Wir brauchen Obadja

Artikel von Brandon Cooper
19. August 2024 — 6 Min Lesedauer

Das erste Kapitel des Klassikers The Dawn of History (1923) von J.L. Myres erinnert uns daran, dass Millionen von Menschen ohne einen Sinn für Geschichte gelebt haben. Viele Menschen meinen, dass Dinge nun mal so sind, wie sie sind, und sich niemals ändern werden. Ihrer Meinung nach gibt es keinen Spannungsbogen in der Weltgeschichte. Aber ist der Glaube an den Fortschritt naiv, nur weil die Alternative zu beängstigend ist, um sie in Betracht zu ziehen? Gibt es ein Ziel, ein telos, auf das wir zusteuern? Das kurze, wenig bekannte Buch Obadja zeigt uns, wie wir ein größeres Bewusstsein für Gottes Absichten in der Welt entwickeln können. Auf den ersten Blick wirkt das Buch über Edom düster, nationalistisch und rachsüchtig. Aber es hat große Bedeutung für Christen heute. Es zeigt: Wir brauchen Geschichte, Eschatologie und vor allem: Jesus Christus.

Wir brauchen Geschichte

Obadja erhält nicht nur ein Wort Gottes, sondern eine „Offenbarung“ (Obd 1,1). Eine inspirierte Einsicht in Gottes Absichten für die Geschichte. Vorgeblich an Edom adressiert, ermutigt Obadja mit dieser Einsicht Juda. Das Volk hat gerade einen enormen Schlag erlitten, die Plünderung von Jerusalem und das anschließende Exil. Es ist körperlich wie geistlich am Boden zerstört. Hat Gott versagt? Ist Baal stärker als Jahwe? Der Nachbarstaat Edom brüstet sich, plündert und nimmt am Untergang seines Bruders teil (vgl. Obd 10–14). Damit scheinen sie einfach so davonzukommen. Gerade hier braucht das Volk Juda die Worte Obadjas.

Hat Geschichte einen Zweck? Wird es irgendwann Gerechtigkeit geben? Obadja antwortet mit einem deutlichen „Ja“.

Der Prophet spricht zu einer besiegten Nation und hat die Kühnheit, Gottes universelle Herrschaft zu verkünden (vgl. Obd 15). Die Niederlage Judas erscheint zunächst auch wie eine Niederlage Jahwes. Aber sie ist es nicht. Als sich eine Koalition aus feindlichen Stämmen Edoms nähert, kann Obadja Gottes Hand am Werk sehen. Wie Richard Lints andeutet: „In den Händen der alttestamentlichen Propheten war die Geschichte eine Unterweisung in den Wegen Gottes.“ Die Geschichte wurde aufgezeichnet, weil sie wiederholt werden konnte. Natürlich nicht in allen Einzelheiten, sondern in der Weise, dass die vergangenen Taten Gottes die Hoffnung entfachten, dass er seinem Volk und seinen Verheißungen auch weiterhin treu sein würde.

Obadja lehrt uns, die Geschichte, auch die eigene, mit einer heilsgeschichtlichen Brille zu lesen. Wir wissen, wer Gott ist und was er in der Welt tut. Das alles nicht abstrakt, sondern durch seine gewaltigen Taten in der Geschichte.

Wir brauchen Eschatologie

Joseph Goebbels soll einmal gesagt haben: „Wer auch immer das erste Wort in die Welt spricht, hat recht.“ Das Urteil der Geschichte über das Nazi-Regime zeigt uns, dass er falsch lag. Es ist das letzte Wort, das am meisten Gewicht hat. Als Christen haben wir das letzte Wort. Wir wissen, wie die Geschichte enden wird. Unser Glaube ist im Kern eschatologisch. Wir leben in der sicheren Hoffnung einer glorreichen Zukunft. Es gibt sehr viele düstere Realitäten, die wir ohne diese Hoffnung nicht ertragen könnten.

„Unser Glaube ist im Kern eschatologisch. Wir leben in der sicheren Hoffnung einer glorreichen Zukunft.“
 

Welche Hoffnung bietet Obadja den Leuten in ihrer düsteren Realität an?

Die Phrase „der Tag“ kommt in den Versen 11-14 achtmal vor, immer mit einer negativen Konnotation. Der Tag des Unheils, der Tag des Untergangs, der Tag der Drangsal. Aber in Vers 15 bricht die eschatologische Hoffnung durch: „Denn nahe ist der Tag des HERRN“ (Obd 15). Das ist der Tag, an dem jedes „noch nicht“ ein „jetzt“ und „endlich“ wird. Jede Verheißung wird erfüllt, jedes Unrecht vergolten.

