Selbstliebe als Voraussetzung für Nächstenliebe?

Artikel von Carolyn Deloffre
24. Juni 2024 — 9 Min Lesedauer

„Ich muss mich selbst lieben, um andere lieben zu können.“ Diese Aussage zählt längst zu den allgemeinen Lebensweisheiten und hat auch in vielen Gemeinden bereits Einzug gehalten. Sie ist oft gepaart mit Äußerungen wie: „Du bist ein einzigartiger, außergewöhnlicher und wunderbarer Mensch.“ Besonders unter Frauen – sei es als Geburtstagswunsch, als Mutmachspruch, als Inhalt von Frauentreffen oder als Gruß zum internationalen Frauentag – kommt diese Botschaft gut an.

Zunächst einmal stellt sich die Frage: Stimmt es, dass ich ein wunderbarer Mensch bin? Absolut! Denn Gott schuf mich in seinem Bild (vgl. 1Mose 1,27). Bewertung: sehr gut (vgl. 1Mose 1,31). Die Bibel bezeugt weiter, dass ich erstaunlich und wunderbar gemacht wurde (vgl. Ps 139,14) und dass ich wertvoll bin (vgl. Mt 6,26; Mt 10,30-31). Daran besteht kein Zweifel.

Ich vergesse jedoch schnell, dass ich nichts dazu beigetragen habe. Ich habe mich weder selbst geschaffen noch habe ich meine Gaben und Talente selbst erworben. Sie wurden mir gegeben. Diese Tatsache mindert nichts an meinem Wert. Ich sollte jedoch die Lorbeeren für meine Talente, Gaben, gewisse Charakterzüge, bestimmtes Aussehen, Kreativität, schnelle Auffassungsgabe etc. nicht selbst ernten.

Weil ich für Komplimente, Lob und Schmeicheleien empfänglich bin, kommt mir eine Aufforderung zur Selbstliebe entgegen. Sie bestärkt mich darin. Weil sie nach biblischer Wahrheit klingt, sind solche Aussagen auch in Gemeinden so beliebt. Was kann schon falsch sein an einem Aufruf zur Liebe? Er ist jedoch eine verzerrte Wahrheit.

Zu wenig oder zu viel Selbstliebe?

Das Problem ist in der Regel nicht, dass ich mich nicht genug liebe, sondern dass ich mich viel zu sehr liebe. Es ist ganz natürlich, mich selbst zu lieben. Meinen Nächsten zu lieben, ist hingegen nicht natürlich. Paulus erklärt im Epheserbrief anhand des Beispiels der Ehe, dass niemand je sein eigenes Fleisch gehasst hat, sondern es nährt und pflegt (vgl. Eph 5,29). Es ist eine instinktive Liebe. Doch weil die Liebe für andere Menschen nicht instinktiv ist, fordert Paulus in diesem Fall den Mann auf, seine Frau zu lieben wie seinen eigenen Leib (vgl. Eph 5,28).[1]

„Das Problem ist in der Regel nicht, dass ich mich nicht genug liebe, sondern dass ich mich viel zu sehr liebe.“
 

Ich liebe mich eben nicht nur dann selbst, wenn ich mir meines Wertes gewiss bin und selbstbewusst durchs Leben gehe. Die Selbstliebe drückt sich vielmehr in erster Linie darin aus, dass ich ununterbrochen an mich selbst denke. Sowohl dann, wenn es mir gut geht, weil meine Bedürfnisse gestillt werden und ich als Person anerkannt werde, als auch dann, wenn das Gegenteil der Fall ist. Gerade weil ich mich so sehr liebe, bin ich verletzt, wenn andere mir beispielsweise die Wertschätzung nicht entgegenbringen, die ich mir von ihnen wünsche. Würde ich mich nicht lieben, wäre mir diese Wertschätzung doch egal. Deswegen ist Vorsicht geboten, wenn Selbstliebe gern als ihr Gegenteil – nämlich als mangelnde Selbstliebe bzw. mangelnde Selbstakzeptanz – verkauft wird.

