Das Studium des Neuen Testaments

Rezension von Tanja Bittner
26. September 2024 — 7 Min Lesedauer

Neu? Nein, eine echte Neuheit ist dieses Buch nicht. In erster Auflage erschien Das Studium des Neuen Testaments als zweibändiges Werk in den Jahren 1999 (Bd. 1) und 2000 (Bd. 2). Einige Zeit später (2006) wurde eine aktualisierte und revidierte Ausgabe veröffentlicht, dieses Mal in einem Band.

Doch auch das ist lange her. Seit Jahren war dieses Standardwerk der evangelikalen Exegese vergriffen und selbst antiquarisch nicht leicht zu bekommen – erst recht nicht die aktuellere Ausgabe. Daher ist es sehr erfreulich, dass sich der VGTG des Buches angenommen hat. Als Lizenzausgabe der letzten Version ist es nun – gewissermaßen zu seinem 25. Geburtstag – wieder problemlos im Handel erhältlich.

20 Kapitel, unterschiedliche Autoren

Wie der Titel schon erwarten lässt, handelt es sich um ein Lehrbuch, das Theologiestudenten mit den einzelnen Schritten bzw. mit wichtigen Aspekten der neutestamentlichen Exegese bekannt macht. Die Herausgeber, Heinz-Werner Neudorfer und Eckhard Schnabel, haben dafür elf weitere Theologen mit ins Boot genommen, die jeweils einzelne Kapitel beisteuern. Das Buch ist also nicht „aus einem Guss“, sondern ein Sammelband mit Beiträgen unterschiedlicher Autoren.

Im Eröffnungskapitel vermitteln die beiden Herausgeber einen Überblick über Die Interpretation des Neuen Testaments in Geschichte und Gegenwart. Dabei verweisen sie unter anderem auf die problematischen Denkvoraussetzungen der historisch-kritischen Exegese sowie deren Ergebnisse: „Die historische Kritik hat in vielen Haupt- und Nebenfragen eine Vielfalt einander widersprechender Ergebnisse hervorgebracht“ (S. 23). Diese Erkenntnis ist durchaus in der Fachwelt angekommen (vgl. bereits Albert Schweitzers Untersuchung der Leben-Jesu-Forschung), obwohl das historisch-kritische Vorgehen nach wie vor als unverzichtbar gilt. Vor diesem Hintergrund schwankt die Auslegung mittlerweile zwischen Ratlosigkeit und Experimentiergeist. Wo sich kaum mehr etwas mit Sicherheit sagen lässt, ist der Ausleger in seiner Subjektivität gefangen und die Bibel wird zu einem Buch ohne ermittelbare Botschaft.

Demgegenüber verfolgen die Herausgeber eine Hermeneutik, „die dem Charakter der Bibel gerecht wird, … die sich der (An-)Erkenntnis Gottes des Schöpfers, Richters und Erlösers beugt und den Offenbarungsanspruch der Bibel als Wort dieses Gottes anerkennt“ (S. 25). Das schließt gründliche grammatisch-historische Forschungsarbeit nicht aus, sondern ein, denn Gott hat uns sein Wort im Kontext einer realen historischen Situation und in konkreter literarischer Form gegeben.

Der Großteil der Kapitel (von insgesamt 20) widmet sich einzelnen Schritten der Exegese oder sonstigen relevanten Aspekten: Textkritik (G. Hörster); Textanalyse und Übersetzung anhand linguistischer Methodenschritte (H. v. Siebenthal); Historische Analyse in Bezug auf die jüdische Mitwelt (R. Deines) und die griechisch-römische Umwelt (V. Gäckle), von R. Riesner noch durch einen Ausflug in die Geographie, Archäologie, Epigraphik und Numismatik bereichert; Einleitungsfragen (A. Baum); usw.

