Das Außergewöhnliche am „Gewöhnlichen“ im Glaubensleben
Ist das kein Widerspruch? Entweder ist etwas „gewöhnlich“ oder es ist „außergewöhnlich“. Beides schließt sich doch gegenseitig aus, oder etwa nicht?
In vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens beobachte ich den Trend, das Besondere, Außergewöhnliche, Abenteuerliche und Spektakuläre aktiv zu suchen. Zur Nachfrage gibt es auch die entsprechenden Angebote: „Lass deinen Urlaub zum Luxusurlaub der Extraklasse werden!“; Schwimmbäder sind jetzt „Erlebnisbäder“ und der Spielplatz ein „Abenteuer-Spielplatz“; der Waldlauf wird zur „Fitness-Challenge“, die Autofahrt zum „Echtzeit-3D-Erlebnis im Fahrzeug-Cockpit“ und die „Erlebnisgastronomie“ macht den Restaurantbesuch zu einem „unvergesslichen Event“. So manche kreative Idee bringt uns zum Schmunzeln.
Langeweile im Glaubensleben
Ein vergleichbares Phänomen gibt es auch im Glaubensleben von Christen – die „Sehnsucht nach mehr“, nach mehr außergewöhnlichen und übernatürlichen Erfahrungen. Das kann ganz unterschiedliche Gründe haben: Vielleicht prägen uns Gesellschaft und Trends mehr, als wir denken. Vielleicht empfinden wir die wiederkehrenden geistlichen Übungen wie Gebet, Bibellesen und den Besuch der Gemeinde als langweilige Routine und sind diesbezüglich undankbar geworden. Vielleicht sind wir auch mit falschen Vorstellungen und Erwartungen in die Nachfolge Jesu gestartet.
Könnte es jedoch sein, dass wir so manches als „normal“ oder „gewöhnlich“ empfinden, was in Wirklichkeit außergewöhnlich und keineswegs selbstverständlich ist?
Ich habe nicht den Anspruch, in diesem Artikel alle möglichen Gründe vollständig zu durchleuchten. Es wäre jedoch sehr schade, wenn Langeweile, Unzufriedenheit, unerfüllte Sehnsüchte oder das ständige Empfinden eines Mangels unser Glaubensleben bestimmen. Vielleicht können die folgenden Überlegungen eine Hilfe sein, neu über unser Glaubensleben nachzudenken und (wieder) mehr Dankbarkeit, Zufriedenheit und Freude zu gewinnen.
Auf zwei Seiten vom Pferd fallen
Wie bei vielen anderen Themen kann man auch hier „auf zwei Seiten vom Pferd fallen“: Auf der einen Seite zum Beispiel durch große Versprechungen folgender Art: „Wenn du dich bekehrst, wirst du viele übernatürliche Dinge und Wunder erleben wie Heilungen, Befreiungen, Prophetie, Visionen und vieles mehr! Gott wird deine Probleme lösen und viel Spektakuläres tun! Strecke dich danach aus und bitte Gott, deinen Glauben durch Wundererfahrungen zu entfachen.“[1] Ich erinnere mich an einen lieben Bruder, der fast nur noch über außergewöhnliche Erlebnisse und Wunder redete. Er jagte solchen Erfahrungen regelrecht nach und wurde dabei immer kreativer, um ihnen nachzuhelfen – zum Beispiel, indem er bei einer anstehenden Zugreise bewusst sein (vorhandenes) Geld zu Hause ließ, um zu erleben, wie Gott auf übernatürliche Weise hilft und eingreift.
Auf der anderen Seite vom Pferd fallen wir, wenn wir Gott wenig zutrauen und keine Wunder mehr von ihm erwarten. Wenn wir in ihm nur den passiven Beobachter sehen, der nicht mehr eingreift. Wir sichern uns ständig nach allen Seiten ab, wagen keine Glaubensschritte mehr, werden träge und passiv. Das biblische Zeugnis von der Allmacht Gottes, seinen unbegrenzten Möglichkeiten, seinem Erhören von Gebet und souveränen Eingreifen ins Weltgeschehen bleiben dann maximal noch theoretisches Wissen, aber ohne praktische Auswirkung in unserem Leben. Dabei tut Gott selbstverständlich auch heute noch Wunder, handelt außergewöhnlich, schenkt uns Highlights im Glaubensalltag sowie besondere Zeiten der Begegnung mit ihm.
