Der Kanon der Bibel

Artikel von Michael Kruger
26. Juli 2024 — 10 Min Lesedauer

Die Bibel ist ein ungewöhnliches Buch. Anders als die meisten modernen Bücher besteht sie aus vielen kleinen Büchern, die von einer Vielzahl von Autoren zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten geschrieben wurden. Das wirft natürlich Fragen darüber auf, wie diese Bücher zu einem einzigen Buch zusammengestellt wurden. Wann ist das passiert? Wer hat die ausschlaggebenden Entscheidungen getroffen? Und warum sollten wir dem Endresultat vertrauen? All diese Fragen beziehen sich auf den sogenannten biblischen „Kanon“. Dieser Begriff bezieht sich auf die Sammlung der biblischen Bücher, die Gott seinem Volk gegeben hat.

Wir können sowohl „historische“ als auch „theologische“ Fragen an den Kanon stellen. Historische Fragen zum Kanon beziehen sich auf das wann und wie. Zu welchem Zeitpunkt in der Geschichte wurden unsere alttestamentlichen und neutestamentlichen Bücher zu einem ganzheitlichen Korpus zusammengefasst? Welche Kräfte oder Personen haben diesen Prozess beeinflusst? Theologische Fragen beziehen sich eher auf die Legitimität und Autorität des Kanons. Haben wir Grund zur Annahme, dass dies die richtigen Bücher sind? Können wir überhaupt wissen, ob wir die richtigen Bücher haben? Dieser Aufsatz wird sich in gebotener Kürze mit den Fragen dieser beiden Kategorien befassen.

Historische Fragen

Was das Alte Testament betrifft, gibt es gute Gründe zu der Annahme, dass es zur Zeit Jesu einen festen Korpus von Büchern gab. Bei dem jüdischen Historiker Josephus aus dem 1. Jahrhundert findet sich eine Liste von 22 von den Juden akzeptierten alttestamentlichen Büchern, die unserer heutigen Sammlung von 39 Büchern zu entsprechen scheint.[1] Zumindest für Josephus scheint der alttestamentliche Kanon festzustehen: „Denn obwohl nun so lange Zeitalter vergangen sind, hat es niemand gewagt, auch nur eine Silbe hinzuzufügen oder zu streichen oder zu ändern.“[2]

Die Kommentare von Josephus werden durch Philon von Alexandria bestätigt, eine andere jüdische Quelle aus dem 1. Jahrhundert. Philon weist auf eine Dreiteilung des alttestamentlichen Kanons hin: „[D]ie Gesetze und die von den heiligen Propheten verkündigten heiligen Orakel Gottes … und die Psalmen.“[3] Diese dreifache Struktur scheint mit Jesu eigenen Worten übereinzustimmen, wonach das Alte Testament aus dem „Gesetz Moses und … den Propheten und den Psalmen“ besteht (Lk 24,44). Weitere Anklänge an eine Dreiteilung des Alten Testaments finden sich im jüdischen Werk Ben Sira (Ecclesiasticus) und in einem fragmentarischen Text aus Qumran, der als 4QMMT bekannt ist.

Eine weitere Möglichkeit, den Stand des alttestamentlichen Kanons im 1. Jahrhundert zu ermitteln, besteht darin, die Art und Weise zu betrachten, in der die neutestamentlichen Autoren die alttestamentlichen Bücher verwenden. Obwohl das Alte Testament häufig von den neutestamentlichen Autoren zitiert wird, gibt es keinen Hinweis auf einen Streit hinsichtlich der Grenzen des alttestamentlichen Kanons. Tatsächlich gibt es keinen einzigen Fall, in dem ein neutestamentlicher Autor ein Buch als Heilige Schrift zitiert, das nicht in unserem gegenwärtigen Kanon von neununddreißig Büchern enthalten ist. Außerdem gibt es keine Hinweise darauf, dass zwischen Jesus und der jüdischen Führerelite seiner Zeit – mit der er in vielen Fragen uneins war – Uneinigkeit darüber herrschte, welche Bücher zur Heiligen Schrift gehörten. Wäre der alttestamentliche Kanon damals noch nicht abgeschlossen gewesen, dann wäre diese Tatsache nur schwer zu erklären.

