Ist Sünde noch ein Thema?
Der junge Teufel Wormwood ist ganz aus dem Häuschen: „Krieg! Endlich herrscht Krieg. Dazu der entsprechende Hass, die Gewalt, die Verrohung, das Chaos, die Angst und Verwirrung. Wie herrlich, dass er das erleben und voll auskosten darf!“
Sein Onkel und zugleich ein Hochrangiger in der Hierarchie, Screwtape, ist da zurückhaltender. Er schreibt ihm:
„Zum erstenmal in Deiner Laufbahn durftest du von jenem Weine kosten, der unserer Mühe und Arbeit Lohn ist – die Angst und die Verwirrung einer Menschenseele –, und dieser Wein ist Dir in den Kopf gestiegen … Die momentane Angst und die ungeheuren Leiden der Menschen sind für die Myriaden unserer hart geplagten Arbeit eine berechtigte und angenehme Erfrischung. Aber welch bleibenden Gewinn haben wir davon, wenn wir diese Gelegenheit nicht nützen können, um Unserem-Vater-in-der-Tiefe Seelen zuzuführen?“[1]
Dass sich Krieg als herrliche Gelegenheit dafür eignen soll, den Glauben anzugreifen, hält Screwtape allerdings für übertrieben. Ja, Ungewissheit und Angst verschließen das Herz vor dem Glauben. Die größtmögliche Ungewissheit durch sich völlig widersprechende Vorstellungen über Zukunft, Hoffnung und Sicherheit wird dann jedoch umso wirkungsvoller, wenn diese als Teufelgehilfen aus dem Verborgenen heraus agieren und nicht so offensiv in Erscheinung treten. Der Schutz der Ungewissheit, die Nicht-Existenz als die größte Geheimwaffe der Finsternis.
Dies alles nachzulesen bei C.S. Lewis in seinem Buch Anweisung an einen Unterteufel, geschrieben während des 2. Weltkriegs.
Warum starte ich mit so einem Buchauszug in die mir gegebene Fragestellung: „Ist Sünde noch ein Thema?“ Weil der Krieg und die tiefen Tiefen menschlicher Abgründe der NS-Zeit damals vor 80 Jahren unser Selbstverständnis vom Menschen erschütterten. Dasselbe geschieht heute durch den Angriff Russlands auf die Ukraine im Frühjahr 2022, sowie durch den barbarischen Terror der Hamas mit ihrem Angriff am 7. Oktober 2023 auf Israel.
Wir hören von solchen Taten, sehen die Schrecken der Bilder, lesen die dramatischen Berichte und stellen dann fest: Hier ist das „reine Böse“[2] am Werk! Wir wundern uns, was da geschehen ist und wie es so weit kommen konnte. Wir erschrecken davor, wozu Menschen fähig sind – im Nahen Osten, im Donbass und in unserem eigenen Land.
Doch wieso wundern wir uns eigentlich? Weil wir, um es mit C.S. Lewis zu sagen, auf die Hauptstrategie des Teufels hereingefallen sind: auf die Leugnung, dass es Sünde überhaupt gibt, dass es das Böse gibt, dass der Satan existiert, dass es überhaupt eine Transzendenz gibt. Und damit sind wir schon mitten im ersten Punkt angekommen:
1. Die Leugnung der Sünde
„Ist Sünde noch ein Thema?“ Viel zu wenig! Und genau dies ist das Problem. Der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor hält dazu fest: „Ehe die Neuzeit anbrach, galt ein allgemeines Menschenbild, das dem Menschen einen Platz in einer Ordnung anwies, in der er nicht an der Spitze stand.“[3]
Unsere Zeit dagegen wird von Taylor als ein säkulares Zeitalter beschrieben, in dem ein „völlig selbstgenügsamer Humanismus“ von vielen Menschen als überzeugendste Option gewählt wird, in der weder Ziele noch Loyalität gegenüber einer Instanz jenseits des individuellen Menschen akzeptiert werden. Im Blick hat er hierbei alle denkerischen Nachfolger von Nietzsche bis hin zum Dekonstruktivismus und Poststrukturalismus.[4]
