Der Herr der Ringe

Rezension von Austin Freeman
1. August 2024 — 12 Min Lesedauer

„Ich bin ein Diener des Geheimen Feuers, Hüter der Flamme von Anor. Du kommst nicht vorbei.“[1] Die Fans des von J.R.R. Tolkien verfassten Klassikers Der Herr der Ringe lasen die Worte des Zauberers Gandalf das erste Mal 1954, als er sich mutig auf der Brücke von Khazad-Dûm dem Balrog entgegenstellte. Dank der Darstellung von Sir Ian McKellen in Peter Jacksons Filmen klingt Gandalfs Ausruf nun auch im Gedächtnis von Millionen von Menschen nach, die den Originaltext nie gelesen haben.

Hinter dieser Zeile verbirgt sich jedoch mehr als nur eine epische Rede. Im Schöpfungsmythos von Mittelerde, der erst vier Jahre nach Tolkiens Tod in die Hände eifriger Leser gelangte, erfahren wir, dass das Geheime Feuer oder die Unvergängliche Flamme ein Geschenk ist, das nur von Gott selbst verliehen werden kann – die Gabe des Seins. Schon vor 1920 hatte Tolkien einen kurzen Eintrag in einem Lexikon zur elbischen Linguistik und Phonologie verfasst, welcher der Schlüssel zum Verständnis dieses Feuers ist. Versteckt auf Seite 81 lautet der Eintrag: „Sā: Feuer, besonders in Tempeln, usw. Ein mystischer Name, der mit dem Heiligen Geist identifiziert wird.“

Dieses Muster beschreibt perfekt die Erfahrung der meisten Menschen mit Der Herr der Ringe. Eine mitreißende Geschichte zieht den Leser in ihren Bann, aber er muss tiefer eintauchen, um die wertvollen Adern der christlichen Theologie zu entdecken, die sich wie Mithril durch Tolkiens erschaffene Welt ziehen.

Der Herr der Ringe ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie eine Weltanschauung jeden Bereich des Lebens beeinflussen kann.“
 

Vielleicht hast du Der Herr der Ringe nie gelesen, weil dir Elben und Zwerge zu unseriös erscheinen. Es reicht dir vielleicht auch, stattdessen die Verfilmungen anzusehen. Vielleicht hast du die Bücher als Kind gelesen, ohne jemals an die verborgenen Tiefen zu denken. Was auch immer dein Grund sein mag, ich möchte dich nach Mittelerde einladen, um zu zeigen, wie Tolkien seine Geschichten mit einer Haltung des Lobpreises erzählte. Der Herr der Ringe ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie eine Weltanschauung jeden Bereich des Lebens beeinflussen kann.

Tolkien war kein professioneller Theologe. Er war nicht einmal ein professioneller Autor. Er war vielleicht die größte lebende Autorität für die Geschichte der englischen Sprache, ein Professor in Oxford, der sich durch Vorlesungen über verborgene, angelsächsische Grammatik nuschelte. Doch nachdem die Geschichten, die er seinen Kindern erzählte, Aufmerksamkeit erregten und Der Hobbit veröffentlicht worden war, wurde Tolkien sofort zur Sensation. Den Rest seines Lebens verbrachte er damit, die Öffentlichkeit in die geheime Welt zu entführen, die er in seiner Phantasie seit der Zeit als Soldat in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs aufgebaut hatte.

Die grundlegende Handlung seines Hauptwerks ist inzwischen so bekannt, dass sie kaum noch einer Zusammenfassung bedarf. Frodo Beutlin, ein kleiner Hobbit aus dem Auenland, gelangt in den Besitz des Einen Rings, eines durch und durch bösen Artefakts, das die Essenz des dunklen Herrschers Sauron in sich trägt, den man längst für vernichtet hielt. Doch Sauron, der Herr der Ringe, erhebt sich wieder, denn er will seine mächtigste Waffe zurück. Frodo und ein paar wenige Gefährten müssen sich auf eine Mission begeben, um unentdeckt ins Herz von Saurons undurchdringlichem Reich zu gelangen und den Ring in den Feuern zu zerstören, in denen er geschmiedet worden ist.

