Ein vergeudetes Leben?
Joab – Freund und Feind, Mörder und Held
Die „Geschichtsbücher“ des Alten Testaments sind mehr als bloßes Geschichtswerk – sie erzählen die Story von Gottes Volk, das sich in der Heimat befindet, die ihm Gott geschenkt hat. Es ist eine Geschichte mit unvergesslichen Höhen und Tiefen, in der sich Gottes Gnade und Treue, Israels Versagen und die Hoffnung auf ein Reich der Gerechtigkeit immer wieder zeigen. Und wie jedes Stück guter Literatur enthalten diese Bücher unvergessliche Charaktere.
Nicht zu Unrecht interessieren uns zunächst die Menschen, die die Hauptrollen spielen, z.B. Josua, Simson, Samuel, David oder Salomo. Dabei sind die Nebenfiguren oft literarisch gesehen nicht weniger interessant. Denke beispielsweise an Menschen, denen David in seinem Leben begegnet: seinen geliebten Freund Jonathan, seine Frauen Michal und Abigail, seinen Gegner Abner oder den von ihm abhängigen Mephiboseth.
Es gibt einen Charakter, der mich in seiner Darstellung als legendärer Held und zugleich als lebensechter Mensch endlos fasziniert. Er begleitet David jahrzehntelang, spielt eine entscheidende Rolle bei Davids Siegen wie auch bei seinem schlimmsten Scheitern und nimmt schließlich ein tragisches Ende – Joab, der Sohn Zerujas.
Warum malt uns Gottes Wort ein so interessantes Porträt von einem Menschen, der weder Prophet, Priester noch König war? Wie ist die Darstellung von Joab nützlich „zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“ (2Tim 3,16)?
Ein warnender Lebenslauf
Joab wird zum ersten Mal erwähnt, noch bevor er die Bühne betritt: Abisai, selbst ein herausragender Held (vgl. 2Sam 23,18), wird als „Bruder Joabs“ bezeichnet (1Sam 26,6). Der Autor ging ganz offensichtlich davon aus, dass Joab jedem israelitischen Leser ein Begriff sein würde. Der Sohn von Davids Schwester Zeruja und damit sein Neffe (vgl. 1Chr 2,16) erlangte seine Bekanntheit durch die Führung der Truppen Davids im Bürgerkrieg, der nach Sauls Untergang entstand. Joab führte den Angriff, durch den David die kanaanitische Stadt Jerusalem einnehmen und zu seiner Hauptstadt machen konnte (vgl. 1Chr 11,5–6). Er war als Davids Heerführer (vgl. 2Sam 8,16) an zahlreichen Siegen beteiligt.
Aber der geniale General hatte eine Schattenseite. Er kam mit dem Tod seines Bruders Asahel im Kampf nicht zurecht und nahm zu Unrecht Rache (vgl. 2Sam 3,23–30). Dies führte zur Verlängerung des blutigen Bürgerkrieges. Und noch schlimmer: Joab beteiligte sich an der Vertuschung von Davids Ehebruch mit Bathseba, indem er Bathsebas Mann Urija im Krieg an die vorderste Front stellte.
Wegen seines gnadenlosen Handelns an Absalom – dem Kronprinzen, der einen Putsch gegen seinen Vater unternahm (vgl. 2Sam 18,10–15) – wurde Joab degradiert und durch seinen Cousin Amasa ersetzt (vgl. 2Sam 19,14). Durch ein weiteres Attentat an Amasa riss er die Macht aber schnell wieder an sich (vgl. 2Sam 20,8–11). Danach musste David feststellen, dass Joab nicht mehr loszuwerden war (vgl. 2Sam 20,22–23). Damit wurde Joab in den letzten Jahren von Davids Herrschaft quasi selbst zum Herrscher über Israel.
Schlussendlich ging Joab aber doch zu weit. Er unterstützte Adonija, den ältesten überlebenden Sohn des Königs, als Thronfolger (vgl. 1Kön 1,7) – obwohl David Salomo als seinen Nachfolger bestimmt hatte. Der alte König griff ein, ließ Salomo krönen und beauftragte den jungen König mit der Aufgabe, die er selbst nie erfüllt hatte. Obwohl er in Gottes Heiligtum Zuflucht suchte, wurde Joab seiner gerechten Strafe zugeführt (vgl. 1Kön 2,5–6; 28–34), der legendäre Krieger als Hochverräter hingerichtet.