Was folgt daraus? Ich zitiere erneut Taylor:
„In diesem anthropozentrischen Klima muß die Vorstellung vom Spirituellen, sofern überhaupt noch vorhanden, völlig konstruktiv und positiv sein. Sie … ist immer weniger dazu imstande, einen strafenden Gott in Betracht zu ziehen. Der Zorn Gottes verschwindet, und zurück bleibt nur seine Liebe. Nach älterer Auffassung mußte der Zorn mit zum Gesamtpaket gehören. Das Gefühl der Erlösung war vom Eindruck der Sündigkeit und Niedrigkeit nicht zu trennen vom Begriff der verdienten Strafe.“[5]
Was für C.S. Lewis also noch ein Gedankenkonstrukt war – auch wenn es sich bereits deutlich abgezeichnete –, ist mit der anthropozentrischen Wende in der westlichen Welt in den vergangenen 80 Jahren Wirklichkeit geworden. Bei Nietzsche war es noch ein Gedanke, der seinen „tollen Menschen“ zur Klage veranlasste:
„Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet – wer wischt dieses Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen?“[6]
Die massive Veränderung im Wirklichkeitsverständnis der vergangenen rund 50 Jahre, diese anthropozentrische Wende, lässt uns überhaupt nicht mehr klagen, dass Gott tot ist. Nein, wenn Gott überhaupt existieren sollte, dann muss er mir gut tun, dann muss er mir dienen, mein Leben bereichern. Sonst ist er überflüssig. Was für eine Arroganz! Was für ein Wirklichkeitsverständnis tragen wir – wir sind Kinder unserer Zeit und Teil dieser Gesellschaft – in uns? Mit dieser Veränderung, die zur Aufgabe der Metaphysik geführt hat, hat der Teufel, die listige Schlange, ganze Arbeit geleistet, um uns zu verwirren. Ein Krieg, Terror – das erschreckt uns und stört sogar die vermeintliche Selbstsicherheit der abgeschlossenen Diesseitigkeit, in der wir leben.
„Was für C.S. Lewis noch ein Gedankenkonstrukt war, ist mit der anthropozentrischen Wende in der westlichen Welt in den vergangenen 80 Jahren Wirklichkeit geworden.“
Wenn wir nun von Sünde reden, reden wir von einer anderen Wirklichkeit. Wir reden von etwas, dessen Dimension diese Welt – und leider viel zu häufig auch die Kirche – gar nicht erfassen kann. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben beschrieb dies wunderbar in seinem Essay über Jesus vor Pilatus. Er schildert den biblischen Bericht aus Johannes 18 als eine historische Krise, also eine historische Zuspitzung und Trennung des Wirklichkeitsverständnisses. In diesem Gerichtsprozess stehen sich zwei Reiche gegenüber: das menschliche und das göttliche, das zeitliche und das ewige. Die Absurdität liegt darin, dass das irdische Reich ein Urteil über das ewige Reich spricht. Dazu schreibt Agamben:
„Hier und jetzt von der Wahrheit des Reichs, das nicht hier ist, zu zeugen, heißt anzuerkennen, dass wir das, was wir erlösen wollen, richten. Denn die Welt in ihrer Vergänglichkeit will nicht Erlösung, sondern Gerechtigkeit. Und sie will sie eben deshalb, weil sie nicht erlöst werden möchte.“[7]
Die bleibende Aufgabe der Theologie besteht also darin, Zeugnis abzulegen und den Versuch zu wagen, eine Brücke zu schlagen zwischen Gegenwartserfahrung und Ewigkeit, zwischen erfahrener Immanenz und erhoffter Transzendenz. Es gilt, um Wege zu ringen, die aus der abgeschlossenen Diesseitigkeit herausführen in eine Versöhnung mit der Endlichkeit, ohne auf die Transzendenz verzichten zu müssen.