„Dies ist der Zweck, zu dem ihr hierher berufen wurdet“, erklärt Elrond den Gefährten.

„Gerufen, sage ich, obwohl ich Euch, Fremde aus fernen Ländern, nicht zu mir gerufen habe. Ihr seid hergekommen und habt Euch, wie es scheinen mag, durch Zufall gerade zur rechten Zeit hier eingefunden. Dennoch ist es nicht so. Glaubt eher, daß es eine Fügung ist, daß wir, die wir hier sitzen, und niemand anderes jetzt Rat finden müssen, um den Gefahren der Welt zu begegnen.“[2]

Nicht der Zufall, sondern eine verborgene Berufung sorgt dafür, dass sich die Gefährten in Bruchtal versammeln. Diese Art von subtiler Vorsehung taucht überall in der Geschichte auf, und doch bleibt sie verborgen, bis der Leser die nächste – und notwendige – Frage stellt: Von wem wurden sie berufen?

Göttliches Design

Sobald die Frage gestellt ist, scheint die Antwort unvermeidlich. Sie liegt in der Natur der Geschichte. Wer bewahrt diese scheinbar unmögliche Mission davor, im Chaos zu versinken? Warum scheint der Zufall immer auf der Seite der Guten zu stehen? Auch hier zeigt uns Gandalf mehr, als auf den ersten Blick ersichtlich ist.

„Im Hintergrund war noch etwas anderes am Werk, das über die Absicht des Ringschöpfers hinausging. Ich kann es nicht deutlicher ausdrücken, als wenn ich sage, daß Bilbo dazu ausersehen war, den Ring zu finden, aber nicht von dem, der den Ring gemacht hatte. In diesem Fall wärst auch du ausersehen. Und das mag vielleicht ein ermutigender Gedanke sein.“[3]

Dies ist das göttliche Design von Mittelerde.

Der Herr der Ringe hält die christliche Metaphysik unter der Oberfläche verborgen. Tolkien hat die Geschichte bewusst in der mythischen Vergangenheit unserer Welt angesiedelt, vor der besonderen Offenbarung von Abraham oder der Menschwerdung des Gott-Menschen. Doch abgesehen von der starken Darstellung der Vorsehung ist die Erzählung auch ein Modell für das Leben aus Gnade.

Frodo weigert sich, Gollum zu töten, obwohl der es verdient hat, weil er darauf besteht, dass Gollum noch Würde und die Möglichkeit der Erlösung hat. Aragorns Königtum manifestiert sich nicht in der Ergreifung militärischer Macht, sondern in seiner Hingabe an Heilung und Gerechtigkeit. Sam Gamdschie, der Arbeiter und Gärtner, und nicht etwa Boromir, der realpolitische Hauptmann, ist das höchste Vorbild des Heldentums. In dieser Art und Weise besät Tolkien den Boden für die spirituelle Ernte und schafft Kunst, die ihre eigene Integrität besitzt und gleichzeitig die Wahrheit organisch illustriert.

Die Welt als Kunst

Als überzeugter Katholik, der seine Gebete laut auf Latein rezitierte, selbst als das Zweite Vatikanische Konzil die Messe in englischer Sprache erlaubt hatte, wollte Tolkien keine christliche Fiktion schreiben, was immer dieser Begriff auch beinhaltet. Er nutzt keine Aslan-Allegorie, die darauf wartet, über uns herzufallen: „Ich wollte in erster Linie eine spannende Geschichte in einer Atmosphäre und vor einem Hintergrund schreiben, die ich persönlich attraktiv finde. Aber bei einem solchen Prozess werden unweigerlich der eigene Geschmack, die eigenen Ideen und Überzeugungen aufgegriffen“, erklärte er.[4]

„Verloren in unserer Sünde und ohne Hoffnung auf ein Entkommen sind wir von Gott, dem Schöpfer, entfremdet, aber in einer erstaunlichen Gnade wird er selbst einer von uns, um zu tun, was nur er tun kann.“
 

Tolkiens Kunst ist in erster Linie genau das: Kunst, geschaffen von einem bekennenden Christen. Keine versteckte Predigt, keine evangelistische Allegorie, kein Werk der phantasievollen Apologetik – zumindest nicht direkt. Tolkien hatte dennoch eine unglaublich robuste Schöpfungslehre, die die Kategorie „Kunst“ zu weit mehr als bloßer Unterhaltung macht. Für ihn ist die ganze Welt ein Kunstwerk, welches der Schöpfer verwirklicht hat. Tolkien nennt das eine „sekundäre Realität“[5].