Paulus schreibt in Bezug auf die alttestamentliche Geschichte Israels: „Diese Dinge aber sind zum Vorbild für uns geschehen, damit wir nicht nach dem Bösen begierig werden, so wie jene begierig waren“ (1Kor 10,6). Joabs Leben, wie so viele der Geschichten innerhalb der großen Story des Volkes Gottes, ist eine Tragödie. Gott beabsichtigt also, dass wir auch von negativen Vorbildern lernen.
Sünde nicht abtöten
Sein grausames Schicksal hatte Joab seiner eigenen Rachgier zu verdanken. Abner, Heerführer der Nordisraeliten, die das Haus Sauls noch unterstützten, brachte Joabs Bruder Asahel im Kampf um (vgl. 2Sam 2,17–22). Obwohl Joab bereits ein erfahrener Krieger war, konnte er die Trauer um seinen Bruder nicht zügeln. Als Abner David einen diplomatischen Besuch abstattete, um Friedensbedingungen auszuhandeln und den Krieg zu beenden, nutzte Joab die Gelegenheit und verübte ein Attentat auf seinen arglosen Feind.
„Für Christen bietet Joabs Leben ein Paradebeispiel, wie gefährlich Sünde wird, wenn wir ihr Raum geben.“
Gewissermaßen war seine Tat nachvollziehbar. Aber sie war nicht zu entschuldigen. Er war nicht bereit, Gottes Zorn Raum zu geben (vgl. Röm 12,19) und ließ sich stattdessen von seinem eigenen Zorn leiten. Und wie alle Sünden, die nicht abgetötet werden (vgl. Röm 8,13), wucherte sie in seinem Herzen und wurde größer. Joab wurde immer gnaden- und skrupelloser, bis er seinen letzten Mord beging – einfach weil er es konnte und wollte.
Für Christen bietet Joabs Leben ein Paradebeispiel, wie gefährlich Sünde wird, wenn wir ihr Raum geben, in diesem Fall z.B. Zorn und Rachegelüste. Stattdessen müssen wir die Sünde bekämpfen und dürfen dabei selbst ihre Folgen als liebevolle Züchtigung unseres himmlischen Vaters betrachten (vgl. Hebr 12,4–11).
Zurückschrecken vor Gemeindezucht
Dabei war Joab nicht allein daran schuld, dass sein Leben auf die schiefe Bahn geriet. Richtig, er hatte, wie bereits erwähnt, seine Schattenseite. Doch Joab ließ auch die Schattenseite eines anderen Menschen sichtbar werden – die des Königs David.
Als David noch in der Wüste auf der Flucht vor König Saul lebte, vergalt der reiche Nabal die Hilfe und Freundlichkeit Davids und seiner Truppe mit undankbarem Lästern. Nur durch das mutige und kluge Eingreifen Abigails, der Frau Nabals, wurde David davon abgehalten, „Blut zu vergießen und [sich] mit eigener Hand zu helfen“ (1Sam 25,26). Das ist dieselbe Sünde, die Joab wiederholt begehen würde.
So war auch Davids Reaktion auf den Mord an Abner mangelhaft. Er kritisierte Joab zwar heftig (vgl. 2Sam 2,29.39), verhing aber keine echte Strafe gegen ihn. Der Mörder durfte Heerführer über Davids Armee bleiben. Joab war offensichtlich zu begabt, um ihn fallen zu lassen. Der König profitierte von Joabs militärischem Können. Aber sein Versäumnis, in dieser Situation ein gerechtes Urteil zu vollstrecken, würde am Ende zu Konsequenzen für ihn und sein Königreich führen.
Ein skrupelloser Heerführer war für David auch von Vorteil, als er den Ehebruch mit Bathseba vertuschen wollte. Da Joab David einen Gefallen schuldete, nachdem er seine Position behalten durfte, ließ der König den betrogenen Ehemann Urija durch Joabs Befehl umbringen (vgl. 2Sam 11,14–17). Damit konnte er die schwangere Mutter seines unehelichen Kindes heiraten und die Sache vertuschen.
