Herr, wie lange noch?
Der Schmerz der Kinderlosigkeit und was Ortsgemeinden tun können
Ich erinnere mich noch genau an den Moment. Nach einer ärztlichen Untersuchung lag uns die Bestätigung schwarz auf weiß vor: Die Wahrscheinlichkeit Eltern zu werden, fiel für uns schwindend gering aus. Damals brach eine Welt für uns zusammen. Wir hatten schon einige Zeit lang versucht, schwanger zu werden, hatten uns aber nicht viel Druck gemacht, weil wir noch verhältnismäßig jung waren. Doch Monat für Monat wuchs eine Befürchtung in uns heran, die durch jenen Arztbesuch zur furchtbaren Tatsache wurde.
Natürlich hatte man schon hier und da von Ehepaaren gehört, die lange kinderlos waren oder auch blieben. Häufig kam es aber nicht vor. Vielleicht wurde auch in Gemeinden einfach nicht darüber gesprochen. Und jetzt? Plötzlich gehörten auch wir zu diesen Ehepaaren.
Wir beschäftigten uns in den darauffolgenden Monaten und Jahren natürlich auch mit Möglichkeiten und (ethischen) Grenzen der Medizin, besuchten Kinderwunschkliniken und ließen uns beraten. Der psychische Druck und Stress wurde dadurch nicht geringer, denn fest stand immer: Solange wir uns entschieden, die Grenzen christlicher Ethik hinsichtlich der Reproduktionsmedizin eben nicht zu verschieben, würde die Wahrscheinlichkeit für eine Schwangerschaft weiterhin sehr gering ausfallen.
Fast automatisch ergaben sich daraus innere Kämpfe: Sollten wir Kompromisse eingehen, um unserem Traum von einem Kind näherzukommen? Glaub mir: Leidende Herzen sind unfassbar anfällig für Versuchung. Blutende Seelen können unglaublich schnell offen dafür sein, Grenzen zu verschieben, um zu bekommen, was man sich so sehr wünscht.
Was, wenn wir nie Eltern sein dürfen?
Zu diesem Ringen und den inneren Gewissenskonflikten kamen immer mehr Fragen und Ängste: Werden wir wirklich nie Mama und Papa sein? Werden wir im Alter allein sein? Wird einer von uns eines Tages ganz allein bleiben? Natürlich wusste ich, dass Gott für uns sorgen würde, aber real erlebter Schmerz kann dazu führen, dass zwischen Wissen und Empfinden ein Graben entsteht, der immer wieder ganz bewusst durch die Erinnerung an die Zusagen Gottes geschlossen werden muss.
„Real erlebter Schmerz kann dazu führen, dass zwischen Wissen und Empfinden ein Graben entsteht, der immer wieder ganz bewusst durch die Erinnerung an die Zusagen Gottes geschlossen werden muss.“
Mit den Jahren, die ins Land gingen, kam dann eine andere Frage immer häufiger auf: Warum gerade wir? Ja, mein Herz neigte sogar regelmäßig dazu, diese Frage zu einer Anklage Gott gegenüber zu machen. Das klang dann ungefähr so: „Ich setze mich schon seit Jahren für dein Reich ein. Ich investiere so viel Zeit in Menschen, um sie dir näherzubringen, und verzichte dafür auf vieles. Warum lässt du uns durch so ein Leid gehen? Warum müssen gerade wir mit diesem Mangel leben? Du weißt doch, wie sehr gerade meine Frau darunter leidet.“
Wenn ich meine auch vor Gott ausgesprochenen Gefühle damals reflektiere, merke ich, wie verschoben mein Denken Gott gegenüber war. Ich benutzte meinen Dienst als Pastor als Argument dafür, dass er mich doch zu segnen habe. Aus dem unverdienten Segen eines Kindes wurde ein Recht, das ich beanspruchen darf.
So war die Zeit des Wartens für uns als Ehepaar eine Zeit, in der unsere Herzen zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin- und hergerissen wurden. Manchmal waren wir voller Hoffnung, dass der Gott, der das Nichtseiende ruft, als sei es da, uns doch noch ein Kind schenkt. Dann saßen wir wieder weinend und verzweifelt auf dem Boden unseres Wohnzimmers.