Wenn die Welt Kunst ist, dann muss alles eine Bedeutung haben. Gott, das wahre Sein, gibt den anderen Wesen ihre Existenz. Weil Gott deren Quelle ist, weisen sie auf ihn zurück. Die gesamte Schöpfung ist sakramental: Gott offenbart sein eigenes Sein durch die Gabe des Seins und seine eigene unsichtbare Natur durch die sichtbare Natur. Das ist der Zweck der Schöpfung. Sie soll uns dazu bringen, ihren Schöpfer zu verherrlichen.

Geschichten können das Herz erheben

Wenn die Welt wirklich Kunst ist, dann offenbart nicht nur die sakramentale, phantasievolle, ästhetische Erfahrung der Schöpfung den göttlichen Autor, sondern auch unser Instinkt für poetische Weitsicht. Genauso zeigt es sich bei der Schöpfung: Ist sie Kunst, dann spiegelt alle Kunst in gewisser Weise die Schöpfung wider.

Tolkien verbindet diese Vision eines Universums, in dem es von einzigartigen, wunderbaren Kreaturen wimmelt, mit seiner Theorie der „Unter-Schöpfung“. Wir erschaffen, da wir nach dem Bild eines Schöpfers geschaffen sind, und wir erweitern und bereichern Gottes Schöpfung durch unsere eigenen kreativen Bemühungen. Tolkiens „spannende Geschichte“, in der ein christlicher Denker seinen Schöpfer nachahmt, muss keine Allegorie des Evangeliums sein. Sie verherrlicht Gott, indem sie sich selbst genügt, ganz so wie Bäume Gott verherrlichen, indem sie Bäume sind und wie Felsen vor Christus rufen. Alle Kunst ahmt die Schöpfung mehr oder weniger stark nach. Der Charakter Gottes ist in manchen Werken durchscheinender als in anderen (z.B. in Die Brüder Karamasow deutlicher als in Iron Man 2).

Der Herr der Ringe ist nicht nur Popcorn-Speise. Es ist zutiefst theologisch und behandelt Themen wie Tod, Sündenfall, Gnade und Götzendienst. Die Atmosphäre des Films wirkt selbst auf Nicht-Christen wie etwas Heiliges, das klar und hell ist, etwas Edles, das unser Herz erhebt. In Tolkiens Phantasiewelt können solche Elemente über ihr gewöhnliches Maß hinaus vergrößert und deutlicher betrachtet werden. Er hat dieses Genre aus einem tiefgreifenden Grund erfunden.

Eine Freude so ergreifend wie Trauer

In seinem meisterhaften Essay „On Fairy-Stories“ (dt. „Über Märchen“) formuliert Tolkien die dreifache theologische Bewegung der Phantasie. Erstens hilft sie uns, aus dem klaustrophobischen Reich des Materialismus und all unseren alltäglichen Belastungen zu fliehen. Die Flucht in eine neue Perspektive hilft uns dann, unseren Blick für die Wahrheit wiederzuerlangen. Unsere Augen sind durch Sünde und Besitzgier getrübt und die Verpackung der altbekannten Güter in ungewohnte Formen hilft uns, sie neu zu sehen. Aber das Hauptmerkmal jeder guten Phantasiegeschichte ist Trost, die Freude über den guten Ausgang der Geschichte.

Tolkien bezeichnet diese besondere Art der Freude als „Eukatastrophe“, „eine plötzliche und wundersame Gnade, die sich niemals wiederholen wird“. Während wir anerkennen, dass wir inmitten von Leid, Versagen und Schmerz leben, leugnet die Eukatastrophe stattdessen „die universelle endgültige Niederlage (im Angesicht vieler Beweise, wenn man so will) und ist insofern ein Evangelium, das einen flüchtigen Blick auf die Freude gibt, eine Freude jenseits der Mauern der Welt, ergreifend wie Trauer“[6].