„Die bleibende Aufgabe der Theologie besteht also darin, Zeugnis abzulegen und den Versuch zu wagen, eine Brücke zu schlagen zwischen Gegenwartserfahrung und Ewigkeit, zwischen erfahrener Immanenz und erhoffter Transzendenz.“
Es gilt, für uns darum zu ringen, was es heißt, wenn der Apostel Paulus in Römer 5,1 schreibt: „Da wir nun aus Glauben gerechtfertigt sind, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus.“ Ebenso 2. Korinther 5,17: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen; siehe, es ist alles neu geworden!“
So ist es von zentraler Bedeutung, dass wir, die wir in Gottes Gegenwart kommen dürfen, uns selbst erkennen, wie es bei Jesaja in Kapitel 6 geschah. In der Gegenwart des lebendigen und heiligen Gottes werden wir überführt in Bezug auf uns selbst. Nicht dass wir meinen, was wir alles vorzuweisen hätten, sondern im Gegenteil. Wir rufen: „Wehe mir, ich vergehe! Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und wohne unter einem Volk, das unreine Lippen hat“ (Jes 6,5). In der Gegenwart Gottes werden wir überführt von uns selbst und unserem eigentlichen Zustand.
Gerade dieses Überführtwerden, diese Ent-Täuschung über die Leugnung der Sünde ist jedoch von ganz zentraler Bedeutung. Sowohl für unser Wirklichkeitsverständnis als auch als Grundlage für die Lehre der Rechtfertigung und der Gnade. Martin Luther spricht daher immer wieder von der cognitio suiipsius, von der wahren Selbsterkenntnis, die gerade in der Erkenntnis der sündhaften Verstrickung liegt. Denn der Apostel Johannes schreibt in seinem ersten Brief:
„Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit.“ (1Joh 1,8–9)
2. Die Lehre der Sünde
Das führt uns zum zweiten Punkt, der Lehre der Sünde. Was ist Sünde eigentlich? Der Systematiker Ingolf Dalferth schreibt dazu:
„Wir wollen Herren unserer eigenen Existenz und damit wie Gott sein. Doch das Geschöpf kann niemals an die Stelle des Schöpfers treten, und es pervertiert sich und sein Vermögen, wenn es das zu tun versucht. Insofern manifestiert die Sünde die Blindheit der Menschen gegenüber dem Grundcharakter ihrer eigenen Existenz und zugleich ihre Verblendung, dass es eine solche Blindheit doch überhaupt nicht gäbe.“[8]
Die Leugnung der Sünde ist also bereits ein signifikantes Zeichen einer gefallenen Welt. Die Blindheit über die eigene Sünde ist Ausdruck der Verlorenheit. Insofern war es Wahrheit und Lüge zugleich, als die Schlange in 1. Mose 3,5 zu Eva sagte: „An dem Tag, da ihr davon esst, werden euch die Augen geöffnet, und ihr werdet sein wie Gott und werdet erkennen, was Gut und Böse ist!“ Eine gewisse Erkenntnis des Guten und Bösen in dieser Welt folgte tatsächlich, doch zugleich wurden die beiden blind für die eigene Situation, die eigene Existenz.
Doch was ist Sünde? In 1. Mose 3 finden wir bereits das ganz zentrale Bild: den Wunsch des Menschen, selbst Gott sein zu wollen. Dahinter verbirgt sich der eigentliche Wunsch des Teufels, wie wir es dann auch in Matthäus 4 bei der Versuchung Jesu in der Wüste entlarvend lesen können: Es ist eigentlich der Satan selbst, der Gott sein möchte und angebetet werden will. Aber auch Adam und Eva treten in diese Nachfolge. Daher ist Sünde ein Misstrauen, eine Rebellion gegen eine von Gott vorgegebene, heilsame Ordnung.
Der Kirchenvater Augustin hat sich im 4. und 5. Jahrhundert intensiv mit dieser zentralen Beschreibung von Sünde beschäftigt und kommt zu der Unterscheidung, dass Sünde darin besteht, dass statt der Gottesliebe, der amor dei, die Selbstliebe, die amor sui, den ersten Platz einnimmt. Das biblische Gebot wird vertauscht, heißt es doch in Lukas 10,27: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Nun tritt jedoch die Selbstliebe an die Stelle der Gottesliebe. Das biblische Gebot, das sich sowohl an ganz zentraler Stelle bei Mose als auch in drei Evangelien in den Worten Jesu findet, wird also auf den Kopf gestellt.
