Das Streben nach (welchem) Glück?

Artikel von Andrew Wilson
21. September 2024 — 12 Min Lesedauer

Stell dir zwei Personen an einem Sommerabend vor. Die eine sitzt im Garten und löst vor dem Sonnenuntergang noch ein Kreuzworträtsel, während hinter ihr die Enkelkinder auf der Terrasse spielen. Die zweite ist gerade mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug gesprungen und stürzt – die Aussicht genießend und vor Freude kreischend – in Richtung Erde. Welche Person erscheint dir glücklicher?

Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, was du unter Glück verstehst. Wenn du es mit Begriffen wie Spaß, Lachen, Euphorie, Ausgelassenheit, Überschwang und Nervenkitzel verbindest, dann scheint der Fallschirmspringer glücklicher zu sein. Wenn du unter Glück dagegen Zufriedenheit, Gelassenheit, Erfüllung, Frieden, Harmonie, Ruhe und Glückseligkeit verstehst, dann scheint dir die Kreuzworträtsel lösende Großmutter glücklicher.

Es geht nicht darum, dass Kreuzworträtsel glücklicher machen als Fallschirmsprünge (oder umgekehrt). Der Punkt ist, dass wir das Wort „Glück“ auf sehr unterschiedliche Weisen verwenden, die sich teilweise deutlich voneinander unterscheiden (und sogar unvereinbar sind). So sieht ein Leben, das Euphorie und Spannung nachjagt, anders aus als ein Leben, das auf Wohlbefinden und Zufriedenheit ausgerichtet ist. Wenn man es so sieht, geht es um den Unterschied zwischen einem Tom-Cruise-Film aus den 1980ern (Top Gun) und einem Tom-Hanks-Film aus den 1990ern (Forrest Gump).

Die Frage, nach welcher Art von Glück wir suchen, stellt sich uns ständig: in den täglichen Abwägungen zwischen Zeit und Geld; im Gewissenskampf eines gelangweilten verheirateten Mannes, dessen jüngere Kollegin Interesse an ihm zeigt; in den alltäglichen Fragen der Haushaltsplanung (investieren oder sparen, jetzt kaufen und später zahlen?); in der Entscheidung zwischen einem aufregenderen Job oder mehr Zeit mit den Kindern; in der Frage, wie viel Zeit wir vor dem Bildschirm verbringen. Wir alle stehen täglich vor ähnlichen Entscheidungen, so trivial sie auch erscheinen mögen: Soll ich bleiben oder gehen? Ist es Zeit zum Aufbauen oder Abreißen?

Glück gibt es in vielen Geschmacksrichtungen. Die hebräische Bibel kennt etwa 20 verschiedene Wörter für Glück, das griechische Neue Testament um die 15. Auch im Deutschen gibt es viele Wörter dafür. Zugegeben, viele von ihnen sind sich so ähnlich, dass sie kaum zu unterscheiden sind. Trotzdem haben unsere unterschiedlichen Glücksbegriffe alle auch markante Nuancen. Wir wissen zum Beispiel, dass es einen deutlichen Unterschied zwischen Glückseligkeit und einem Glückstreffer gibt; oder zwischen Freude und Vergnügen, auch wenn es uns schwerfällt, den Unterschied zu beschreiben.

Es kann also hilfreich sein, die einzelnen Begriffe in Wortgruppen zusammenzufassen, um so die von Menschen gemeinten wichtigsten „Geschmacksrichtungen“ oder „Schattierungen“ des Glücks zu identifizieren. Wenn wir uns auf diese Weise darüber klar werden, was wir eigentlich meinen, wenn wir über Glück sprechen, hilft uns das sowohl bei der Entscheidung, wonach wir (nicht) streben sollten, als auch bei unserem Nachdenken über Praktiken, Überzeugungen und Erfahrungen, die uns dabei helfen.

Sieben „Geschmacksrichtungen“ des Glücks

1. Das erlebte Glück

Erfahrenes oder erlebtes Glück wird oft mit Worten wie Freude, Entzücken, Vergnügen oder Genuss beschrieben. Für die meisten Leser ist das wahrscheinlich die Grundbedeutung des Wortes Glück.