Ich durfte in dieser Zeit lernen, dass Klage fester Bestandteil christlicher Frömmigkeit, ja Ausdruck echten Glaubens ist. Ich darf vor Gott weinen – über den Zustand und das Elend einer gefallenen Welt und auch über das Leid in meinem persönlichen Leben. Ja, ich darf es nicht nur – ich brauche das. Mein Herz braucht es, weil es sich in der Klage an den wendet, dessen Trost allein groß genug ist, um Wunden zu heilen und Schmerz zu lindern. Meine Seele braucht an Gott gerichtete Klage, weil sie dort entdecken und zu empfinden lernen darf, dass nichts im Himmel und auf der Erde (auch kein Kind) mir das Glück schenken kann, das er mir gibt (siehe z.B. Ps 73).
„Ich darf vor Gott weinen – über den Zustand und das Elend einer gefallenen Welt und auch über das Leid in meinem persönlichen Leben.“
Es waren vor allem die Psalmen, die uns in den Jahren des unerfüllten Kinderwunsches dabei halfen, sowohl bei Gott zur Ruhe zu kommen als auch unsere Herzen ehrlich zu reflektieren. Psalm 23 erinnerte uns daran, dass wir einen guten Hirten haben, der es immer gut mit uns meint. Psalm 73 zeigte uns, dass unser ultimatives Glück nicht an einem Kind hängt, sondern darin besteht, Gott nahe zu sein. Psalm 84 ließ uns sehen, dass Gott alles ist, was unser Herz wirklich zur Ruhe bringt. In einer unserer dunkelsten Phasen stießen wir als Ehepaar in unserem gemeinsamen Bibellesen auf Psalm 88. Ich hätte vor diesem Moment nie gedacht, dass ich den Schmerz, der in diesem Psalm zu Ausdruck kommt, jemals nachempfinden könnte. Aber jetzt konnte ich es. Gemeinsam brachten wir diese brennende Frage vor unseren Gott: „Herr, wie lange noch?“
Ich habe damals versucht, unseren Kampf zwischen Glaube und Zweifel, zwischen Hoffnung und Trauer mithilfe dieses Psalms in einem Lied zum Ausdruck zu bringen, das inzwischen von Gloria Kollektiv veröffentlicht wurde. In der Bridge dieses Liedes heißt es:
„Ich werde singen, bis mein Herz glaubt, was ich weiß;
Meine Hand erheben zu dem Gott, der bei mir bleibt.
Denn durchbohrte Hände sagen meiner Seele zu:
Mein Gott ist treu, mein Gott ist gut!“
Satans Strategie ist seit 1. Mose 3 dieselbe. Er setzt alles daran, in unseren Herzen Zweifel daran zu setzen, dass Gott wirklich gut ist. Diesen Glaubenskampf führen Christen, die durch Leid gehen. Diesen Glaubenskampf führen auch Ehepaare mit unerfülltem Kinderwunsch. Und sie brauchen für diesen Kampf ihre Gemeinde, weshalb ich uns dafür sensibilisieren möchte, was Gemeinden und Pastoren wissen sollten und tun können.
Was Gemeinden und Pastoren wissen müssen
Kinderlosigkeit ist ein großer Schmerz. Gerade in der Gemeinde, wo (zu Recht) viel über Ehe, Familie und Kindererziehung geredet wird, kann es für kinderlose Ehepaare sehr herausfordernd werden. Die freudige Verkündigung jeder neuen Schwangerschaft, die Einladung zur nächsten Babyparty, die Ankündigung des nächsten Familienfestes – die Liste könnte noch weitergeführt werden. All das sind Ereignisse, die zum Gemeindeleben wie selbstverständlich dazugehören. Für Ehepaare mit unerfülltem Kinderwunsch sind sie die regelmäßige schmerzhafte Erinnerung daran, dass sie etwas nicht haben.
Will ich damit sagen, dass Ortsgemeinden aufhören sollten, im Gottesdienst für Geburten von Kindern zu danken? Auf keinen Fall. Ich will uns aber sensibilisieren für die Ehepaare, die darunter leiden, kinderlos zu sein und die in der Angst und mit dem Schmerz leben, dass niemals das Babyfoto ihres Kindes auf dem Beamerbild im Gottesdienst erscheint. Das bringt mich zu meinem nächsten Punkt.