Dieser Zustand ist das Eigentliche, das die Sünde lehrt, nämlich keine Tat, kein moralisches Fehlverhalten, sondern einen Wesensbegriff des Menschen. Daher wird in der Dogmatik auch unterschieden zwischen dem status integritatis, dem Stand der Unversehrtheit des Menschen vor dem Sündenfall, und dem status corruptionis, dem Stand der Verderbnis nach dem Fall. Die Wurzel war die Schlange, die das Misstrauen und den Unglauben gesät hat: Sollte Gott wirklich gesagt haben? Meint es Gott tatsächlich gut mit mir? Sind Gottes Gebote und Ordnungen sinnvoll? Enthält mir der Schöpfer womöglich etwas vor?
„Der Humanismus und sein optimistisches Menschenbild scheitern an der Wirklichkeit.“
Wenn wir auf den Menschen heute blicken, können wir nur noch theoretisch vom status integritatis sprechen, denn der Humanismus und sein optimistisches Menschenbild scheitern an der Wirklichkeit, auch wenn wir uns in den vergangenen Jahrzehnten unserer Blindheit hingegeben haben. Was beim Sündenfall geschehen ist, war und ist ein für uns unumkehrbarer Bruch, dem in der Theologie mit der Erbsündenlehre Ausdruck verliehen wird. Die klassische Formulierung geht auf den Kirchenvater Augustinus zurück, der die Erbsünde in seiner Schrift De civitate dei als eine Art „genetischen Defekt“ beschreibt:
„Gott nämlich, der Urheber der Naturen, nicht der Mängel, schuf den Menschen gut. Dieser aber, aus eigenem Antrieb verdorben und verdammt, zeugte verdorbene und verdammte Nachkommen. Wir alle nämlich waren in jenem einen, wir alle waren damals jener eine, der durch die Frau, die aus ihm geschaffen wurde, bevor es die Sünde gab, zur Sünde abgefallen ist … Die Natur, aus der wir hervorgehen sollten, gab es [in Adam] schon dem Samen nach; nachdem sie allerdings aufgrund der Sünde lasterhaft geworden, der Fessel des Todes unterworfen und gerechterweise verdammt worden war, konnte kein von einem Menschen stammender Mensch in einer anderen Lage geboren werden.“[9]
Augustin verweist auf eine Art Stammverwandtschaft: Wir sind alle Teilhaber der Folgen unserer Vorfahren. Gott führt dies auch im Rahmen der Zehn Gebote an. In 2. Mose 20,6–7 wird gesagt, dass die Sünden – aber ebenso auch der Segen (!) – sich durch die Generationen hindurchziehen. Segens- und Sündenlinien lassen sich quer durch die Bibel nachweisen, insbesondere in 1. Mose, dem Richterbuch und den Königsberichten.
Zugleich aber betont Augustin auch die individuelle Verantwortung im Sinne der Repräsentanz und eine Art „virtuelle Gegenwart“ in Adam. Alle Menschen sind schuldhaft beteiligt an diesem ersten Sündenfall, weil wir alle in dem Einen waren, wie auch Paulus in Römer 5,12 aufgreift. In diesem Abschnitt (Röm 5,12–19) wird eine „Vor-Zeitigkeit“, eine „All-Zeitigkeit“ und eine „Gleich-Zeitigkeit“ der Sünde beschrieben: Sie ist keine schicksalhafte Verstrickung, sondern zugleich eine persönliche Verantwortung. Was bei Adam geschah, vollzieht sich so grundlegend, dass es die gesamte Welt und Zeit beeinflusst (All-Zeitigkeit) und sich in jedem Menschen täglich neu „gleich-zeitig“ realisiert. Die Sünde von Adam ist meine Sünde, in der ich mich wiederfinde. Sie ist mein Grundzustand und ich vollziehe sie, so wie er, täglich neu nach.