Problematisch wird es jedoch dann, wenn wir unser Glück und unsere Zufriedenheit sowie unser Vertrauen in Gottes Gegenwart, Führen und Handeln in unserem Leben von übernatürlichen Erlebnissen und Highlights abhängig machen. Wenn uns das vermeintlich „Normale“ zu wenig ist und wir den Blick verlieren für den großen Reichtum, die Fülle und Wunder, die er uns bereits geschenkt hat und täglich schenkt.
Das Erlebnis von Petrus
Eine interessante Stelle in der Bibel ist der Rückblick von Petrus auf die außergewöhnliche Gotteserfahrung, die er auf einem hohen Berg machen durfte, als Mose und Elia erschienen und sich mit Jesus unterhielten (vgl. 2Petr 1,16 ff.; Mt 17,1–8). Ein echtes Highlight für Petrus. Doch er sagt nicht: „Strebt auch nach solchen Erfahrungen“, sondern er sagt (2Petr 1,19): „Und so halten wir nun fest an dem völlig gewissen prophetischen Wort, und ihr tut gut daran, darauf zu achten …“ Petrus erklärt, dass sein Erlebnis mit Gott auf dem Berg in erster Linie sein Vertrauen in die biblischen Berichte verstärkt hat! Gottes Wort ist ein noch verlässlicherer Prüfstein als solche übernatürlichen Erfahrungen.
„Petrus erklärt, dass sein Erlebnis mit Gott auf dem Berg in erster Linie sein Vertrauen in die biblischen Berichte verstärkt hat.“
Das hat mich neu ermutigt, vor allem in die tägliche und beständige „Stille Zeit“ zu investieren. Ja, sie ist eine „Gewohnheit“ und „gewöhnlich“ für einen Christen. Und ja, es gibt auch Texte und Tage, wo es nicht „spektakulär“ zugeht. Aber diese Routine hat etwas grundsätzlich Gutes. „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes ganz zubereitet sei, zu jedem guten Werk völlig ausgerüstet“ (2Tim 3,16). Gottes Wort ist das Rüstzeug für gute Werke (vgl. Vers 17); es ist lebendig, kräftig und hochwirksam (vgl. Hebr 4,12). Auch seine Entstehung, Inspiration, Überlieferung und Bewahrung bis heute ist ein außergewöhnliches Wunder. Damit sind wir also jeden Tag außergewöhnlich reich beschenkt!
Das Privileg des Gebets
Gleiches gilt für das Gebet: Die Tatsache, dass wir jederzeit mit dem heiligen, allmächtigen, ewigen Gott und Schöpfer des Universums reden können, ist ebenfalls außergewöhnlich und ein Privileg! Gott ist eine Person. Er hört unser Gebet; er reagiert darauf – und wir dürfen eine Beziehung zu ihm haben. Im Grunde tut er täglich außergewöhnliche Dinge in unserem Leben. Die Frage ist, ob wir die unzähligen täglichen Gebetserhörungen und Wunder noch wahrnehmen:
„Die Tatsache, dass wir jederzeit mit dem heiligen, allmächtigen, ewigen Gott und Schöpfer des Universums reden können, ist außergewöhnlich und ein Privileg!“
Ist es selbstverständlich, aus einem warmen Bett in einem geheizten Haus gesund aufzustehen, einen vollen Kühlschrank zu haben, sauberes Trinkwasser, einen Arbeitsplatz, eine monatliche Rente, eine Krankenversicherung, zur Schule oder Uni gehen zu können, wieder einen Tag ohne Krieg in Deutschland zu erleben, Gemeinschaft und Geborgenheit in der Familie, die Teilnahme am Gottesdienst (auch wenn dieser vielleicht nicht spektakulär und ohne Heilungswunder verläuft), das Vorrecht, Gemeindemitglied und Teil des Leibes Christi zu sein, oder die Tatsache, dass ich meinen Glauben frei leben und anderen davon weitersagen darf?
Welche weiteren Beispiele fallen dir ein, die im Grunde viel außergewöhnlicher sind, als wir meinen?
Ich denke, dass es einen „Indikator“ gibt, der verrät, ob wir diese Dinge für gewöhnlich oder außergewöhnlich halten: Unser Dankgebet! Wenn wir Gott bewusst und regelmäßig für das danken, was er uns täglich schenkt, dann fördert das unser Bewusstsein für sein gnädiges tägliches Handeln in unserem Leben.
