Radikale Gastfreundschaft
1. Mai 2016, 5:15 Uhr, Durham, North Carolina
Eine Nachbarin schrieb mir eine SMS: „Was ist los bei Hank zu Hause? Warum hat die Polizei das Haus umstellt? Bist du in Ordnung?“ Doch mein Handy lag ausgeschaltet im anderen Zimmer, sodass mich die Nachricht nicht erreichte.
Ich hörte nur friedliche Schlafgeräusche von meinem Mann und meinen zwei jüngsten Kindern. Sogar die Hunde schliefen. Meine Bibel lag aufgeschlagen da, zusammen mit einer Ausgabe des Tabletalk-Magazins und meinem Notizbuch. Meine Kaffeetasse stand in Reichweite auf einem Untersetzer aus Baumwolle, den meine zehnjährige Tochter im Nähunterricht gemacht hatte. Kaspian, unsere riesige rotgetigerte Katze, lag ausgestreckt auf dem Tisch, zufrieden vor sich hindösend nach einer hastig vertilgten Dose Purina Gourmet Gold. Ich begann meine Stille Zeit an jenem Morgen, wie ich es die letzten 17 Jahre stets getan habe und wie Ken und Floy Smith es mir vorgelebt hatten: Ich betete, dass der Herr mir die Augen öffnen und mir wunderbare Dinge in seinem Wort zeigen würde.
An jenem Morgen hatte ich zunächst fünf Psalmen und ein Kapitel aus den Sprüchen gelesen und fing nun an zu beten. Normalerweise bete ich immer wieder zwischen Bibellesen und Notizenschreiben. Morgens bete ich in konzentrischen Kreisen. Ich beginne damit, dass ich für mich selbst bete. Ich bete, dass der Herr meine Liebe zu ihm vermehren möge, mich in Heiligkeit wachsen lässt und mir Mut gibt, Christus in Wort und Tat als lebendiger Brief zu verkündigen. Ich bete dafür, dass er mich zur Buße führt und mir den demütigen Geist und das Herz Christi gibt und den freundlichen Trost des Heiligen Geistes, damit ich eine hingegebenere und liebevollere Ehefrau, Mutter und Freundin sein kann. Dann bete ich für meine Familie, die Gemeinde, meine Nachbarn, mein Land, für Missionare im Ausland und Missionsgesellschaften. Ich danke dem Herrn dafür, dass er auferstanden ist, dass er für mich betet und dass er Menschen in mein Leben gestellt hat – angefangen mit den Smiths –, um mich zu ihm zu bringen und mich sicher in seiner Nähe zu halten. Ich danke Gott für den Bund, an dem ich teilhabe. Ich lasse mein Gebetsnotizbuch offen und blättere die Seiten durch, während ich die Namen durchbete.
An jenem Morgen endete meine Gebetszeit bei dem konzentrischen Kreis mit der Überschrift „Nachbarn“. Ich betete für meinen direkten Nachbarn, dessen Haus ich von meinem Schreibtisch aus sehen konnte. Ich habe schon immer eine besondere Verbundenheit zu gegenüber wohnenden Nachbarn empfunden. Renee, Julie, Eddie und nun Hank. Ich liebe es, aufzuwachen und den vertrauten Transporter an derselben Stelle geparkt zu sehen. Und während der Himmel allmählich hell wird, geben das Haus und die Menschen darin ihre Morgenroutinen preis (Licht an, Hunde raus, Zeitung hereinholen, ein freundliches Winken, vielleicht ein Kind, das über die Straße angerannt kommt, um eine Tupperdose oder einen Strauß roter Pfingstrosen vorbeizubringen). Seine Nachbarn zu lieben bringt Geborgenheit und Frieden.
„Seine Nachbarn zu lieben bringt Geborgenheit und Frieden.“
Ich saß also da und betete für meinen Nachbarn. Ein typischer Morgen. Abgesehen davon, dass auf meinem ausgeschalteten Handy im anderen Zimmer weiter SMS eingingen, die mich darauf aufmerksam machen wollten, dass im Haus auf der anderen Straßenseite etwas völlig aus dem Ruder lief. Im Haus des Mannes, für den ich gerade betete.