Zusammenfassend können wir Stephen Chapman zustimmen, wenn er feststellt, dass „um die Jahrtausendwende ein jüdischer Kanon der Heiligen Schrift weitgehend vorhanden war, wenn auch nicht absolut definiert und in seinem Umfang begrenzt“.[4]

Was den neutestamentlichen Kanon betrifft, so scheint es einen Kern von Büchern zu geben – etwa 22 von 27 –, die um die Mitte des 2. Jahrhunderts als Heilige Schrift fungierten. Im Allgemeinen umfasste dieser Kern die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, die dreizehn Paulusbriefe, Hebräer, 1. Petrus, 1. Johannes sowie die Offenbarung. Bei den „umstrittenen“ Büchern handelte es sich in der Regel um die kleineren Bücher wie 2. Petrus, Judas, Jakobus und den 2. und 3. Johannesbrief.

Dennoch scheint es, dass die Christen die neutestamentlichen Schriften schon vor dem 2. Jahrhundert als Heilige Schrift verwendeten. Im 2. Petrusbrief werden die Briefe des Paulus als „Schriften“ bezeichnet (vgl. 2Petr 3,16), was zeigt, dass ein Korpus von Paulusbriefen bereits in Umlauf war und als gleichwertig mit den alttestamentlichen Büchern angesehen wurde. In ähnlicher Weise wird in 1. Timotheus 5,18 ein Ausspruch Jesu als Schrift zitiert: „Der Arbeiter ist seines Lohnes wert.“ Die einzige bekannte Übereinstimmung mit diesem Spruch ist Lukas 10,17.

„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die ersten Christen in der Frage der Bücher des Neuen Testaments bemerkenswert früh einig waren.“
 

Im 2. Jahrhundert wird diese Verwendung der neutestamentlichen Schriften fortgesetzt. Der Kirchenvater Papias von Hierapolis scheint zumindest die Evangelien von Markus und Matthäus sowie den 1. Petrusbrief, den 1. Johannesbrief, die Offenbarung und vielleicht einige der Paulusbriefe zu erhalten.[5] In der Mitte des 2. Jahrhunderts besitzt Justin der Märtyrer eine vierfache Evangeliensammlung, die im Gottesdienst neben den alttestamentlichen Büchern gelesen wird.[6] Und zur Zeit des Irenäus, der im späten 2. Jahrhundert Bischof von Lyon ist, haben wir es mit einem fast vollständigen neutestamentlichen Korpus zu tun. Sein Kanon besteht aus etwa zweiundzwanzig von siebenundzwanzig neutestamentlichen Büchern, die er als Heilige Schrift betrachtet und über tausendmal zitiert.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die ersten Christen in der Frage der Bücher des Neuen Testaments bemerkenswert früh einig waren. Zwar wurden erst im 4. Jahrhundert die Streitigkeiten über einige der peripheren Bücher beigelegt, der Kern des neutestamentlichen Kanons stand jedoch schon lange vorher fest.

Theologische Fragen

Auch wenn die oben genannten historischen Belege Antworten auf die Frage geben, wann und wie der Kanon entstand, bleiben die Fragen seiner Autorität und Gültigkeit weiter bestehen. Woher wissen wir, dass dies die richtigen sechsundsechzig Bücher sind? Kann die Kirche wissen, ob ein Buch tatsächlich von Gott kommt? Im Folgenden werden wir kurz drei Eigenschaften betrachten, die alle kanonischen Bücher gemeinsam haben.