Außergewöhnliche Gnade
Bei unseren Überlegungen wollen wir das außergewöhnlichste und bedeutsamste Wunder in der Geschichte nicht vergessen. Es ereignete sich vor knapp 2.000 Jahren in Jerusalem. Der Mensch gewordene und sündlose Sohn Gottes starb freiwillig, unschuldig und stellvertretend für unsere Schuld am Kreuz. Am dritten Tag folgte das spektakuläre Wunder seiner Auferstehung und damit der endgültige Sieg über den Tod. Dieses Geschehen bleibt für immer eine Sensation, denn es schafft uns jeden Tag und bei jeder begangenen Sünde die außergewöhnliche Möglichkeit, unsere Schuld von Jesus vergeben zu lassen. Damit haben wir die außergewöhnliche Perspektive auf ein außergewöhnliches ewiges Leben in der unmittelbaren und ungetrübten Gemeinschaft mit Gott. An dieses außergewöhnliche Gnadenhandeln Gottes sollten wir uns niemals gewöhnen, sondern jeden Tag bewusst dafür danken.
Jeremias Vorbild
Ein Vorbild ist mir der Prophet Jeremia geworden. Er musste viel Leid durchleben und hatte viel Grund zur Klage – gerade weil er Gott treu war. Doch er sagte sich selbst (und auch uns heute) Folgendes:
„Dieses aber will ich meinem Herzen vorhalten, darum will ich Hoffnung fassen: Gnadenbeweise des HERRN sind’s, dass wir nicht gänzlich aufgerieben wurden, denn seine Barmherzigkeit ist nicht zu Ende; sie ist jeden Morgen neu, und deine Treue ist groß!“ (Klgl 3,21–23)
Dazu möchte ich auch dich ermutigen: Rufe dir in den Sinn und danke Gott für seine täglichen Gnadenerweise, für seine Güte, sein Erbarmen und seine Treue. All das ist außergewöhnlich! Pflege deine täglichen geistlichen Übungen und lerne diese Routine zu schätzen. Die „gewöhnliche“ tägliche Zeit mit Jesus, seinem Wort und in seiner Gemeinde sind das Beste für deine Seele und ein tragendes Fundament für deinen Glauben.
„Die „gewöhnliche“ tägliche Zeit mit Jesus, seinem Wort und in seiner Gemeinde sind das Beste für deine Seele und ein tragendes Fundament für deinen Glauben.“
Selbstverständlich darfst und solltest du mit der Allmacht Gottes, mit seinen unbegrenzten Möglichkeiten und seinem außergewöhnlichen Eingreifen rechnen. Trau ihm alles zu, bitte ihn, wage Schritte und vertraue ihm ganz! Er hat das ganze Universum, die Geschichte unserer Welt sowie dein Leben fest in seiner Hand, und er wird dich sicher bis ans Ziel bringen. Gott ist alles – außer gewöhnlich![2] Aber mach deinen Glauben, dein Vertrauen, deine Zufriedenheit und Freude nicht vom regelmäßigen Erleben übernatürlicher und spektakulärer Wunder abhängig! Wann und wie Gott auf übernatürliche Weise eingreift und Wunder tut, das entscheidet er immer noch völlig souverän und unabhängig. Und das ist gut für uns!
1 Ein Beispiel für eine Bewegung, die einen starken Fokus auf Zeichen, Wunder und übernatürliche Erfahrungen legt, die den Menschen den Zugang zu Gott öffnen sollen, ist die Bethel Church und ihre Schule Bethel School of Supernatural Ministry (BSSM) in Redding, Kalifornien (USA). Ein Ableger in Deutschland ist die Schule der Erweckung in Füssen. In Redding ist auch die Plattenfirma bzw. der Musikverlag Bethel Music beheimatet. Die damit verbundene Strömung New Apostolic Reformation (NAR) konzentriert sich auf Zeichen und Wunder und lehrt, dass Gott neue Offenbarungen durch neue Apostel und Propheten schenkt. Gute Einblicke erhält man durch das Buch Counterfeit Kingdom (dt.: gefälschtes Königreich) von Holly Pivec und R. Douglas Geivett (LifeWay Christian Resources, 2022).
2 Ein hilfreiches Buch, um hierüber neu ins Staunen zu kommen, ist nach wie vor der Klassiker von A.W. Tozer, Das Wesen Gottes: Eigenschaften Gottes und ihre Bedeutung für das Glaubensleben, Berlin: EBTC, 2021.