Glauben leben in einer Post-Glaubens-Welt
Der Westen ist nicht so post-christlich, wie viele meinen. Ohne Zweifel gibt es Orte auf der Erde, wo man den Eindruck haben könnte, dass die Gesellschaft das Christentum derzeit in einem noch nie dagewesenen Ausmaß ablehnt. Aber das Milieu, das das Post-Christentum auszeichnet, ist immer noch eindeutig christlich.
Stell dir vor, ein eingefrorener Wikinger wacht im Skandinavien des 21. Jahrhunderts auf, ein Maya erkundet das heutige Mexiko, Asterix und Obelix treffen auf die deutsche Sozialdemokratie oder die französische Laïcité. So „säkular“ sich diese Orte für viele von uns auch anfühlen mögen – ihre Werte würden jedem, der sie noch nicht erlebt hatte, zutiefst christlich erscheinen.
Dennoch stellt das Leben in der Welt der Spätmoderne die Gläubigen zweifellos vor zahlreiche Herausforderungen.
Geht das Christentum verloren?
Wie auch immer wir die religiöse Haltung unserer Gesellschaften nennen – Säkularismus, Post-Säkularismus, Post-Christentum oder ganz anders –, die Menschen stehen dem Christentum skeptisch und in einigen Fällen geradezu feindlich gegenüber.
Die heidnischen Götter Mammon, Aphrodite, Apollo, Ares, Gaia und Dionysos plagen die Moderne noch immer und in unterschiedlichster Erscheinungsform. Sich von ihnen abzukehren, um Christus zu folgen, ist immer noch kostspielig. Es ist immer noch leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes hineinkommt (vgl. Mt 19,24). Die Gemeinde hat nach wie vor viele Schwachstellen, und der kulturelle Einfluss des Christentums hat diese Schwachstellen für diejenigen, die nicht zu ihr gehören, oft noch vergrößert.
Zu den externen, kulturellen Herausforderungen kommt eine innere, psychologische hinzu: Manche Christen haben das Gefühl, eine Niederlage einzustecken. In manchen Ländern entsteht dieser Eindruck bereits, wenn man nur auf die Zahlen schaut. Aus verschiedensten Gründen (darunter Wohlstand, Fruchtbarkeit und die Privatisierung des Lebens in der Nachkriegszeit) ist der Prozentsatz der Menschen, die sonntags in den Gottesdienst gehen, in vielen westlichen Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg stetig gesunken (während er in Teilen der Dritten Welt im gleichen Zeitraum erheblich gestiegen ist). Sogar in Amerika (das oft als Ausnahme betrachtet wird) sind über zwei Drittel der Gemeinden zahlenmäßig rückläufig. Gleichzeitig herrscht die weitverbreitete Auffassung, dass christliche Überzeugungen im öffentlichen Leben immer mehr an den Rand gedrängt werden, was in vielen Fällen eindeutig zutrifft.
Fünf Antworten des Glaubens
Der Rückgang der Zahlen und der empfundenen Relevanz hat in den westlichen Gemeinden zu unterschiedlichen Reaktionen geführt. Manche dieser Reaktionen (Umkehr, Gebet, eine erneuerte Hingabe in der Nachfolge) sind positiv. Andere (Angst, Feindseligkeit und das Streben nach Einfluss oder Macht durch moralische oder theologische Kompromisse) sind eindeutig negativ.
Einige Beobachter sind zuversichtlich und meinen, dass die Lage nicht so schlimm ist, wie sie zu sein scheint. Andere denken hingegen, dass sie noch wesentlich schlimmer ist. Die einen argumentieren, die Kirche brauche einen radikalen Strategiewechsel. Die anderen behaupten, die Herausforderung sei im Grunde nicht methodischer Natur. Deshalb sollten sich Gemeinden im Wesentlichen zurückziehen, sich an das Leben am Rande gewöhnen, sich darauf vorbereiten, für ihre Überzeugungen zu leiden, zu beten und darauf vertrauen, dass der Gott, der den Toten Leben gibt, etwas Neues tun wird.
