Die Psalmen als Gesamtwerk behandeln

Artikel von Davy Ellison
10. Oktober 2024 — 5 Min Lesedauer

Seit den 1980er-Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler intensiv mit der Form der Psalmen. Mag die Betrachtung der Psalmen als Gesamtwerk bislang nicht ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen sein, so haben dennoch viele Pastoren und Prediger ihren Reichtum für sich entdeckt, wie etwa der bekannte Theologe und Autor James M. Hamilton. Auf den ersten Blick scheint es eine schwierige Aufgabe zu sein, die Psalmen als Gesamtwerk in Predigten zu behandeln, doch es ist in jedem Fall eine lohnenswerte. Vier Argumente sprechen dafür.

1. In den Psalmen wird deutlich, dass Gott die Geschichte der Menschheit in seiner Hand hält

Innerhalb der Bibel haben die Psalmen ein Alleinstellungsmerkmal, denn sie sind zwar – wie die anderen Bibelbücher auch – Gottes Wort an uns, aber sie beinhalten auch die Worte des Menschen an Gott. Dadurch erkennt der Leser: Gott lenkt die menschliche Geschichte. Denn wenn die Psalmisten dies nicht geglaubt hätten, hätten sie nicht zu ihm geschrien.

In der gesamten Geschichte Israels sorgt Gott für sein Volk, schützt und erhält es – ob es sich um die Anfänge des Königreichs oder das Volk Gottes im Exil handelt. Gott ist aktiv. Und so ist es auch heute. Königreiche erheben sich und Königreiche fallen, aber Gott ist in allem treu.

„Königreiche erheben sich und Königreiche fallen, aber Gott ist in allem treu.“
 

Während ich diese Zeilen schreibe, befinde ich mich in Irland, wo sich an der Südküste des Landes die Hafenstadt Cobh befindet: berühmt als letzter Halt der Titanic vor ihrer schicksalhaften Fahrt über den Atlantik. Die massive und imposante St.-Colman’s-Cathedral überragt dort die gesamte Stadt und ist von überall her sichtbar.

Ein gutes Bild dafür, wie Gott sich in den Psalmen als Gesamtwerk zeigt. Als strahlender Hauptdarsteller überragt er die menschliche Geschichte.

  1. Das erste Buch der Psalmen beschreibt, wie Gott David unermüdlich im Kampf gegen seine Feinde hilft (vgl. Ps 18,1–3).
  2. Das zweite Buch handelt davon, wie Gott das Volk vor seinen Feinden rettet (vgl. Ps 44,4–8).
  3. Das dritte Buch umfasst die Klage des Psalmisten infolge des Exils (vgl. Ps 77,1–2).
  4. Im vierten Buch entfacht Gott die Hoffnung neu (vgl. Ps 105,1–2).
  5. Zuletzt geht es im fünften Buch um den Lobpreis Gottes für seine großen Taten an seinem Volk (vgl. Ps 117,1–2).

Gott zeigt uns in den Psalmen, dass er uns Menschen in seiner Hand hält, auch wenn Feinde drohen. Welch ein Trost für uns, wenn wir uns den Schwierigkeiten des Lebens stellen müssen.

2. Die Psalmen umfassen die gesamte Vielfalt menschlicher Emotionen und Erlebnisse

Die Psalmen – in Gedichtform geschrieben – geben nicht nur die menschlichen Emotionen genau wieder. Vielmehr bilden sie die gesamte Bandbreite menschlicher Gefühle ab, wie Calvin und viele andere festgestellt haben. Um dies erfassen zu können, ist es allerdings nötig, die Psalmen in ihrer Gesamtheit zu betrachten.

Lesen wir etwa Psalm 148 am Sterbetag unseres Ehepartners, merken wir, dass da etwas nicht passt. Er versprüht zu viel Freude und wurde nicht für einen solchen Anlass geschrieben. Stellen wir uns weiter vor, dass sich unser Freund, für den wir so lange gebetet haben, endlich bekehrt. Am selben Tag lesen wir Psalm 88 und stellen fest: Er ist zu düster und passt somit nicht zu unseren Gefühlen.

Konzentrieren wir uns also auf einen einzigen Psalm, dann erfassen wir nicht die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrungen. Doch wenn wir die Psalmen als Gesamtwerk anschauen, dann merken wir, dass das passt. Sie bringen Gleichgewicht in unser Leben. Wenn wir verzweifelt sind, geben uns die Psalmen nicht nur eine Sprache, mit der wir unsere Gefühle ausdrücken können, sondern auch die Hoffnung, dass bessere Tage kommen werden. Wenn wir in Freude schwelgen, bieten die Psalmen nicht nur Loblieder, sondern mahnen uns auch, dass das Leben in dieser Welt nicht immer so sein wird.

„Wenn wir verzweifelt sind, geben uns die Psalmen nicht nur eine Sprache, mit der wir unsere Gefühle ausdrücken können, sondern auch die Hoffnung, dass bessere Tage kommen werden.“
 

Die Psalmen verkünden: Menschliche Erfahrungen und Gefühle sind weder einzigartig noch halten sie ewig. Stattdessen besteht das Leben hier auf der Erde aus Höhen und Tiefen.

3. Die Psalmen leiten uns an, nach einem neuen König aus dem Hause Davids zu suchen

Eine der treibenden Kräfte hinter den Psalmen ist die Hoffnung auf einen neuen König aus dem Hause Davids. Das Neue Testament macht deutlich, dass dieser neue König Jesus ist. Sowohl Jesus selbst als auch der Hebräerbrief beziehen den Psalm 110 auf ihn (vgl. Mk 12,35–37; Hebr 7,17.21).

Wenn also unser Ziel ist, dass die Menschen Jesus als den Allerhöchsten ansehen, müssen wir alle 150 Psalmen predigen. In ihrer Gesamtheit richten sie den Blick auf den Höchsten – unseren Gott. Oft wird Menschen, die noch keine Christen sind, empfohlen, zuerst eines der Evangelien zu lesen. Das ist ein guter Rat. Ich möchte jedoch die Psalmen hinzufügen. Der verheißene König, der in den Psalmen so deutlich zu sehen ist, ist gekommen und hat für uns den Sieg über Sünde und Tod errungen – sein Name ist Jesus.

4. Die Psalmen richten unseren Blick auf das kommende Reich Gottes

Die Welt, in der wir leben, ist noch nicht das Ende. Jesus wird wiederkommen. Und wenn er kommt, wird er diese Welt beenden und einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen.

Die Psalmen bereiten uns auf diese künftige Welt vor, indem sie eine Entwicklung beinhalten: Die Klage in den früheren Büchern der Psalmen verwandelt sich zunehmend in Lobgesang in den späteren Büchern. Insbesondere das fünfte Buch enthält sehr viel Lobpreis (vgl. Ps 111,1; 112,1; 113,1.9; 115,18; 116,19; 117,1.2; 135,1.3.21; 146,1.10; 147,1.12.20; 148,1.7.14; 149,1.9; 150,1.6). Diese Entwicklung ist wie ein Bild für die kommende Welt, in der es keinen Anlass zur Klage und stattdessen nur noch Anlass zum Lobpreis geben wird. Schmerz, Krankheit, Kummer und Sünde werden dann der Vergangenheit angehören. So wie wir unseren Reiseführer für Dublin, Paris, London oder New York in die Hand nehmen, bevor wir dorthin reisen, sollten wir auch die Psalmen in die Hand nehmen, bevor wir in Gottes zukünftiger Welt ankommen.