Die ganze Wahrheit
„Der christliche Glaube ist nicht nur eine Nischen-Wahrheit, sondern die totale, allumfassende Wahrheit, die alle Menschen dringend brauchen.“ Dieses mutige Statement von Nancy R. Pearcey bildet das Herzstück ihres Buches Die ganze Wahrheit: Das Christsein aus der weltanschaulichen Gefangenschaft befreien. Pearcey, eine angesehene Autorin und Dozentin für Apologetik, stellt sich in ihrem Buch der modernen Herausforderung, den allumfassenden Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens zu erklären und zu verteidigen. Sie fordert Christen auf, ihren Glauben wieder aus der Privatsphäre herauszuholen und aktiv in alle Bereiche des Lebens einzubringen.
Aufruf zu einer ganzheitlichen Weltanschauung
Das Buch, das bereits 2004 auf Englisch erschien und dieses Jahr endlich in deutscher Sprache veröffentlicht worden ist, ist in vier große Teile gegliedert. Pearcey beginnt mit einer scharfsinnigen Analyse der modernen Gesellschaft und spricht sich gegen die Dichotomie zwischen Öffentlichkeit und Privatheit sowie zwischen Werten und Fakten auf. Sie argumentiert, dass diese Spaltung zu einem fragmentierten Verständnis der Wirklichkeit führt und die Integrität des christlichen Glaubens untergräbt.
Im zweiten und dritten Teil beleuchtet die Autorin die historischen und philosophischen Wurzeln dieser Trennung und konzentriert sich besonders auf den Einfluss Darwins und die Entwicklung innerhalb der evangelikalen Bewegung in Amerika. Sie beschreibt, wie der populistische Zweig des Evangelikalismus den Glauben zu einer privaten, gefühlsmäßigen Erfahrung machte, während der akademische Zweig die Vorstellung verstärkte, dass öffentliches Wissen und Wissenschaft autonom und religiös neutral sein müssten. Diese beiden Strömungen trugen dazu bei, dass sich das Christentum aus der säkularen Welt zurückzog, was zu einer zunehmenden Prägung der Gesellschaft durch den Positivismus und den Naturalismus führte.
„Pearcey kritisiert, dass Religion längst nicht mehr als Quelle objektiver Wahrheit angesehen wird, sondern nur noch einen therapeutischen Wert hat.“
Im letzten Teil des Buches bietet Pearcey Lösungen dafür an, wie diese Spaltung des Denkens und Lebens überwunden werden kann. Sie fordert Christen auf, die Ganzheitlichkeit ihrer Weltanschauung zu erkennen und die Kultur aktiv mitzugestalten.
Zweigeteiltes Leben und Denken
Pearcey kritisiert, dass Religion längst nicht mehr als Quelle objektiver Wahrheit angesehen wird, sondern nur noch einen therapeutischen Wert hat. Diese Sichtweise hat dazu geführt, dass moralische Werte als frei wählbar und individuell bestimmbar betrachtet werden. Letztlich ist alles das Ergebnis einer individuellen Entscheidung.
Die traurige Wahrheit ist, so Pearcey, dass viele Christen sich mit jenem gespaltenen Wahrheitskonzept abgefunden haben. Sie trennen ihr Leben in Säkular und Heilig – und beschränken ihren Glauben auf den privaten Bereich, der als „harmlose Spielwiese“ fungiert. Diese Haltung beruht auf dem Irrglauben, es gäbe neutrale, weltanschauungsfreie Erkenntnis. Professionalität und Objektivität könne nur erreicht werden, wenn der Glaube ausgeklammert und eine rein säkulare Weltanschauung eingenommen werde. Insbesondere spiegelt sich diese Spaltung im beruflichen Umfeld von Christen wider. Häufig wird der eigene christliche Glaube vollständig aus dem beruflichen Kontext ausgeklammert, um nicht ungebildet oder unwissenschaftlich zu wirken. Dasselbe gilt für gesellschaftliche und ethische Debatten, etwa zum Feminismus oder zur Frage der Abtreibung. Auch ich muss zugeben, dass ich mich beim Lesen über dieses Denken ertappt gefühlt habe.
„Es gibt keinen weltanschauungsfreien Raum – und wenn das Christentum nicht die Gesellschaft und Wissenschaft prägt, füllen andere Weltanschauungen diese Lücke.“
Pearcey argumentiert allerdings überzeugend, dass es keinen weltanschauungsfreien Raum gibt und dass, wenn das Christentum nicht die Gesellschaft und Wissenschaft prägt, andere Weltanschauungen diese Lücke füllen.