Göttliche Wesensmerkmale

Das erste zu berücksichtigende Merkmal – und eines, das oft übersehen wird – ist, dass wir gute Gründe zu der Annahme haben, dass Bücher, die von Gott stammen, in sich selbst Beweise für ihren göttlichen Ursprung enthalten. Die Reformatoren bezeichneten diese als göttliche Wesensmerkmale oder Indikatoren (indicia). Wenn Gott wirklich derjenige ist, der hinter diesen Büchern steht, dann würden wir erwarten, dass diese Bücher das Wesen Gottes in sich tragen.

Dass die geschaffene Welt von Gott kommt, wissen wir deshalb, weil wir in ihr die Wesensmerkmale Gottes offenbart sehen (vgl. Ps 19; Röm 1,20). Ebenso würden wir von Gottes spezieller Offenbarung – seinem geschriebenen Wort – erwarten, dass auch darin sein Wesen offenbart wird. Beispiele solcher Merkmale in Gottes Wort sind Schönheit und Vortrefflichkeit (vgl. Ps 19,8; 119,103), Kraft und Wirksamkeit (vgl. Ps 119,50; Hebr 4,12–13) sowie Einheit und Harmonie (vgl. 4Mose 23,19; Tit 1,2; Hebr 6,18).

Aufgrund dieser göttlichen Wesensmerkmale erkennen die Christen in der Bibel die Stimme ihres Herrn. Wie Jesus selbst es sagte: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir nach“ (Joh 10,27).

Natürlich werden Nichtchristen gegen die Vorstellung göttlicher Wesensmerkmale in der Bibel Einspruch erheben, weil sie persönlich diese nicht erkennen. Aber wir müssen bedenken, dass der Sündenfall den Menschen verdorben und verfinstert hat. Um die Wesensmerkale Gottes richtig erkennen zu können, braucht es das, was die Reformatoren das „innere Zeugnis des Heiligen Geistes“ nannten. Denjenigen, die in Christus sind, öffnet der Geist die Augen, um das göttliche Wesen zu erkennen, das in diesen Büchern tatsächlich objektiv vorhanden ist.

Gemeinschaftliche Rezeption

Es ist wichtig zu beachten, dass das Wirken des Geistes nicht nur auf individueller, sondern auch auf gemeinschaftlicher Ebene stattfindet. Es gibt also gute Gründe für die Annahme, dass Gottes kollektives Bundesvolk schließlich die Bücher (an-)erkennen würde, die von ihm stammen. Wenn dem so ist, dann ist der Konsens des Volkes Gottes (sowohl in der Zeit des alten als auch des neuen Bundes) ein zuverlässiger Anhaltspunkt dafür, welche Bücher von Gott kommen.

„Herman Ridderbos hat wie folgt argumentiert: ‚Christus wird seine Kirche gründen und bauen, indem er die Kirche veranlasst, genau diesen Kanon anzunehmen und ihn – durch den Beistand und das Zeugnis des Heiligen Geistes –  als den seinen anzuerkennen.‘“
 

Das bedeutet nicht, dass wir erwarten sollten, dass das Volk Gottes sofortige und absolute Einigkeit über die kanonischen Bücher erzielt. Meinungsverschiedenheiten und Unstimmigkeiten wird es immer geben (so wie bei jeder anderen Lehre auch). Aber wir können einen vorherrschenden oder allgemeinen Konsens durch die Jahrhunderte hindurch erwarten – und genau diesen finden wir auch.

Herman Ridderbos hat wie folgt argumentiert:

„Christus wird seine Kirche gründen und bauen, indem er die Kirche veranlasst, genau diesen Kanon anzunehmen und ihn – durch den Beistand und das Zeugnis des Heiligen Geistes –  als den seinen anzuerkennen.“[7]

Autoritative Autoren

Ein letztes Merkmal der kanonischen Bücher ist, dass sie von Gottes auserwählten Dienern, seinen inspirierten Propheten und Aposteln, geschrieben wurden. Einfach ausgedrückt: Nicht jeder kann für Gott sprechen, sondern nur diejenigen, die dazu beauftragt sind, sein Sprachrohr zu sein. Im Alten Testament waren das die Propheten und andere inspirierte Sprecher (vgl. Röm 1,2; 2Petr 3,2). Im Neuen Testament waren die Apostel die maßgeblichen Zeugen Christi (vgl. Mk 3,14–15; Mt 10,20; Lk 10,16).