Relevant, praktisch

Bemerkenswert ist, dass mehrere Kapitel zu Fragen enthalten sind, die ursprünglich im historisch-kritischen Kontext aufgeworfen wurden, wie die Literarische Analyse (H.-W. Neudorfer), die Form- und Gattungsanalyse (E. Schnabel) oder Die redaktionsgeschichtliche Methode (A. Baum). Meist wird die Entstehung der jeweiligen Methode kurz skizziert, auf problematische Prämissen und Zirkelschlüsse hingewiesen, aber auch überlegt, wie die Problemstellung aus der Perspektive eines bibeltreuen Schriftverständnisses fruchtbar gemacht werden kann: Die Einordnung der Apostelgeschichte in die Gattung der „historischen Monographie“ impliziert etwa einerseits, dass Lukas in Kap. 8 wahrheitsgetreu berichtet, dass er andererseits aber mit diesem Text keine Antwort auf die Lehrfrage geben will, „zu welchem Zeitpunkt im Bekehrungsprozess der Heilige Geist dem Glaubenden geschenkt wird“ (S. 325).

Abgerundet wird das Buch durch die Kapitel Abfassung einer schriftlichen Exegese (H.-W. Neudorfer) und Predigtvorbereitung und Verkündigung (G. Maier).

Differenziert, anspruchsvoll

Die Beiträge stammen jeweils von Autoren, deren Expertise in ebendiesem Bereich liegt. Daher zeichnen sie sich durch hohe Qualität und große Informationsdichte aus. Die Darstellung erfolgt differenziert, nicht simplifizierend, obwohl in diesem Rahmen (ca. 15–45 Seiten pro Kapitel) natürlich viele Aspekte nur angerissen werden können. Dem Leser wird bewusst, wie viel bedacht werden will, um zu einer fundierten Auslegung zu gelangen – und schon diese Erkenntnis ist ein nicht zu unterschätzender Gewinn (wobei allerdings nicht jeder erwähnte Aspekt von gleichem Gewicht für eine substantielle Exegese ist). Die Kapitel werden jeweils mit einigen Übungen beendet, die das Gelesene praktisch werden lassen. Der Untertitel des Buches (Eine Einführung …) ist also zutreffend.

Trotzdem würde ich das Buch nicht unbedingt als erste Lektüre für den blutigen Anfänger empfehlen, der eine Einführung sucht, um erste Gehversuche im Bereich der neutestamentlichen Exegese zu machen. Dafür ist es meines Erachtens zu anspruchsvoll und wird viele Studenten wohl eher verwirren oder entmutigen. Es ist aber über weite Strecken eine hervorragende zweite Lektüre, nachdem man sich anderweitig eine erste Orientierung verschafft hat.

Deutschsprachig, evangelikal

Zum akademischen Anspruch gesellen sich zwei weitere Faktoren, die Das Studium des Neuen Testaments zu einem (meines Wissens) einzigartigen Werk auf diesem Gebiet machen: der deutschsprachige Hintergrund in Kombination mit der Verortung im evangelikalen Raum. Das eine oder das andere ist leicht zu finden – eine Einführung in die Exegese aus der Hand hiesiger Theologen (allerdings historisch-kritisch) oder aber eine evangelikale Einführung (allerdings auf Englisch oder übersetzt). So wertvoll englische bzw. übersetzte Bücher sein können, herrscht hierzulande doch ein etwas anderes Klima in Bezug auf historisch-kritisches Denken – im Land seiner Wurzeln, mit einer nach wie vor übermächtig scheinenden Universitätstheologie. Insofern ist dieses Buch einfach noch ein wenig „näher dran“ an dem Kontext, in dem sich der durchschnittliche Pastor (d.h. unser Theologiestudent in einigen Jahren) und seine Gemeindeglieder (wie der Gymnasiast, bei dem der Reli-Unterricht Fragen aufgeworfen hat) befinden – und sei es nur wegen der zahlreichen deutschen Ressourcen.