Darum bekennt auch das Augsburger Bekenntnis der Reformation dies in seinem 2. Artikel wie folgt:
„Weiter wird bei uns gelehrt, dass nach Adams Fall alle Menschen, die natürlich geboren werden, in Sünden empfangen und geboren werden, das ist, dass sie alle vom Mutterleibe an voll böser Lust und Neigung sind und von Natur aus keine wahre Gottesfurcht und keinen wahren Glauben an Gott haben können: dass auch dieselbe angeborene Seuche und Erbsünde wahrhaftig Sünde sei, und alle die unter dem ewigen Zorn Gottes verdamme, die nicht durch die Taufe und den Heiligen Geist neu geboren werden.“[10]
Artikel 2 ist übrigens jener Teil, über den sich nach Überzeugung der Reformatoren orthodoxe, römisch-katholische und protestantische Kirchen einig sind oder sein sollten. Der Unterschied liegt dann in der Frage der Soteriologie, also der Heilsaneignung, inwiefern der Mensch daran beteiligt ist, Vor- oder Nachbedingungen hat. In der Erbsündenlehre hingegen ist die Theologie sich – eigentlich – einig.
Was beim Sündenfall geschah, kann also zunächst gerade keine moralische Kategorie, keine Frage der Tugend, sondern in der Wurzel eine Frage des Status sein. Sünde als Ausdruck der zerbrochenen Beziehung zwischen dem Schöpfer und uns, die sich im Unglauben und Gotteshass ausdrückt. Die Blindheit oder Verblendung kommt dann noch dazu, ist aber nur Folge dieser Wurzel.
Was diese Erbsünde im Menschen bewirkt, hat zunächst der Schweizer Reformator Johannes Calvin benannt, wenn er schreibt:
„Adam ist unzweifelhaft mit seinem Abfall von Gott entfremdet worden … Das Ebenbild Gottes ist also die ursprünglich hervorragende Stellung der menschlichen Natur, die in Adam vor dem Fall hell erstrahlte, danach aber derart verderbt, ja schier zerstört worden ist, dass aus dem Untergang nur noch Verworrenes, Verstümmeltes und Beflecktes übriggeblieben ist.“[11]
Hierin liegt eine wahre Erkenntnis, die allerdings aus lutherischer Perspektive immer wieder zu Recht angemahnt wurde: Man darf es nicht übertreiben und die Ebenbildlichkeit des Menschen gleich mit über Bord werfen. Die Ebenbildlichkeit bleibt bestehen, wenn auch fast schon zur Unkenntlichkeit befleckt, wie ein zerbrochener Spiegel, der kaum noch das ursprüngliche Abbild wiedergeben kann.
Der Münchener Systematiker Wolfhart Pannenberg knüpft an Martin Luthers klassische Formel des homo incurvatus in se ipsum an – an den in sich selbst verkrümmten Menschen, der sich um sich selbst dreht, anstatt Gott zu lieben, und gerade in der Selbstliebe gefangen ist. Dies greift Pannenberg auf und bringt es mit der Erbsündenlehre in die Sprachform der Existenzphilosophie, indem er schreibt:
„Die Verkehrung des Verhältnisses von Ichzentrum und exzentrischer Bestimmung des Menschen bedeutet Selbstverfehlung des Menschen, weil er durch sein Streben, sich selbst zu gewinnen, seine exzentrische Bestimmung versäumt.“[12]
„Seine exzentrische Bestimmung versäumt“! Wir waren und sind dazu bestimmt, dass wir uns eben nicht um uns selbst drehen. Im Gegenteil: Unser Ursprung und Ziel befindet sich außerhalb von uns selbst, von unserem Ich-Zentrum. Unsere exzentrische Bestimmung befindet sich im lebendigen, dreieinen Gott, nach dessen Bild wir erschaffen wurden. Indem wir uns von diesem Ursprung entfernt haben, befinden wir uns im Widerspruch zu unserem eigenen Wesen und unserer eigenen Wirklichkeit, wie auch der Systematiker Emil Brunner es formuliert, indem er Pannenberg zustimmt:
„Die christliche Botschaft [enthält] die Lehre, dass der nach Gottes Bild geschaffene Mensch sich im Gegensatz zu diesem seinem Ursprung bestimmt habe und dass dieser Gegensatz im Widerspruch seines Wesens zwischen seiner Wahrheit und seiner Wirklichkeit bestimme.“[13]