Wir haben gute historische Belege dafür (die hier nicht genauer untersucht werden können), dass die Bücher in unserer Bibel entweder direkt auf Apostel bzw. Propheten zurückgehen oder zumindest auf eine historische Situation, in der das jeweilige Buch vernünftigerweise die Lehren eines Apostels bzw. Propheten enthalten könnte. Wir akzeptieren zum Beispiel den Pentateuch (die ersten fünf Bücher der Bibel) als von Gott stammend, weil wir glauben, dass Mose der Verfasser war. Ebenso akzeptieren wir Bücher wie den 1. und 2. Korintherbrief, weil wir glauben, dass der Apostel Paulus der Verfasser war. Und wir akzeptieren sogar anonyme Bücher wie den Hebräerbrief, weil wir gute Gründe für die Annahme haben, dass der Autor seine Informationen direkt von den Aposteln erhielt (vgl. Hebr 2,3–4; 13,23).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir großes Vertrauen in den Status sowohl unseres alttestamentlichen als auch unseres neutestamentlichen Kanons haben können. Wir wissen nicht nur viel über die historischen Prozesse, die zu diesen Kanones führten; Gott hat uns auch Möglichkeiten gegeben, die Bücher zu erkennen, die von ihm stammen: nämlich diejenigen, die göttliche Wesensmerkmale aufweisen, von seinem Bundesvolk gemeinschaftlich rezipiert und (an-)erkannt und von autoritativen Autoren verfasst wurden.

Weiterführende Literatur

  • Andrew E. Steinmann, The Oracle of God: The Old Testament Canon, St. Louis: Concordia Publishing House, 1999.
  • Bruce M. Metzger, Der Kanon des Neuen Testaments. Entstehung, Entwicklung, Bedeutung, Ostfildern: Patmos, 2012.
  • F.F. Bruce, The Canon of Scripture, Downer Grove: IVP Academic, 1988.
  • F.F. Bruce, Die Glaubwürdigkeit der Schriften des Neuen Testaments. Eine Untersuchung ihrer Entstehung und ihrer Überlieferung, Liebenzell: VLM, 1976.
  • Greg Lanier, A Christian’s Pocket Guide to How We Got the Bible, Fearn: Christian Focus, 2018.
  • Herman Ridderbos, Redemptive History and the New Testament Scriptures, 2. Aufl., Phillipsburg, New Jersey: P&R Publishing, 1988.
  • Gerhard Maier (Hrsg.), Der Kanon der Bibel, Maier, Gießen: Brunnen Verlag, 1990.
  • Michael J. Kruger, Canon Revisited: Establishing the Origins and Authority of the New Testament Books, Wheaton: Crossway, 2012.
  • Michael J. Kruger, The Question of Canon: Challenging the Status Quo in the New Testament Debate, Downer Grove: IVP Academic, 2013.
  • R.T. Beckwith, The Old Testament Canon of the New Testament Church, and Its Background in Early Judaism, Eugene: Wipf and Stock, 2008.

1Vgl. Flavius Josephus, Contra Apionem, 1.38–42.

2Ebd., 1.42.

3Philon von Alexandria, De Vita Contemplativa, 25.

4Stephen Chapman, „The Old Testament Canon and Its Authority for the Christian Church“, in: Ex Auditu (19), 2003, S. 125–148, hier S. 137.

5Vgl. Eusebius, Historia ecclesiastica, 3.39.15–16.

6Vgl. Justin der Märtyrer, Erste Apologie, 47.3.

7Herman Ridderbos, Redemptive History and the New Testament Scriptures, 2. Aufl., Phillipsburg, New Jersey: P&R Publishing, 1988, S. 37.