Prinzipiell hilfreich erscheint mir in diesem Zusammenhang auch die oben erwähnte, (meist) differenzierte Herangehensweise an eigentlich historisch-kritische Domänen. Es mag sein, dass eine „Rotes Tuch“-Haltung in Bezug auf derartige Fragestellungen früher funktioniert hat („So was ist Bibelkritik, damit wollen wir nichts zu tun haben!“). Mittlerweile leben wir in einer Zeit, in der arglose Christen auf verschiedensten Wegen mit Erkenntnissen der „Bibelwissenschaft“ in Berührung kommen: Predigten im Internet, Werbung für „Dekonstruktion“ durch prominente Vorbilder, zunehmende Akzeptanz kritischer Methoden auch im evangelikalen Raum … dadurch werden sie verunsichert und brauchen echte Antworten. Im Rahmen der betreffenden Kapitel werden natürlich keine erschöpfenden Antworten gegeben und selbstverständlich sollte man auch nicht alles ungeprüft übernehmen, aber es finden sich oftmals hilfreiche Fingerzeige und Denkanstöße.

Schwächen, Stärken

Eine Ausnahme ist allerdings das Kapitel Rezeptionsästhetische Analyse (M. Mayordomo), in dem man vergeblich auf eine differenzierte Bewertung der dargelegten Herangehensweise wartet. Ich habe mich gefragt, ob man im Jahr 2000 (das Kapitel war bereits in Bd. 2 der ersten Ausgabe enthalten) die Tragweite dieses Ansatzes noch zu wenig überblickte (vgl. dazu die Anwendung in Form des Hermeneutischen Cruisings). Ein enthaltenes Wahrheitsmoment ist sicherlich, dass ich als Ausleger immer auch eine persönliche Färbung in einen Text hineintrage, die ich mir bewusst machen sollte. Etwas anderes ist aber die Aussage: „Texte haben nicht einen definitiven Sinn, sondern bergen in sich Sinnmöglichkeiten. Die für viele hermeneutischen [sic] Modelle grundlegende Prämisse einer absoluten Sinndeterminiertheit von Texten … wird aufgegeben“ (S. 418) – der Sinn entstehe in der Interaktion zwischen Leser und Text. Letztlich bedeutet das, dass Gott bestenfalls vage gesprochen hat; alles Weitere ist individuelle Deutung, wirft mich also auf mich selbst zurück – und auf solche Probleme müsste hingewiesen werden.

Eine Stärke des Buches ist die enorme Fülle an Literaturhinweisen, sowohl im Fließtext und in den Fußnoten als auch am Ende der einzelnen Kapitel. Da es sich um einen Nachdruck der Ausgabe von 2006 handelt, beschränken sich diese natürlich auf Literatur, die damals bereits erschienen war. Das hat aber immerhin den Vorteil, dass mittlerweile das eine oder andere Buch günstig antiquarisch zu bekommen sein dürfte. Da Exegese kein schnelllebiges Geschäft ist, sind diese Bücher nach wie vor nützlich – nur ist möglicherweise weitere Literatur dazugekommen.

Fazit

Es ist also insgesamt ein großer Gewinn, dass Das Studium des Neuen Testaments wieder zur Verfügung steht. Für manchen Theologiestudenten wird vielleicht ohnehin kein Weg daran vorbeiführen (Stichwort „Pflichtlektüre“). Für den einen oder anderen Pastor könnte das Buch neue Anregungen in die Routine bringen, auf die man die Exegese im Rahmen der wöchentlichen Predigtvorbereitung heruntergebrochen hat. Ebenso kann es natürlich auch für den interessierten Laien bereichernd sein, der bereit ist, sich auf das akademische Niveau einzulassen.

Buch

Heinz-Werner Neudorfer, Eckhard Schnabel (Hrsg.), Das Studium des Neuen Testaments: Eine Einführung in die Methoden der Exegese, Petzenkirchen: Verlag für Glaube, Theologie und Gemeinde (VGTG), 2024 (= Lizenzausgabe des 2006 bei SCM erschienenen Buches), 528 Seiten, 34,90 Euro.