Die Sünde ist also zunächst ein Status, ein Ausdruck unserer verlorenen Ursprünglichkeit. Sie entfremdet uns in der Folge von uns selbst, von unseren Mitmenschen und der Schöpfung insgesamt. Das ist das Elend des Sünders! Wir fokussieren uns oft nur auf die Symptomebene, die moralische Dimension in dieser Welt. Wir schauen dorthin, wo wir das Böse erleben, erleiden oder in uns selbst reflektieren. Dabei befinden wir uns jedoch auf der Ebene der Ethik. Wir müssen Sünde aber neu begreifen: als Dogmatik, als anthropologische Dimension und entscheidende Hürde in der Rechtfertigung. „Der Verfall der Erbsündenlehre führte zur Verlagerung und letzten Endes zur Reduktion des Begriffs der Sünde auf Tatsünden … letztlich zum Moralismus.“[14] Und ebenso: „Die Sünde sitzt tiefer als die einzelne Tat, tiefer als jede Übertretung.“[15]
Daher spricht der Apostel Paulus auch in Epheser 2,1–3 davon, dass wir tot in Sünden waren, von Natur aus Kinder des Zorns. Paulus personifiziert sie in Römer 7,11–20 als eine Macht, unter die wir als Menschen verkauft und deren Sklaven wir sind. Auch Jesus bestätigt genau diese Sicht in Johannes 8,34: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.“
Die moralische Tatsünde deckt die Gefangenschaft auf, die sich in der personifizierten Macht der Sünde offenbart und in den Begierden Ausdruck findet. Dies entschuldigt den Menschen aber gerade nicht. Man könnte versuchen, den Menschen mit Römer 1,24 zu entschuldigen, indem man sagt: „Gott hat uns dahingegeben in die Begierden unserer Herzen … also ist es doch Gott, der uns in diesem Zustand belässt.“
Dies ist allerdings nur eine Ausflucht und verkennt die zuvor genannte All- und Gleichzeitigkeit der Sünde. Wir stehen zwar in der Erbsünde, doch sind wir zugleich uneingeschränkt für unsere persönliche Sünde verantwortlich und vollziehen unseren eigenen Sündenfall täglich. Daher kann Gott Kain nach dem Sündenfall in 1. Mose 3 auch in 1. Mose 4,6–7 trotz der gefallenen Natur zur Verantwortung ziehen und sagen: „Wenn du aber nicht Gutes tust, so lauert die Sünde vor der Tür, und ihr Verlangen ist auf dich gerichtet; du aber sollst über sie herrschen!“
3. Die Notwendigkeit der Überwindung der Sünde
Erst wenn uns die biblische Lehre von der Sünde deutlich wird und wir erkennen, wie tiefgehend und weitreichend der Zerbruch der Gemeinschaft zwischen Schöpfer und Geschöpf geht, wird uns klar, woraus uns der Sohn Gottes überhaupt gerettet hat. Erst wenn wir erkennen, wie tief unsere Verlorenheit ist, können wir auch nur erahnen, wie groß Gottes Liebe, Gnade und Vergebung sind.
Die Bibel sagt: „Gott aber beweist seine Liebe zu uns dadurch, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren“ (Röm 5,8). Als wir im Zustand der Gefangenschaft und Sklaverei waren, von Krankheit geschlagen, innerlich zerbrochen und doch verblendet in dem Irrtum, wir könnten uns selbst im Griff haben, sandte Gott seinen Sohn, Jesus Christus, damit er suche und rette, was verloren ist.
„Wir reden nur noch von Moral und verpassen es, an die Wurzel zu gehen.“
Erst dann entfaltet die biblische Botschaft der Rechtfertigung ihre volle Wirkung. Erst dann können wir verstehen, was Jesus meint, wenn er sagt: „Denn auch der Sohn des Menschen ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45). Jesus gibt sich selbst hin. Er erträgt am Kreuz das gerechte Zorngericht Gottes. Er nimmt die Folgen und die gerechte Strafe der Sünde selbst auf sich. Luther spricht von einem Tausch, den Christus bewirkt: Am Kreuz von Golgatha nimmt er diese Krankheit, die Sklaverei, diesen Zerbruch auf sich und bezahlt dafür stellvertretend für uns.
Er bezahlt den Schuldbrief, er nimmt die Strafe auf sich, er heilt die Wunden. All das kam in den biblischen Bildern zur Sünde vor und macht gerade dadurch deutlich, was Jesus am Kreuz tat und wie teuer er uns erkauft hat. Die zentrale Botschaft des Evangeliums ist: „dass Christus für unsere Sünden gestorben ist, nach den Schriften“ (1Kor 15,3). Er hat uns freigekauft. Er hat die Macht der Sünde bezahlt, indem er die Schuld getragen und gesühnt hat. Erst dadurch können wir Frieden mit Gott haben.