In Sachen Selbstliebe benötigen wir also keine Schulung. Schon bei Kleinkindern ist sie offensichtlich, wenn sie meinen, dass ihre Eltern in ihrem Dienst stehen, oder wenn sie einen Trotzanfall bekommen, weil sie nicht selbst über die Zeit des Nachhausegehens vom Spielplatz entscheiden können. Werden wir älter, so ist die Selbstliebe nach wie vor da, doch wir versuchen sie – bewusst oder unbewusst – zu verschleiern.

Wäre Selbstliebe wirklich die entscheidende Voraussetzung dafür, andere lieben zu können, dann sollten wir keinerlei Schwierigkeiten haben, andere zu lieben. Hier ist jedoch der Haken, denn wenn wir ehrlich sind, fällt es uns sehr schwer, bestimmte Menschen zu lieben – auch (oder vor allem) in der Gemeinde. Selbstliebe hilft mir also nicht dabei, meinen Nächsten zu lieben. Positives Denken, Persönlichkeitsentwicklung und Eigenüberzeugung bezüglich meines Wertes richten den Blick auf mich selbst. Umso frustrierender ist es festzustellen, dass ich mich trotz meiner Selbstliebe immer noch so schwer damit tue, gewisse Menschen zu lieben.

Woher kommt unsere Liebe?

Die Bibel argumentiert anders. In 1. Johannes 4,7–11 finden wir zuerst eine Aufforderung zur Nächstenliebe (vgl. Vers 7). Direkt anschließend heißt es im selben Vers, dass die Liebe „aus Gott“ ist. Er ist die Quelle der Liebe, er ist die Liebe (vgl. Vers 8). Dass er „seinen Sohn gesandt hat als Sühnopfer für unsere Sünden“ (Vers 10), ist die größte Manifestation seiner Liebe. In Vers 10 wird deutlich, dass die Liebe nicht darin besteht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat. Wir können uns keiner Liebe für Gott und den Nächsten rühmen, die aus uns selbst hervorkommt. Wie wir gesehen haben, gilt meine instinktive Liebe schließlich hauptsächlich mir selbst. Hier ist deshalb die Rede von einem anderen Ursprung der Liebe, und dieser ist in Gott. Weil Gott uns liebt, „so sind auch wir es schuldig, einander zu lieben“ (Vers 11).

„Anstatt auf mich selbst zu schauen und mir zuzureden, wie wertvoll ich bin, muss ich den Blick von mir selbst abwenden und auf den schauen, der die Liebe ist.“
 

Gott liebt. Deshalb kann ich meinen Nächsten lieben. Anstatt auf mich selbst zu schauen und mir zuzureden, wie wertvoll ich bin, muss ich den Blick von mir selbst abwenden und auf den schauen, der die Liebe ist. Je mehr ich seine Liebe begreife, desto mehr wird er mein hartes, egozentrisches Herz, das so schnell durch andere Menschen reizbar ist, verwandeln. Er wird mir ein Herz schenken, das meinen Nächsten lieben kann, obwohl ich ihn vielleicht am liebsten meiden würde. Jesus wurde in die Welt gesandt, „damit wir durch ihn leben sollen“ (1Joh 4,9). Er, der die Liebe ist, befähigt uns, andere zu lieben.

Wo finden wir Hilfe?

Ich selbst bin nicht die Lösung. Sowohl die Bibel als auch der Humanismus betonen die Würde des Menschen. Ein grundlegender Unterschied zwischen beiden Ansichten besteht jedoch darin, dass der Humanismus den Menschen mit seinem Streben und seinen Werten in den Mittelpunkt stellt. Der griechische Philosoph Protagoras drückte es so aus: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ Die Bibel lehrt uns hingegen, dass Gott das Maß aller Dinge ist. So liebe ich meinen Nächsten nicht in dem Maße, mit dem ich mich selbst liebe, sondern in dem Maße, mit dem ich die Liebe Gottes begreife. Der Blick auf mich selbst führt mich in eine Sackgasse. Der Blick auf Gott und seine Liebe hingegen lässt mich meinen Nächsten mit neuen Augen wahrnehmen.