Ehepaare mit unerfülltem Kinderwunsch brauchen Gebet. Sie stehen immer wieder in der Gefahr, zu verzweifeln und sich maßgeblich über das zu definieren, was sie nicht haben. Satan setzt alles daran, den unerfüllten Kinderwunsch zu nutzen, um Ehepaare in Krisen und Konflikte zu stürzen und sie zu ethischen Kompromissen zu bewegen. Sie brauchen also umso mehr das Gebet ihrer Ortsgemeinde und manchmal auch das Ohr von echten Freunden, die mit ihnen beten und weinen.
Kinderlose Ehepaare sind mehr als ihre Kinderlosigkeit. Ich könnte es auch anders ausdrücken: Kinderlose Ehepaare sind „ganze“ Ehepaare. Sie sind keine Ehepaare „zweiter Klasse“, weil ihnen die Kinder fehlen. Ich halte so ein Denken für äußerst gefährlich, weil es suggeriert, dass erst ein kleiner Mensch dafür sorgt, dass ich meine von Gott gegebene Bestimmung als Ehepaar leben kann. Genauso dürften wir als Christen auch nicht behaupten, dass erst die Heirat einen Mann zum Mann oder eine Frau zur Frau macht. Auch Christen und Ortsgemeinden können ungewollt kinderlosen Ehepaaren das Gefühl geben, nicht „ganz“ oder (noch schlimmer) „falsch“ zu sein.
Ehepaare mit unerfülltem Kinderwunsch haben eine Berufung. Ich will den Schmerz, den wir in den Jahren der Kinderlosigkeit erlebt haben, nicht kleinreden. Aber ich bin mir absolut sicher, dass die Jahre des Wartens nicht sinnlos waren. Durch die Erfahrung dieses konkreten Schmerzes konnten wir als Ehepaar lernen, noch viel mehr mit leidenden Kindern Gottes mitzufühlen. Das war auch für meinen Pastorendienst unglaublich wichtig. Dazu kam, dass ich in dieser Zeit noch mehr nachempfinden konnte, was Paulus meint, wenn er in seinen Briefen von „geistlichen Kindern“ spricht. Ich hatte (zumindest gefühlt) viel mehr Zeit, mich in Jüngerschaftsbeziehungen zu investieren und junge Männer intensiv zu begleiten. Zu erleben, wie junge und alte Menschen im Glauben wachsen und Jesus immer mehr lieben, ist ein gewaltiger Segen (vgl. Jes 54,1).
Pastoren müssen den unerfüllten Kinderwunsch zum Thema machen. Warum? Weil die Bibel regelmäßig darüber spricht, weil Kinderlosigkeit eine schmerzvolle Erfahrung von Kindern Gottes ist, in die das Evangelium hineinspricht, und weil auch in Deutschland Infertilität kein Einzelfall ist. Lieber Pastor, bitte schweig nicht!
Erhörtes Gebet
Vier Monate nachdem wir mit den Worten aus Psalm 88 klagend vor Gott getreten waren, passierte das Unfassbare: Christina war schwanger. Unsere Tochter ist vor Kurzem ein Jahr alt geworden und hat unseren Alltag ordentlich auf den Kopf gestellt. Wir sind Gott unfassbar dankbar für dieses unverdiente Geschenk.
„Ich möchte euch ermutigen, mit eurem Schmerz regelmäßig vor den Thron der Gnade zu laufen, wo unser Hohepriester auf uns wartet, der echtes Mitgefühl für uns hat und uns über alles Erwarten hinweg Trost und Heilung schenken kann.“
Dennoch ist mir bewusst, dass einige Paare, die diese Zeilen lesen, niemals das Glück eines Kindes erleben werden, dass ihr Wunsch ein Leben lang unerfüllt bleiben wird. Mit diesem Schmerz leben zu müssen, ist unglaublich hart. Wir mussten ihn fast zehn Jahre lang ertragen.
Ich möchte euch ermutigen, mit eurem Schmerz regelmäßig vor den Thron der Gnade zu laufen, wo unser Hohepriester auf uns wartet, der echtes Mitgefühl für uns hat und uns über alles Erwarten hinweg Trost und Heilung schenken kann. Dort – zu seinen Füßen – kommt unser aufgeriebenes und zweifelndes Herz zur Ruhe. Dort begreife ich, dass es das größte Geschenk ist, ein Kind des lebendigen Gottes zu sein.
Die Jahre der Kinderlosigkeit waren schmerzvoll. Aber wir sind uns sicher: Sie waren nicht vergeblich, nicht sinnlos. Wir wurden getragen und geformt von liebevollen Händen, die keinen Fehler machen.