Unser Haus und das von Hank teilen sich eine Sackgasse, die dort endet, wo zwei Hektar Wald beginnen. Als Hanks Umzugswagen 2014 zum ersten Mal rückwärts in seine Einfahrt fuhr, war er noch ein selbsternannter Einsiedler. Er arbeitete in seinem Garten und hob Gräben aus – willkürliche und perfekt runde Löcher, die meine Kinder mit ihrer Plätzchenausstecher-Symmetrie entzückten, nebst den coolen schwarzen Schlangen, die Hank dabei aufstöberte und ihnen zeigte. Er hörte laute Musik. Gelegentlich erhielt er Handyanrufe, die ihn rasend vor Wut machten und dazu brachten, Obszönitäten herumzubrüllen. Er besaß einen 50 Kilo schweren Pitbull namens Tank, der ohne Halsband oder Hundemarke durch die Straßen lief. Jeder der Nachbarn kann sich daran erinnern, wie er sein Leben an sich vorüberziehen sah, als er Tank zum ersten Mal begegnete und dieser mit Volldampf auf ihn zusprang. Hank mähte seinen Rasen drei Monate lang nicht. Als die Stadt gegen ihn ein Bußgeld verhängte, weil er eine wilde Viehweide angelegt hatte, war kein normaler Rasenmäher mehr dazu in der Lage, die Verschönerungsaktion durchzuführen.
Ehrlich gesagt war Hank nicht gerade der Nachbar, um den wir gebeten hatten, als Eddie das Haus verkaufte und mit ihrer Familie nach Wisconsin zog. Aber wir vertrauten darauf, dass Hank der Nachbar war, den Gott für uns vorgesehen hatte. Wir wissen, dass gute Nachbarschaft das Herzstück des Evangeliums ist. Als Hank einzog, gaben wir ihm also unsere Kontaktdaten, stellten ihm unsere Hunde und Kinder vor und warteten auf eine Erwiderung.
„Wir vertrauten darauf, dass Hank der Nachbar war, den Gott für uns vorgesehen hatte.“
Stattdessen montierte er seine Türklingel ab, damit ihn niemand mehr stören konnte.
Wir beteten für Hank.
Vorsichtig wiesen wir andere Nachbarn zurecht, wenn in ihren Fragen oder ihrer Besorgnis angesichts seiner Zurückgezogenheit Misstrauen durchklang oder sie unfreundlich waren.
Ein Jahr lang war es so, als würden wir gegenüber von Boo Radley, der missverstandenen und geächteten Figur aus Wer die Nachtigall stört, wohnen.
Und dann lief eines Tages Tank weg und kam nicht mehr nach Hause. Aus einer Nacht wurden zwei und zwei Nächte wurden zu einer Woche. Die Krise, die durch einen verschwundenen Hund ausgelöst wurde – einen Hund, der zudem der engste Gefährte eines einsamen Mannes war – schweißte uns zusammen. Wir boten unsere Hilfe an und Hank nahm unsere ausgestreckte Hand an. Wir verschickten Tanks Steckbrief über den Nachbarschaftsverteiler und gewannen andere Nachbarn dafür, Hank zu helfen. Unsere zehnjährige Tochter weinte sich jede Nacht in den Schlaf, während sie für Tanks Rückkehr betete. Sie erzählte Mr. Hank von ihren Gebeten und von Gottes Treue.
Als Tank endlich gesund und wohlbehalten gefunden wurde, wurden wir Freunde. Wir begannen, gemeinsam mit unseren Hunden spazieren zu gehen. Bald darauf aßen wir zusammen, verbrachten Feiertage an unserem Tisch und teilten unser Leben. Wir erfuhren, dass Hank allein lebte und unter schweren klinischen Depressionen, einer posttraumatischen Belastungsstörung und ADHS litt und soziale Phobien hatte.
Hank liebte die Wälder genauso sehr wie die Kinder und ich. Als der Winter dem Frühling wich, führten wir Strichlisten über unsere brütenden Rotschulterbussarde, unsere quakenden Amerikanischen Erdkröten, unsere nach Süden ziehenden und zurückkehrenden Rotkehlchen, Eichelhäher, Spechte, Rötelgrundammern und unsere behäbigen Dosenschildkröten. Hank half uns, unsere toten Bäume zu fällen und das Holz zu stapeln. In seiner Garage hatte er immer irgendwelchen Schnickschnack, den man gebrauchen konnte: ein kleines Blinklicht, das man an eine Warnweste heften konnte, um im Dunkeln zu joggen, oder einen Haken, mit dem man Hundetüten an der Leine befestigen konnte.
Hank war unausgeglichen. Das lag an seiner Depression. Manchmal zog er sich wochenlang in sein Haus zurück. Wir schickten ihm SMS und boten Hilfe an, aber vergeblich. Es gab nur ein einziges Lebenszeichen: dass seine Mülltonne am richtigen Abend am Straßenrand stand.
Während Nachbarn Mitteilungen über bedrohliche Vorgänge rund um Hanks Haus an mein ausgeschaltetes Handy schickten, saß ich an meinem Tisch und betete für Hank.
Ich betete für Hanks Errettung.