Weil das Volk Gottes viel Ungerechtigkeit hat erdulden müssen, ermutigt Obadja es mit der kommenden Gerechtigkeit Gottes. Wie Edom es getan hat, so soll an ihnen getan werden (vgl. Obd 15). Jede Schuld wird bezahlt, jede Rechnung beglichen. Ohne Gottes Gerechtigkeit könnten wir keine Hoffnung haben. Wenn Gott sich nicht um die menschliche Sünde kümmert, wird der Himmel schnell zur Hölle. Heute sehnen wir uns nach Gerechtigkeit, genauso wie Juda es in der Vergangenheit tat. Jedes Mal wenn wir ausrufen: „Wo war Gott, als …“, sehnen wir uns nach seiner endgültigen Gerechtigkeit. Diese ist notwendig und ein Akt der Liebe, der alle schützt, die sich vom Bösen abwenden und ihn suchen.

Doch Obadja verheißt nicht lediglich Gottes vergeltende Gerechtigkeit. Er sagt die Wiederherstellung voraus. In den letzten Versen verspricht Gott, das Gebiet Israels zu vergrößern, bis es seine historischen Grenzen erreicht. (Was für eine schöne Botschaft für Flüchtlinge im Exil!) Das Land ist Teil der Bündnisverheißung von Gott an Abraham, also verspricht Gott hier, sein Bündnis wiederherzustellen. Diesseits von Golgatha verstehen wir, dass es bei dieser Wiederherstellung um mehr geht als reinen Landgewinn. Gottes Königreich wird die ganze Erde bedecken, wie das Wasser das Meer bedeckt (vgl. Hab 2,14). Gottes Herrschaft wird sich ausdehnen. Sein Königreich kommt (vgl. Obd 21).

Gottes Herrschaft ist das, wonach wir uns alle sehnen. Dann wird Gerechtigkeit herrschen. Jedes Unrecht wird beseitigt werden. Es wird Frieden auf Erden herrschen – Menschenhandel, Rassismus und Mord sind dann endgültig besiegt. Gott wird die Geschichte zu ihrem beabsichtigten Ende bringen.

Wir brauchen Jesus Christus

Wir wollen Gerechtigkeit. Wir wollen, dass Gott die Dinge in Ordnung bringt. Wir wissen aber auch, dass wir Ungerechtigkeit begangen haben. Unser eigenes Herz muss in Ordnung gebracht werden. Eine oberflächliche Lesart des Buches Obadja teilt die Menschen in Gut und Böse, und so klingt die prophetische Botschaft Obadjas mehr nach Karma als nach Gnade. Es steckt aber mehr dahinter.

„Eine oberflächliche Lesart des Buches Obadja teilt die Menschen in Gut und Böse, und so klingt die prophetische Botschaft Obadjas mehr nach Karma als nach Gnade. Es steckt aber mehr dahinter.“
 

Die Sünde Edoms bestand darin, auf Gottes heiligem Berg zu trinken und den Tempelberg zu entweihen, so wie auch Belsazar aus den heiligen Gefäßen des Tempels trank (vgl. Dan 5,3). Infolgedessen werden sie und die Völker immer weiter trinken (vgl. Obd 16). Was trinken? „Von dem Glutwein Gottes … der unvermischt eingeschenkt ist in dem Kelch seinen Zornes“ (Offb 14,10). Wir alle, in unserer Natur, verdienen Gottes Zorn (vgl. Eph 2,3). Die Sünden Judas waren so groß, dass Gott Babylon zu Recht zum Plündern aussandte. Daraufhin klagt ein Israelit: „O Gott … du tränkest uns mit Taumelwein“ (Ps 60,3–5).

Doch für Israel und das ganze Volk Gottes, wird ein neuer Tag anbrechen. „Siehe, ich will den Taumelbecher aus deiner Hand nehmen, den Kelch meines Grimms, dass du künftig nicht mehr daraus trinken musst“ (Jes 51,22). Wie kann das sein? Gott wäre ungerecht und sein Königreich unvollkommen, wenn er sein Volk einfach fallen ließe.

Doch Obadja sagt: „Auf dem Berg Zion wird Errettung sein“ (Obd 17), nicht nur Gericht (vgl. Obd 16). Wie kann das sein? Gottes gerechter Zorn und seine unerschütterliche Liebe trafen am Kreuz Christi aufeinander. Gott nahm den Kelch seines Zorns aus unseren Händen und gab ihn seinem Sohn zu trinken (vgl. Mk 14,36). Wenn wir uns also von unseren bösen Wegen ab- und Jesus zuwenden, bleibt kein Kelch des Zorns für uns übrig.

Wenn Gott die Geschichte zu ihrem beabsichtigten Ende führt, wenn wir die Hoffnung wollen, die die Eschatologie bietet, dann brauchen wir Jesus. Ein gerechter Gott muss unsere Sünde bestrafen. Ein liebender Gott sandte seinen Sohn, um unseren Kelch zu trinken, damit wir für immer als Priester im Reich des Herrn dienen können.