Der bedeutendste Evangelist des letzten Jahrhunderts, Billy Graham, sagte: „Ihr könnt keinen Frieden haben ohne den Friedefürst.“[16] Das gilt in dieser Welt, in all den Konflikten und Kriegen im Großen. Das gilt für uns Menschen ganz persönlich, für alle innere Zerrissenheit und für alle Beziehungen untereinander, in den Familien, Nachbarschaften und der Arbeit. Ohne eine geheilte, erneuerte, von Schuld befreite Beziehung zum lebendigen Gott kann es keinen Frieden geben. Doch genau diese Erneuerung kann eben nicht von uns aus kommen. Sie steht außerhalb unserer Macht und Einflussbereich. Sie muss uns geschenkt, von außerhalb für uns erwirkt werden – als ein Geschenk der Gnade.
Der Vater sendet den Sohn auf eine Rettungsmission, auf die größte Rettungsmission überhaupt: Er kommt, die Menschen aus dieser Gefangenschaft zu erlösen, indem er sich selbst in den Tod wirft, sein Blut vergießt, um die Schuld zu sühnen, wodurch die Beziehung zwischen dem Vater im Himmel und uns Menschen wiederhergestellt werden kann.
Als sich Adam und Eva im Garten Eden vor Gott verstecken und sich schämen, weil sie nackt sind, wird im gleichen Kapitel darauf hingewiesen, dass sie umkleidet werden müssen. Aber ihre eigene Leistung, ihre Fähigkeit reichte nur zu einem läppischen Blätterschurz, der nichts taugt, weshalb sie sich weiterhin verstecken. Eine wahre Umkleidung, die der Schwere der Sünde standhält, können wir Menschen nicht leisten, sie muss von außerhalb geschehen. Wir lesen aber dann in 1. Mose 3,21: „Und Gott der HERR machte Adam und seiner Frau Kleider aus Fell und bekleidete sie.“
Es ist wieder das biblische: „Aber Gott …“ Der Mensch kann es nicht, „aber Gott“, er kann. Er umkleidet Adam und Eva mit einer bleibenden Kleidung. Doch dafür stirbt ein unschuldiges Opfer. Mich würde nicht wundern, wenn wir in der Ewigkeit erfahren, dass es ein Lamm war, ein Opferlamm, das sein Blut vergoss und die Strafe sühnte, um die Menschen zu bekleiden. All das ist ein deutlicher Hinweis, direkt nach dem Sündenfall, auf ein göttliches Gewand, auf das wir angewiesen sind. Ein Gewand, das die Schuld bezahlt, die Scham überwindet und uns in die Gemeinschaft mit Gott zurückführt: „Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit will ich vor Gott bestehn, wenn ich zum Himmel werd eingehn.“[17] So dichtete es Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf.
4. Schluss
Fassen wir zusammen: Ist Sünde noch ein Thema? Leider nein, leider viel zu wenig! Und gerade dies offenbart die derzeitige Schwäche der Theologie, die Sprachlosigkeit im Angesicht der offenbar werdenden Sünde, des Hasses und des Leides in dieser Welt. Es offenbart den Predigtnotstand in unseren Kirchen. Wir reden nur noch von Moral und verpassen es, an die Wurzel zu gehen.
„Echte Veränderungen geschehen immer von innen nach außen, aus dem Herzen heraus, von der Wurzel her, von der Seele her.“
Der große Trugschluss des Humanismus ist, dass Veränderung von außen nach innen geschehen könnte. Ich verbessere die Umstände und lindere die Symptome, und dann wird sich alles zum Guten wenden. Dem ist nicht so! Echte Veränderungen geschehen immer von innen nach außen, aus dem Herzen heraus, von der Wurzel her, von der Seele her. Jesus sagt: „Denn es gibt keinen guten Baum, der schlechte Frucht bringt, noch einen schlechten Baum, der gute Frucht bringt“ (Lk 6,43).