Zugegeben, viele Christen werden darauf bestehen, dass Freude (tief, ernst, dauerhaft; im Englischen joy) scharf von Fröhlichkeit (leicht, trivial, flüchtig; im Englischen happiness) unterschieden werden sollte, aber das ist eine relativ neue – und meiner Meinung nach wenig hilfreiche – Unterscheidung. Biblisch gesehen ist sie nicht haltbar und auch der Vergleich mit anderen europäischen Sprachen untergräbt die Unterscheidung: Die Engländer sagen „Happy Birthday“, die Franzosen „joyeux anniversaire“, die Spanier „feliz cumpleaños“ und die Griechen verwenden „charoúmena genéthlia“ (chara ist das Wort für Freude im griechischen Neuen Testament).

Glück, Freude und Entzücken können austauschbar verwendet werden. Wenn man sich freut, ist man fröhlich bzw. glücklich. In der Sprache des Psalmisten bedeutet „Freude“, aus Gottes Hand „unendliches Glück“ zu empfangen (Ps 16,11 HFA). Es gibt also keinen Grund zu glauben, dass glücklich zu sein oberflächlich ist, oder dass wahre Freude so tief ist, dass sie gar nicht sichtbar ist. Ein Freund von mir hat es einmal so ausgedrückt: Wir wollen eine Freude, die unser Gesicht erreicht.

2. Das ausgedrückte Glück

Die zweite Geschmacksrichtung ist das, was passiert, wenn die erste Geschmacksrichtung zum Ausdruck kommt. Wenn Menschen ihre Freude, ihr Entzücken, ihr Vergnügen und ihr Glück zur Schau stellen, verwenden wir ausdrucksstarke Begriffe wie Heiterkeit, Jubel, Fröhlichkeit, Ausgelassenheit oder Jauchzen.

In diesem Sinne besteht der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Geschmacksrichtung zwischen dem Gefühl und dem Ausdruck jenes Gefühls: der Unterschied zwischen Traurigkeit und Klage, Wertschätzung und Lob. Das eine ist eine Emotion oder Erfahrung, das andere ihr hörbarer, sichtbarer und konkreter Ausdruck. Dieser folgt oft auf natürliche Weise aus der Erfahrung, aber nicht immer. Manchmal brauchen wir eine Ermutigung, um unseren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Deshalb fordert die hebräische Bibel die Menschen so regelmäßig dazu auf, zu feiern, fröhlich zu sein, zu jubeln, zu frohlocken und zu jauchzen (vgl. Ps 64,10; 68,4; 95,1; 96,12; 98,4; 100,2; 149,5; Pred 9,7). Lasst mich Freude und Jubel hören! Verwandelt euer Fasten in Feste! Freut euch vor eurem Gott!

3. Das ekstatische Glück

Die dritte Geschmacksrichtung haben wir bereits angesprochen – die intensive, berauschende und überwältigende (aber kurzzeitige) Flut von Endorphinen, die als Reaktion auf körperliche Reize auftritt und die wir mit Worten wie Erregung, Nervenkitzel, Hochgefühl, Euphorie, Ekstase und Rausch beschreiben könnten. Im Gegensatz zu den ersten beiden Geschmacksrichtungen, die eindeutig positiv sind, ist diese Geschmacksrichtung moralisch zweideutig.

„Bevor du dich auf die Suche nach Glück begibst, ist es eine gute Idee, dir klar zu machen, welche Art von Glück es wert ist, verfolgt zu werden.“
 

Euphorie kann das Resultat guter Dinge sein (körperliches Training, triumphale Erfolge, Sex in der Ehe), die zu guten Ergebnissen führen (Fitness, Fleiß, Intimität). Sie kann aber auch das Ergebnis schlechter Dinge (Suchtmittelmissbrauch, sexuelle Promiskuität, illegale Drogen) mit schädlichen Folgen sein (Abhängigkeit, zerbrochene Beziehungen, Kontrollverlust, Depression, finanzieller Ruin). Oder sie entspringt Dingen, die moralisch weder gut noch schlecht sind (Musikfestivals, Achterbahnen, Bungee-Jumping) und die man, ohne sie zu vergöttern, als Gaben empfangen kann.