Wie können wir also in einer Kultur, die ihren Glauben verliert, im Glauben leben? In meinem Buch Remaking the World: How 1776 Created the Post-Christian West (dt.: „Die Neugestaltung der Welt: Wie das Jahr 1776 den post-christlichen Westen schuf“) befasse ich mich damit, wie die Gemeinde vor fast 250 Jahren auf eine ähnliche Krise reagierte. Ich gehe dabei insbesondere auf die Betonung der Gnade, das Streben nach Freiheit und die Vermittlung der christlichen Wahrheit ein und komme zu der Überzeugung, dass die letzten beiden Jahrhunderte die Bedeutung dieser drei Antworten nur noch verstärkt haben. In diesem Artikel werde ich fünf weitere Antworten aufzeigen, die – obwohl sie auf der Hand liegen – für Gläubige in einer Zeit wie unserer unerlässlich sind.
1. Leidensfähigkeit
Die Rolle, die das Leiden bei der Ausbreitung des Christentums gespielt hat, kann gar nicht überbetont werden. Allerdings gibt es immer noch eine naive Version dieser Behauptung, die dem Leiden fast magische Kräfte zuschreibt, welche die Gemeinde ganz automatisch wachsen lassen. Das ist eine Auffassung, die sich beispielsweise durch die Geschichte Japans oder der arabischen Halbinsel widerlegen lässt. Dennoch wächst seit der Apostelgeschichte das Evangelium, wenn Christen an den Rand gedrängt, beraubt, gefangen genommen und sogar gemartert werden. Schließlich stärkt nichts die zuversichtliche Hoffnung auf die Auferstehung so sehr wie das Leiden.
„Nichts stärkt die zuversichtliche Hoffnung auf die Auferstehung so sehr wie das Leiden.“
Dies war für Christen im Westen lange Zeit eine Herausforderung, da die Verfolgung von Gläubigen selten in einer Weise stattfand, die viele Nichtchristen tatsächlich als Verfolgung bezeichnen würden. Doch die Gesellschaft verändert sich. Die Anhänger Jesu leiden hierzulande nun zunehmend auf vielerlei Weise um seines Namens willen. Daher ist es für ein Leben aus dem Glauben in einer post-christlichen Kultur unerlässlich, sich auf diese möglichen Misshandlungen vorzubereiten. Das sollten wir in einer Weise tun, die gegenwärtige Herausforderungen weder über- noch unterbewertet und die Gläubigen dazu befähigt, ohne Verbitterung zu reagieren, die andere Wange hinzuhalten und freudig zu leiden.
2. Gegenkatechese
Alan Jacobs bezeichnet als „Gegenkatechese“ das, was die Gemeinde schon immer zu tun hatte: die Jünger in den Glaubensinhalten und in der Glaubenspraxis zu schulen, und zwar als Antwort auf die spezifische Art und Weise, wie die gegenwärtige Kultur ihre Überzeugungen und Lebenspraxis prägt. Seit Jesus sagte: „Ihr habt gehört … ich aber sage …“, hat die christliche Katechese die gravierendsten Irrwege und Täuschungen der jeweiligen Zeit erkannt und das Evangelium auf sie angewandt.
In einer von Medien übersättigten und stark gespaltenen Welt, in der ständig neue Irrtümer und Täuschungen auftauchen, muss die Gemeinde sicherstellen, dass sie die Fragen beantwortet, die Menschen heute stellen. Die hohe Anzahl von Pastoren, die zugeben, dass sie nicht regelmäßig und öffentlich über Sex, Gender und Sexualität lehren, zeigt, wie schwierig diese Aufgabe ist.
Für eine treue Katechese müssen Gemeinden u.a. Fragen der Autonomie, Identität, Sexualität, Ethnie und Moral ansprechen. Sie müssen klare und stimmige Antworten aus der Schrift liefern und dann aufzeigen, warum die kulturellen Antworten nicht die gleiche Aussagekraft haben wie das Wort Gottes.
3. Demütiger Mut
Wir leben in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem die christliche Orthodoxie engstirnig, entmenschlichend und grotesk erscheinen mag. Gleichzeitig sind den Menschen keine Grenzen gesetzt, um ihrer Kritik Gehör zu verschaffen. Darum sind die Gläubigen versucht, die Reaktion von Tieren angesichts einer Gefahr nachzuahmen: Flucht oder Kampf. Ersteres erscheint wie Demut, birgt aber die Gefahr von Ängstlichkeit und Feigheit. Letzteres erscheint wie Mut, birgt aber die Gefahr von Verleumdung und Stolz.