Wo das nicht getan wird, wo über Sünde einfach hinweggegangen wird, wo sie stillschweigend abgetan oder zu einem Moralismus verharmlost wird, da steht die ganze Lehre der Rechtfertigung auf dem Spiel.
Martin Luther schrieb in seinem Buch Vom unfreien Willen: „Ich selbst habe nicht nur einmal Anstoß genommen bis hin zum tiefsten Abgrund der Verzweiflung – bis ich sogar wünschte, dass ich niemals als Mensch geschaffen worden wäre. Das war, bevor ich wusste, wie heilsam diese Verzweiflung ist und wie nahe der Gnade.“[18]
Wo über Sünde hinweggegangen wird, dort wird Gnade zu einer „billigen Gnade“, wie es Bonhoeffer schrieb, wie Perlen vor die Säue geworfen, überflüssig, beliebig.[19] Jesus aber ruft: „Wenn jemand mir nachkommen will, so verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!“ (Mt 16,24). Was meint Jesus mit der Formulierung „das Kreuz auf sich nehmen“? Es geht Jesus hier nicht um das Ertragen von Leid, wie viele Menschen meinen, die sagen, dass halt jeder sein Kreuz zu tragen hätte.
Das Kreuz auf sich nehmen bedeutet, von der Illusion befreit zu werden, dass wir als Menschen doch im Kern ganz gut sind und es lediglich ein paar Stellschrauben zum Nachziehen gäbe. Es geht um die Offenbarung des Sohnes Gottes, der stellvertretend für uns sterben musste, weil wir sonst verloren gehen würden. Es geht letztlich darum, mit Jesus am Kreuz zu sterben, dass mein altes, sündiges Ich gekreuzigt wird, und ich mit Christus am Ostermorgen auferstehe, ein neues Leben geschenkt bekomme – verwandelt durch eine geistliche Wiedergeburt als Frucht des Heiligen Geistes.
Dafür ist es von zentraler Bedeutung, Jesus Christus zu erkennen, ihm ganz bewusst nachzufolgen, indem ich mich selbst verleugne und auf ihn schaue, nicht auf mich. Genau dazu lädt Jesus uns ein, täglich neu, mit der schonungslosen Wahrheit und zugleich der gnädigen Einladung: „Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden“ (Mt 16,25).
Ist Sünde noch ein Thema? Ja! Weil die Gnade, die Lehre der Rechtfertigung, heilsnotwendig ist!
1 C.S. Lewis, Dienstanweisung für einen Unterteufel, Freiburg im Breisgau: Herder, 1978, S. 25f.
2 „‚Das reine Böse‘: Hamas Angriff auf Israel“, FAZ, 11.10.2023.
3 Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2020, S. 42.
4 Vgl. Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, S. 38–44.
5 Vgl. Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, S. 1078f.
6 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (KSA 3), Drittes Buch Nr. 125, München, 2015, S. 481.
7 Giogio Agamben, Pilatus und Jesus, Berlin: Matthes & Seitz, 2014, S. 61.
8 Ingolf U. Dalferth, Sünde: Die Entdeckung der Menschlichkeit, Evangelische Verlagsanstalt: Leipzig, 2021, S. 112f.
9 Augustin, De civitate Dei 13,14, übersetzt in: Rochus Leonhardt, Grundinformation Dogmatik, Stuttgart: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012, S. 267.
10 Confessio Augustana, Art. 2; BSELK, Göttingen, 2014, S. 94–96 (sprachlich angepasst).
11 Johannes Calvin, Institutio I,15,4, Göttingen, 2022.
12 Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983, S. 103.
13 Emil Brunner, Der Mensch im Widerspruch: Die christliche Lehre vom wahren und vom wirklichen Menschen, Zürich: Theologischer Verlag,1985, S. 116.
14 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015, S. 269f.
15 Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983, S. 117.
16 Vgl. Hanspeter Nüesch, Ruth und Billy Graham: Das Vermächtnis eines Ehepaars, Holzgerlingen, 2018, S. 253.
17 Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, Christi Blut und Gerechtigkeit, EG 350.
18 Martin Luther, De servo arbitrio, WA 18,719, LDStA I, Leipzig, 2006, S. 486.
19 Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2011, S. 29–43