4. Glück als Glücksfall

Die vierte und fünfte Geschmacksrichtung lässt sich am besten anhand eines Brüderpaares vorstellen, das uns in 1. Mose begegnet. Ihre Namen, Gad und Asser, spiegeln zwei weitere Auffassungen von Glück wider, die in den Jahren vor Christus wahrscheinlich die beiden vorherrschenden waren:

„Als nun Lea sah, dass sie aufgehört hatte zu gebären, nahm sie ihre Magd Silpa und gab sie Jakob zur Frau. Und Silpa, Leas Magd, gebar dem Jakob einen Sohn. Da sprach Lea: Ich habe Glück! Und sie gab ihm den Namen Gad. Danach gebar Silpa, Leas Magd, dem Jakob einen zweiten Sohn. Da sprach Lea: Wohl mir! Die Töchter werden mich glücklich preisen! Und sie gab ihm den Namen Asser.“ (1Mose 30,9–13)

Die vierte Geschmacksrichtung, verkörpert von Gad, bedeutet Glücksfall oder glücklicher Zufall. Ein modernes Äquivalent wäre der Name des ehemaligen nigerianischen Präsidenten Goodluck Jonathan oder Namen wie Felix und Felicity, die im Lateinischen entweder glücklich oder vom Glück begünstigt bedeuten. Im modernen Westen neigen wir natürlich dazu, zwischen „glücklich sein“ und „Glück haben“ einen Unterschied zu machen. Aber für viele Menschen in der Geschichte, insbesondere in der heidnischen Welt der Antike, waren diese beiden Erfahrungen nicht unterscheidbar.

Diese Sicht auf Glück steht hinter verschiedenen biblischen Namen – Gad (hebräisch), Felix (lateinisch), Tychikus und Eutychus (griechisch) – und tatsächlich auch hinter dem englischen Wort happiness. Hap bedeutete ursprünglich „Glück“ und perhaps „mit Glück“.

5. Glück als Gedeihen

Asser hingegen bedeutet glücklich im Sinne von blühen, gedeihen oder Wohlbefinden. Denk an die erste Zeile im Psalter: „Wohl [Asser] dem, der nicht wandelt nach dem Rat der Gottlosen“ (Ps 1,1). Und wie sieht es aus, wenn man asser ist? „Der ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht, und alles, was er tut, gerät wohl“ (Vers 3).

Das ist keine Beschreibung eines emotionalen Zustands oder einer Stimmung. Es ist eine ganzheitliche Beschreibung des Gedeihens im Leben als Ganzes: Gedeihen, Wohlstand, Wohlbefinden und Vitalität – das Leben so leben, wie es gelebt werden soll. Von den sieben Geschmacksrichtungen ist es diejenige, die Aristoteles’ berühmter Abhandlung über eudaimonia in der Nikomachischen Ethik am nächsten kommt.

6. Glück als Zufriedenheit

Die sechste Geschmacksrichtung des Glücks ist das Gefühl von Zufriedenheit, Gelassenheit, Glückseligkeit, des Friedens und der Ruhe, das du empfindest, wenn du alles hast, was du brauchst. Deine Wünsche sind erfüllt. Du sehnst dich nicht nach dem, was du nicht hast, sondern ruhst ruhig in dem, was du hast.

Auch hier liefert uns der Psalter ein schönes biblisches Bild:

„O HERR, mein Herz ist nicht hochmütig, und meine Augen sind nicht stolz; ich gehe nicht mit Dingen um, die mir zu groß und zu wunderbar sind. Nein, ich habe meine Seele beruhigt und gestillt; wie ein entwöhntes Kind bei seiner Mutter, wie ein entwöhntes Kind ist meine Seele still in mir.“ (Ps 131,1–2)

Wenn ein kleines Kind noch gestillt wird, verbringt es viel Zeit damit, zu jammern und zu weinen, bis es wieder gestillt wird, um genügend Nahrung zu bekommen. Wenn es jedoch entwöhnt wird und zu fester Nahrung übergeht, verringert sich sein Bedürfnis nach ständiger Nahrungsaufnahme. Es kann ruhig und zufrieden in den Armen seiner Mutter ruhen.

So fühlt es sich an, sagt David, wenn man aufhört, über die Dinge zu jammern, die einen überfordern, und einfach in den Armen Gottes zur Ruhe kommt. Der Apostel Paulus machte eine ähnliche Erfahrung: „[I]ch bin mit allem und jedem vertraut, sowohl satt zu sein als auch zu hungern, sowohl Überfluss zu haben als auch Mangel zu leiden“ (Phil 4,12).