„Der Weg Jesu verbindet beispielhafte Demut mit erstaunlichem Mut.“
Die richtige Antwort ist jedoch der demütige Mut. Wenn wir fälschlicherweise in einem Spektrum denken, in dem Demut und Schüchternheit an einem Ende und Stolz und Kühnheit am anderen Ende stehen, dann werden wir letztlich Laster als Tugenden rechtfertigen. Anführer, die Missbrauch begehen und arrogant sind, werden dann als „mutig“ oder „stark“ angepriesen. Kompromisse mit Unmoral und Götzendienst werden als „sanft“ oder „gnädig“ gerühmt. Der Weg Jesu dagegen verbindet beispielhafte Demut mit erstaunlichem Mut. Besonders eindrucksvoll wird dies deutlich, als Christus ans Kreuz ging. Wir dürfen nicht zulassen, dass die falschen Gegensätze in unserer Kultur uns davon abhalten, seinem Beispiel zu folgen.
4. Kontinuierliche Umkehr
Es ist immer einfacher, die Notwendigkeit der Umkehr in vergangenen Epochen zu sehen. Antisemitismus, Kreuzzüge, Inquisition, Kriege, Sklaverei und Rassismus erscheinen uns heute grotesk. Es fällt uns schwer zu verstehen, wie die früheren Generationen unserer Brüder und Schwestern diese Übel nicht so wahrnehmen konnten wie wir heute. Der Balken in unserem eigenen Auge ist dagegen schwieriger zu erkennen (vgl. Mt 7,3–5).
„Es ist immer einfacher, die Notwendigkeit der Umkehr in vergangenen Epochen zu sehen.“
Auf welche Weise haben wir uns also mitschuldig gemacht an der Förderung von Gier und Materialismus in der Gemeinde? An der Lust nach Macht? Am ausgeprägten Individualismus? An einer von Stars besessenen, nach Unterhaltung suchenden Konsumkultur? An der sexuellen Revolution mit all ihren Mitteln zur Trennung von Sex und Ehe und Kindern? An der Besessenheit von Technologien, die aus Bequemlichkeit und ohne Rücksicht auf die Folgen alles und jeden in Beschlag nehmen? An der demographischen Spaltung – sei es aufgrund von Ethnie, Klasse, Wohlstand, Bildung oder anderen Faktoren? An der politischen Heuchelei?
Eine bußfertige Gemeinde ist eine treue Gemeinde – ganz zu schweigen von einer Gemeinde, deren Chancen besser stehen, gehört zu werden, wenn sie die Welt aufruft, mit ihr gemeinsam umzukehren.
5. Kontinuierliches Gebet
Die Notwendigkeit des Gebets steht in der Theorie außer Frage, aber in der Praxis wahrscheinlich nicht immer. Die Leute, die Artikel wie diesen lesen – ganz zu schweigen von den Leuten, die sie schreiben! – werden meiner Meinung nach oft eher dazu angehalten, zu überlegen, was wir tun können (Strategien entwickeln, Bücher schreiben, Initiativen starten, Menschen mit Inhalten überfluten), als Gott zu bitten, das zu tun, was nur er tun kann (Königreiche stürzen, Berge versetzen, Götter vernichten, Wüsten mit Blumen füllen). Aber selbst ein flüchtiger Blick auf die gegenwärtige Lage zeigt, dass unsere Pläne und Programme für die vor uns liegende Aufgabe völlig unzureichend sind.
Der Westen muss nicht aus seinem Schlaf geweckt, sondern von den Toten auferweckt werden. Allein das mächtige Wirken des Heiligen Geistes wird die Erneuerung und Erweckung bringen, die wir brauchen. Und das Gebet ist das Mittel, das uns von Gott gegeben wurde, um dies zu erreichen. Die Gemeinde muss also darum beten, dass Gott etwas noch nie Dagewesenes tut: eine post-christliche Gesellschaft auf breiter Ebene zur Umkehr und zum Glauben zu bringen. Wie Tim Keller in seinem Buch Wie wir den Westen wieder erreichen feststellt, war glücklicherweise jede große neue Bewegung Gottes noch nie dagewesen, bis sie geschah. Komm, Herr Jesus!