In der Phantasie spiegelt sich die Geschichte der Erlösung wider. Verloren in unserer Sünde und ohne Hoffnung auf ein Entkommen sind wir von Gott, dem Schöpfer, entfremdet, aber in einer erstaunlichen Gnade wird er selbst einer von uns, um zu tun, was nur er tun kann. Wenn die Dinge am dunkelsten erscheinen – wenn wir Gott selbst ablehnen, verletzen und ermorden –, ist das genau der Moment, in dem Gottes größter Triumph eintritt. Er lässt unsere Herzen in unermesslicher Freude jubeln. Das Märchen ist wahr geworden: „Legende und Geschichte haben sich getroffen und sind verschmolzen.“[7]

„Die Phantasie kann unsere Herzen für die Wahrheit schulen.“
 

So glaubt Tolkien, dass die Phantasie unsere Herzen für die Wahrheit schulen kann. Er schreibt über das Evangelium als eine Form von Märchen:

„Diese Erzählung ist in die Geschichte und die primäre Welt eingetreten; das Begehren und Streben der Unter-Schöpfung ist zur Erfüllung der Schöpfung erhoben worden. Die Geburt Christi ist die Eukatastrophe der Geschichte des Menschen. Die Auferstehung ist die Eukatastrophe der Geschichte der Menschwerdung. Diese Geschichte beginnt und endet in Freude. Sie hat in erster Linie die innere Logik der Wirklichkeit. Es gibt keine jemals erzählte Geschichte, die die Menschen lieber für wahr hielten, und keine, die so viele skeptische Menschen aufgrund ihrer eigenen Verdienste als wahr akzeptiert haben.“[8]

Ein Klassiker für Christen?

Wenn alle gute Kunst den göttlichen Künstler widerspiegelt und alle gelungene Phantasie das Evangelium vorwegnimmt, was können wir dann aus der Lektüre eines Werks wie Der Herr der Ringe gewinnen? Es wurde von einem Christen geschaffen, der sich selbstbewusst an diesen Zustand anlehnte und sich bemühte, hervorragende Kunst zu schaffen, die mit der Schöpfung übereinstimmt.

Der Herr der Ringe bietet ein Bild einer guten und schönen Weltordnung. Die Erzählung weigert sich, das Böse zu verherrlichen. Sie zeigt Helden, die tatsächlich im biblischen Sinne heldenhaft sind – nicht nur ruhmgetriebene Tötungsmaschinen. Tolkien muss seine Phantasie nicht christlich machen, sondern kann einfach einen Erzählprozess wahrnehmen und kultivieren, den Gott bereits entworfen hat, um uns zu ihm zu führen.

„Das Evangelium hat die Legenden nicht abgeschafft, es hat sie geheiligt, vor allem das Happy End. Der Christ muss immer noch mit Leib und Seele arbeiten, leiden, hoffen und sterben; aber er kann jetzt erkennen, dass alle seine Neigungen und Fähigkeiten einen Zweck haben, der erlöst werden kann.“[9]

Tolkiens großartiger Text gibt uns ein Beispiel dafür, was es bedeuten könnte, jenen Teil von Gottes guter Schöpfung zu erlösen und an Gottes Werk teilzuhaben, alles neu zu machen. Auf diese Weise ist auch er ein Diener des Geheimen Feuers.

Buch

J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe, Stuttgart: Klett-Cotta, 2021, 1.344 Seiten, 88,00 Euro.


1Alle Textausschnitte aus Der Herr der Ringe ohne Seitenangabe sowie aus The Letters of J.R.R. Tolkien und Tolkien on Fairy-Stories wurden aus Freemans Rezension heraus frei übersetzt.

2J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe. Erster Teil: Die Gefährten. Klett-Cotta: Stuttgart, 1998, S. 294.

3Ebd., S. 78.

4Humphrey Carpenter (Hrsg.), The Letters of J.R.R. Tolkien, Mariner Books, 2006, S. 267.

5Ebd., S. 279.

6Verlyn Flieger u. Douglas Anderson: Tolkien on Fairy-Stories, Harper Collins, 2014, S. 75.

7Ebd., S. 78.

8Ebd., S. 78.

9Ebd., S. 78–79.