7. Glück als Fülle

Wir können Glück als Fülle, Reichtum, Ganzheit, Sinnhaftigkeit und Erfüllung erleben. Dies ist die am schwierigsten zu beschreibende Geschmacksrichtung, weil es sich um etwas handelt, das wir in diesem Leben eher erahnen als erfahren – auch wenn diese Einblicke oft zu den bedeutungsvollsten Erlebnissen unseres Lebens gehören.

Vielleicht hast du schon Momente erlebt, in denen du das Gefühl hattest, etwas Höheres oder Tieferes als dich selbst zu berühren und in denen du dich selbst für kurze Zeit vergessen konntest und von etwas Jenseitigem eingeholt wurdest. Der Philosoph Charles Taylor beschreibt es als einen Ort, wo das Leben voller, reicher, tiefer, lohnender, bewundernswerter und mehr das ist, was es sein sollte – ob nun gekennzeichnet durch Integrität oder Großzügigkeit oder Hingabe oder Selbstvergessenheit.

Es lässt sich am besten durch Metaphern mit Flüssigkeit erklären: Eine Erfahrung des Überfließens, des Berstens, des Überschwappens, bei der wir so voll von etwas (oder jemandem) anderem sind, dass kein Platz mehr für unsere Kleinkariertheit und Selbstbezogenheit bleibt. Vielleicht ist es das, was der Apostel Paulus im Sinn hatte, als er darum bat, dass seine Freunde „erfüllt werde[n] bis zur ganzen Fülle Gottes“ (Eph 3,19).

Nicht jedes Glück ist gleich

Die sieben Geschmacksrichtungen des Glücks – nennen wir sie Freude, Heiterkeit, Ekstase, Glückstreffer, Gedeihen, Zufriedenheit und Fülle – sind offensichtlich miteinander verbunden. Es ergibt keinen Sinn, die Unterschiede zwischen ihnen überzubetonen, da sich viele von ihnen überschneiden und gleichzeitig in Erscheinung treten. Wenn wir jedoch besser verstehen, was wir beim Reden über Glück meinen, wird uns das am Ende dabei helfen, bessere Glücksucher zu werden.

Wenn wir eine Entscheidung treffen, fragen wir uns implizit, was uns glücklicher machen wird: Selbstentfaltung oder Unterordnung? Uneingeschränkte Individualität oder enge Gemeinschaft? Mehr Urlaub oder mehr Kinder? Die Wertschätzung vieler Fremder oder die Wertschätzung einiger weniger Freunde? Kurzfristige Erlebnisse oder langfristige Beziehungen? Ablenkung oder Transzendenz? (Biblische Beispiele gibt es viele: Ein Linsengericht oder ein Erstgeburtsrecht? Unabhängigkeit oder Rettung? Die Erkenntnis von Gut und Böse oder Leben?) Die Antwort ist, dass beide Optionen dich glücklich machen können, aber auf unterschiedliche Weise – und im Laufe der Zeit wirst du die zweite Option der ersten immer vorziehen.

Darüber hinaus gibt es, wie die Psychologin Jean Twenge kürzlich gezeigt hat, eine faszinierende Generationendimension. Als Teenager waren die individualistischen und freiheitsliebenden Millennials (1980–1994) glücklicher als ihre Altersgenossen der Generation X (1965–1979), die im gleichen Alter familiär, religiös und gemeinschaftlich stärker gebunden waren. Die jungen Millennials hatten mehr verfügbares Einkommen, mehr Möglichkeiten zum Reisen und mehr Freiheiten, um Erfahrungen zu machen, als jede Generation vor ihnen – und das gefiel ihnen gut. Doch mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter wurden die Millennials weniger glücklich als ihre Vorfahren, da die Vorzüge des Individualismus und der Freiheit von deren Schattenseiten – insbesondere Isolation, Verlust der Gemeinschaft, Einsamkeit und (oft) Depressionen – abgelöst wurden.

Eine faszinierende Folgerung aus dieser Untersuchung ist, dass Glück nicht gleich Glück ist. Auf lange Sicht schätzen wir die Geschmacksrichtungen fünf und sechs mehr als die Geschmacksrichtungen drei und vier – und am allermeisten die Geschmacksrichtung sieben. Und das ist wichtig zu wissen in einer Welt, in der wir ständig zwischen ihnen wählen müssen.

Bevor du dich auf die Suche nach Glück begibst, ist es eine gute Idee, dir klarzumachen, welche Art von Glück es wert ist, verfolgt zu werden.