Und da fielen sie mir auf: Kräftige Männer, geduckt, um die hintere Seite unseres Hauses herum verteilt. Sie trugen orange Hemden, auf denen „DEA“ – Drug Enforcement Agency (die amerikanische Drogenbehörde) – stand. In der ruhigen Morgendämmerung blitzten unnatürlich grelle Polizeilichter. Überall wurde gelbes Absperrband gespannt – „Spurensicherung“. Ich ließ meine Bibel bei Psalm 42 offen liegen und lief los, um Kent und die Kinder zu wecken. Ich griff nach meinem Handy und schaltete es ein. Die SMS ploppten auf: „Was ist los bei Hank zu Hause? Ich hab gehört, gegenüber von euch ist ein illegales Crystal-Meth-Labor!“
Was tut nun die konservative, bibelgläubige Familie von gegenüber in einer Krise solchen Ausmaßes? Was sollen wir darüber denken? Wie sollen wir damit leben?
Wir können uns im Haus verbarrikadieren und uns selbst und unsere Kinder daran erinnern, dass „schlechter Umgang gute Sitten verdirbt“ (siehe 1Kor 15,33). Wir können – wie die „guten“ Pharisäer, zu denen wir immer schnell werden – Gott dafür danken, dass wir nicht wie die „bösen“ Crystal-Meth-Süchtigen sind.
Wir können unser Zuhause mit unserer eigenen Version eines gelben Tatort-Bands absperren und dadurch die Botschaft senden, dass wir besser als solche sind, dass wir gute Entscheidungen treffen, dass wir uns niemals in solche Schwierigkeiten bringen würden.
Wir können uns mit Angst umgeben: Was, wenn das Crystal-Meth-Labor explodiert und das Kinderzimmer meiner Tochter (das Zimmer, das dem Labor am nächsten liegt) zerstört?
Wir können uns in Selbstkritik üben: Wie konnten wir diesen Crystal-Meth-Abhängigen in unser Herz und unser Zuhause lassen?
Doch das ist natürlich nicht das, wozu Jesus uns aufruft.
Nacheinander kamen Nachbarn in unseren Vorgarten, der zur ersten Reihe in einem sich entwickelnden Drama epischen Ausmaßes geworden war. Währenddessen machte ich Rührei, setzte eine große Kanne Kaffee auf, legte Bibeln aus und lud die Leute ins Haus ein. Wer außer bibelgläubigen Christen kann in einer solchen Tragödie einen erlösenden Sinn sehen? Wer kann in Gottes Verheißungen Hoffnung finden, wenn die realen, greifbaren Umstände aussichtslos scheinen? Wer sonst weiß außerdem, dass die Sünde, die mich selbst zugrunde richten wird, meine eigene und nicht die meines Nachbarn ist, egal, wie groß die Sünde meines Nachbarn auch erscheinen mag?
Und wohin sonst außer in ein christliches Zuhause sollten Nachbarn in Zeiten einer noch nie dagewesenen Krise gehen? Wo sonst ist es sicher, wo sonst kann man es wagen, verletzlich, verängstigt, verloren, hoffnungslos zu sein?
„Wohin sonst außer in ein christliches Zuhause sollten Nachbarn in Zeiten einer noch nie dagewesenen Krise gehen? Wo sonst ist es sicher, wo sonst kann man es wagen, verletzlich, verängstigt, verloren, hoffnungslos zu sein?“
Wie sonst sollen wir unseren Kindern beibringen, wie man den Glauben auf die Tatsachen des Lebens anwendet – ein Prozess, der keine der beiden Realitäten ausblendet, während er Jesus um Hoffnung, Hilfe, erlösenden Sinn und rettende Gnade anfleht? Was für ein Vermächtnis würden wir unseren Kindern hinterlassen, wenn wir jetzt die Rollläden herunterließen und uns mit Medienkonsum betäubten oder uns distanzierten Monologen darüber hingäben, dass wir immer schon gewusst hätten, dass er böse war, oder wie wir selbst immer gute Entscheidungen treffen können? Die Sache mit der Selbstbeschwichtigung durch Selbstbetrug ist die: Das nimmt uns keiner ab, außer uns selbst.
Auf meiner To-do-Liste für diesen Tag standen andere Dinge. Doch nichts davon war wichtiger als das, was ich gerade tat. Nachbarn hereinzuholen, die ganz außer sich waren. Für meinen Freund Hank zu beten.
Schnell und ganz natürlich wurde unser Haus zu einem ganztägigen Krisenstützpunkt.
Nachbarn – Kinder, Alte und alles dazwischen –, die nicht zur Schule oder zur Arbeit mussten, verbrachten den Tag bei uns.
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Dieser Buchauszug stammt aus dem Buch Offene Türen öffnen Herzen von Rosaria Butterfield (S. 18–23).
Das Buch kann auch direkt beim Verlag bestellt werden.