Spätestens jetzt war Joab nicht mehr loszuwerden. Wie konnte David ihn jemals wieder bestrafen oder entlassen, da er (nahezu buchstäblich!) um die Leichen in Davids Keller wusste? Davids einziger Versuch dazu, nachdem Joab seinen Befehl ignoriert und seinen Sohn Absalom getötet hatte, war lächerlich. Der König wollte Joab ausnutzen, übergab ihm letztlich aber den Großteil seiner eigenen Macht.
Das bietet eine treffende Warnung für die Gemeinde heute. Sogar unter den besten Umständen fällt uns Gemeindezucht nicht leicht, so notwendig sie auch ist. Es macht keinen Spaß, Menschen in der Gemeinde mit ihrer Sünde zu konfrontieren und die Konsequenzen zu ziehen – umso weniger, wenn es sich um Menschen handelt, die durch ihre Begabungen einen besonders wichtigen Beitrag zum Gemeindeleben leisten. Wie viele Christen haben die Augen vor den Vergehen von begabten Predigern und Leitern verschlossen, weil es unvorstellbar war, dass ausgerechnet diese Person ihren Dienst aufgeben müsste?
„Wie viele Christen haben die Augen vor den Vergehen von begabten Predigern und Leitern verschlossen, weil es unvorstellbar war, dass ausgerechnet diese Person ihren Dienst aufgeben müsste?“
Diese Haltung führt aber nicht nur dazu, dass die schuldige Person keine Buße tut und immer schlimmere Sünden begehen kann, sondern auch die Gemeinde (zumindest die Mitglieder, die von der Sünde wissen) wird häufig anfälliger für Versuchungen zur Sünde. Echte Rechenschaft unter Geschwistern kann es unter diesen Umständen nicht mehr geben. Paulus’ Ermahnung an die Galater trifft zu: „Brüder, wenn auch ein Mensch von einer Übertretung übereilt würde, so helft ihr, die ihr geistlich seid, einem solchen im Geist der Sanftmut wieder zurecht; und gib dabei acht auf dich selbst, dass du nicht auch versucht wirst!“ (Gal 6,1).
„Es hat noch nie ein vergeudetes Leben gegeben“
Eine der schwierigen Aufgaben für einen Pastor besteht darin, bei der Beerdigung eines bekennenden oder wahrscheinlichen Nichtchristen zu predigen. Welchen Trost kann man den Angehörigen wirklich anbieten? Für solche Situationen hat mir ein erfahrener Pastor zwei Dinge mitgegeben, die meinen Ansatz geprägt haben. Erstens: Dein Auftrag ist es, das Evangelium zu predigen – egal was es sonst zu sagen gibt, diese Botschaft müssen die Besucher hören. Zweitens: Gott hat bei keinem Menschen versäumt, ihn nach seinem Bild zu schaffen und ihn für seine guten Zwecke zu gebrauchen. Wie tragisch das Leben des Menschen auch verlaufen ist – es hat noch nie ein wirklich vergeudetes Leben gegeben. Diese Perspektive kann uns auch im Hinblick auf Joab helfen, zu verstehen, inwiefern sogar seine tragische Lebensgeschichte „zu unserer Belehrung zuvor geschrieben [wurde], damit wir durch das Ausharren und den Trost der Schriften Hoffnung fassen“ (Röm 15,4).
Joab wurde tatsächlich von Gott gebraucht, teils auf dramatische Art und Weise. Durch seine Tapferkeit wurde die kanaanitische Festung Zion zur „Stadt Davids“ (1Chr 11,7), einem Ort, den die späteren Propheten – wie auch das Neue Testament – als Bild von Gottes ewig geliebtem Volk verwenden würden (vgl. bspw. Jes 2,1–5 oder Hebr 12,22). Man kann Joab zwar nicht wirklich als „fromm“ beschreiben, aber mindestens einmal ermutigte er seine Mitstreiter vor einem harten Kampf mit folgenden Worten: „Sei stark, ja, lass uns stark sein für unser Volk und für die Städte unseres Gottes; der Herr aber tue, was ihm gefällt!“ (2Sam 10,12). Wurde Gott durch den Sieg, den Joab danach erringen konnte, nicht verherrlicht?!