Unser Kulturmandat
Als Christen darf uns das nicht gleichgültig sein. Aus Liebe zu Gott und den Menschen, die Jesus Christus dringend brauchen, ist es unsere Aufgabe, Gottes Werte und Wahrheiten hochzuhalten und dafür einzustehen. Gott hat uns nicht nur von etwas gerettet, sondern auch für etwas. Und zu diesem für etwas gehört nach Pearcey auch das kulturelle Mandat. Mit ihren Worten:
„Christen sollten aufhören, die Kultur zu kritisieren und sie stattdessen gestalten.“ (S. 80)
Christen sind aufgefordert, die christliche Botschaft als allumfassende Wahrheit zu erkennen, welche Lösungen für alle Lebensbereiche bietet. Gottes Werte spiegeln die Wirklichkeit wider und weisen die Menschen auf ihre Erlösungsbedürftigkeit und zugleich auf die Rettung in Jesus Christus hin.
Weltanschauungsanalyse betreiben
„Wenn wir Missionare in der Welt sein wollen, müssen wir die Sprache und das Denken der Menschen kennen, die wir erreichen wollen“ (S. 236). Anders ausgedrückt: Wir müssen lernen, „zweisprachig zu werden“. Pearcey betont, dass Christen, so wie das der Apologet Francis Schaeffer gefordert hat, „Kulturhermeneutik“, also Weltanschauungsanalyse, betreiben müssen.
„Erst wenn wir das Denken der Menschen um uns herum verstehen, können wir die konkreten Wahrheiten des Evangeliums in ihr Leben sprechen.“
Die Weltanschauung eines Menschen ist wie ein Fenster, durch das er die Welt sieht und – oft unbewusst – entscheidet, was real und wichtig oder irreal und unwichtig ist. Erst wenn wir das Denken der Menschen um uns herum verstehen, können wir die konkreten Wahrheiten des Evangeliums in ihr Leben sprechen. Zum anderen ermöglicht uns eine solche Analyse, uns selbst von eingeschlichenen säkularen Ideen und Werten zu befreien und unsere Kinder davor zu schützen. Pearcey liefert dem Leser hier ein praktisches Weltanschauungstraining. Sie zeigt auf, wie verschiedene Weltanschauungen die Schöpfung, den Sündenfall und die Erlösung in Jesus Christus durch eigene Ideen ersetzt haben und wie dies unser Denken prägt.
Unser Kreuz täglich auf uns nehmen
Pearceys Antwort auf die Frage nach der Überwindung dieser Spaltung des Lebens und des Denkens liegt in Christi Tod und Auferstehung. Christen müssen den weltlichen Systemen sterben und die Wahrheit des Evangeliums in ihrem Leben sichtbar werden lassen. Für Christen ist die natürliche Welt nur ein Teil der Realität. Sie sind nicht nur dazu aufgerufen, der Existenz der sichtbaren und unsichtbaren Realität zuzustimmen, sondern auf dieser Grundlage auch praktisch zu leben. Es ist entscheidend, dass wir Christen uns wieder bewusst machen, dass die christliche Botschaft ganzheitlich ist. Die geistliche Realität von Jesu Ablehnung, Tod und Auferstehung ist das Herzstück des ganzen Lebens als Christ. Wir sind dazu berufen, uns von dieser Wirklichkeit leiten zu lassen und sie täglich in unserem Leben zu verkörpern, auch wenn wir dabei auf Ablehnung bei den Menschen stoßen.
Fazit
Die ganze Wahrheit von Nancy Pearcey ist ein anspruchsvolles und tiefgründiges Werk, das mich persönlich in positiver Hinsicht überführt und herausgefordert hat. Die detaillierten historischen und philosophischen Analysen erfordern konzentriertes Lesen. Teilweise fehlte mir jedoch „der rote Faden“ innerhalb des Buches. Pearcey schneidet viele verschiedene Themen in zahlreichen kurzen Unterkapiteln an, was es gelegentlich schwierig macht, den Überblick zu behalten. Eine kompaktere Fassung des Buches, die sich auf die wesentlichen Kernaussagen beschränkt, wäre sehr wünschenswert. Dennoch bietet Pearcey meiner Meinung nach eine inspirierende Vision, und das Buch ist eine wertvolle Lektüre für alle, die die komplexe moderne Welt um sich herum besser verstehen möchten.
Ich möchte mit dem letzten Satz des Buches enden:
„Möge Gott uns die Gnade geben, Weltanschauungsmissionare zu sein, deren Leben und Gemeinschaften vor einer beobachtenden Welt ein authentisches Zeugnis seiner Existenz liefern.“ (S. 642)
Buch
Nancy R. Pearcey, Die ganze Wahrheit: Das Christsein aus der weltanschaulichen Gefangenschaft befreien, Betanien Verlag, 2024, 714 Seiten, 26,90 EUR.
Das Buch kann auch direkt beim Verlag bestellt werden.