Seien wir vorsichtig! Die weit verbreitete Botschaft, dass Selbstliebe die Voraussetzung für Nächstenliebe ist, ist verführerisch, doch sie erweist sich als fehlerhaft. Warum? Weil sie Christus und seine Rettung umgeht und stattdessen die Lösung im Menschen sucht. Ich muss mich nicht auf mich selbst konzentrieren und mir einreden, wie wunderbar ich bin. Ich muss vielmehr daran erinnert werden, wie ich davon befreit werde. Das geschieht durch die Botschaft eines Retters, der gekommen ist, um mich von meinem Egozentrismus zu befreien, und der mich befähigt, meinen Nächsten zu lieben.

Paulus warnt die Gemeinde in Kolossä: „Habt acht, dass euch niemand beraubt durch die Philosophie und leeren Betrug, gemäß der Überlieferung der Menschen, gemäß den Grundsätzen der Welt und nicht Christus gemäß“ (Kol 1,8). Der Kolosserbrief wurde verfasst, um auf Irrlehren zu reagieren, die in der Gemeinde kursierten. Paulus reagiert, indem er auf Christus und sein Werk der Rettung hinweist und dies auf wundervolle Weise schildert. Er warnt die Kolosser, sich nicht durch „verführerische Reden“ (Kol 2,4 LUT) täuschen zu lassen, sondern den Blick auf den zu richten, „in welchem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen sind“ (Kol 2,3).

Was motiviert uns?

Es mag verschiedene Gründe haben, warum eine Person hören möchte, dass sie sich zuerst selbst lieben muss, bevor sie andere lieben kann. Vielleicht wurde ihr von klein auf vermittelt, dass sie nicht wertvoll ist. Vielleicht erfährt sie momentan Ablehnung oder Misserfolge auf der Arbeit. Vielleicht ist sie am Ende der Kräfte, weil sie in Beruf, Gemeinde und Familie alles gibt und eine Auszeit braucht. Vielleicht fällt es ihr unheimlich schwer, andere Menschen zu ertragen und das Argument der Selbstliebe wird somit als Rechtfertigung benutzt, um sich zurückzuziehen. Wir können diese Situationen nachvollziehen und oftmals treffen sie auf uns selbst zu. Vertrösten wir uns und andere aber nicht mit verführerischen Reden und Lösungen, die von uns selbst abhängen, sondern weisen wir auf die wahre Quelle der Liebe und der Fülle hin!

Das Argument der Selbstliebe als Voraussetzung der Nächstenliebe wird gelegentlich auch erwähnt, um eigene Sünde auszublenden. Über den Kampf mit Sünde zu reden, wird verstanden als „zu streng mit sich selbst zu sein“. Es wird argumentiert: „Um mich selbst zu lieben, darf ich mich nicht selbst bestrafen, indem ich mir meine Sünden vor Augen halte, denn das tut mir nicht gut und führt dazu, dass ich mich selbst ablehne.“ So wird die Sünde mit der „frommen“ Erklärung ignoriert, dass Christus sich bereits darum gekümmert hat und ich mich jetzt nicht mehr damit auseinandersetzen muss. Es stimmt, Christus nahm ein für alle Mal unsere Sünde am Kreuz auf sich, damit wir frei davon sind (vgl. 1Petr 2,24). Für die, die zu Christus gehören, bedeutet das jedoch nicht, dass sie sündlos sind. Es bedeutet vielmehr, dass sie nicht mehr unter ihrer eigenen Herrschaft stehen, sondern unter der Herrschaft Gottes (vgl. Röm 6,16), und demnach Motivation, Denken, Reden und Handeln von Gott neu definieren lassen. Sie können nun Nein zur Sünde sagen und sind aufgerufen, in Jesu Sieg gegen die Sünde anzukämpfen (vgl. Kol 5,5). Dieser Kampf ist nicht nur ein isolierter und individueller Kampf, sondern auch ein gemeinschaftlicher (vgl. Jak 5,16).

Sündeneinsicht und Sündenbekenntnis gehören zum christlichen Leben dazu und bezeugen genau das: „Ja, ich liebe mich mehr als alles andere. Es fällt mir schwer, meinen Nächsten zu lieben. Komm du mir zu Hilfe, Herr.“


1 Vgl. Nancy Leigh DeMoss : Lügen, die wir Frauen glauben, 6. Aufl., Bielefeld: CLV, 2023, S. 65.