Joabs Charakter war nicht in jeder Hinsicht verdorben. Seine Loyalität gegenüber David führte ihn zwar manchmal dazu, Unrecht zu tun, aber die Treue war echt: Er liebte seinen König und tat fast immer, was (jedenfalls seiner Meinung nach) zu Davids Bestem diente, auch wenn dies den Wünschen des Königs nicht entsprach. Joab versuchte, David von seiner geplanten Volkszählung abzuraten (vgl. 2Sam 24,3). Laut 1. Chronik 21,6 führte er diese auch nicht vollständig durch, weil der Plan für ihn so problematisch war.
Manchmal war Joab vernünftiger als David: Als dieser laut und öffentlich Absaloms Tod beklagte, der zuvor das ganze Volk durch seine Rebellion in große Unruhe gebracht hatte, wies Joab ihn zurecht. Einen Tag des Sieges und der Rettung sollte David nicht zu einem Anlass der Trauer und Beschämung machen (vgl. 2Sam 19,1–9). Man könnte sogar argumentieren, dass Joab recht hatte, den rebellischen Kronprinzen trotz Davids Wunsch zu töten (vgl. 2Sam 18,5). Er hatte durch seinen Putsch schließlich den Tod eines Hochverräters verdient. Wer weiß, welche Folgen es für das bereits destabilisierte Königreich gehabt hätte, hätte man Absalom noch eine Chance gegeben? David und das ganze Volk Gottes hatten Joab wirklich viel zu verdanken.
Können wir Jesus im Leben Joabs sehen?
Ist es möglich, hier noch einen Schritt weiterzugehen und zu behaupten, dass sogar die Schriften, die Joabs Geschichte erzählen, Jesus Christus bezeugen? Ich glaube schon.
Joab machte nicht nur Davids sündige Schattenseiten sichtbar, sondern verkörperte Tugenden, an denen es David mangelte. Er konnte entschlossen handeln, wenn David zu vorsichtig oder unsicher war. Joab verstand Davids Motive und konnte ihn mindestens einmal durch ein kluges Gleichnis von einer Handlungsweise überzeugen (vgl. 2Sam 14,1–22). Das, was Joab als Helden Israels ausmachte, ergänzte Davids Größe als König.
Genau durch diese Tugenden – Entschlossenheit und Weisheit – hebt sich Jesus von seinem Vater David ab. Jesus war stets selbstbewusst. Er konnte harte Worte verwenden, auch gegenüber seinen engsten Freunden (vgl. Mt 16,23). Er war bereit, sogar mit Gewalt einzugreifen, um Unrecht zu bekämpfen (vgl. Joh 2,15). Er „wusste selbst, was im Menschen war“ (Joh 2,25) und konnte durch sein Reden Menschen überzeugen, überführen oder sich sogar mit ihnen verfeinden – je nachdem, was dem göttlichen Auftrag am besten diente.
Jesus war aber anders als David und Joab, denn er setzte diese Tugenden nicht nur stellenweise und mit Sünde vermischt ein, sondern in perfekter Beherrschung. Er übte keine Rache und missachtete nie die Befehle seines Herrn. Jesus zügelte die Joab ähnlichen Eigenschaften seiner Jünger und hielt sie vom Bösen zurückt, damit sie lernten, Entschlossenheit und Weisheit durch Gerechtigkeit, Demut und Liebe zu mäßigen.
Jesus, der Sohn Davids, zeigt uns, dass selbst ein beeindruckender, aber fatal fehlerhafter Charakter wie der von Joab nicht zwingend einem tragischen Schicksal erliegen muss. Joabs Qualitäten, wie sehr sie bei ihm durch Sünde verzerrt wurden, zeigen etwas von der Ebenbildlichkeit Gottes. Jesus spiegelte sie perfekt wider und kam, um sie von Sünde zu reinigen, zu befreien und zu erneuern. So dürfen wir Joab nicht nur beurteilen und betrauern, sondern auch bewundern und in seinem teils finsteren Vorbild sogar Jesus erblicken.