mit etwas konfrontierst.


1Gavin Ortlund, Finding the Right Hills to Die On, Minneapolis: The Gospel Coalition, 2020, S. 94.

2Richard Sibbes, Works, 1,57.

3Dane Ortlund, Gütig und sanft: Wie Sünder und Leidtragende das Herz Christi erfahren, Waldems, 3L, S. .

4Jonathan Edwards, zitiert in dem Buch von Iain Murray, Jonathan Edwards: Ein Lehrer der Gnade und die Große Erweckung, Bielefeld, CLV, 1. Aufl. 2011, S. 164.

5Die Vorstellung, Christus im Nebenzimmer beten zu hören, stammt von Robert Murray M’Cheyne: „Wenn ich Christus im Nebenzimmer für mich beten hören könnte, würde ich mich nicht vor einer Million Feinde fürchten“ (The Life and Remains, Letters, Lectures, and Poems of the Rev. Robert Murray M’Cheyne, London: Forgotten Books, 2018, S. 138).