Wie sollten Christen alttestamentliche Geschichtsbücher lesen?

Artikel von Mario Tafferner
31. Mai 2024 — 14 Min Lesedauer

Die Geschichtsbücher des Alten Testaments werden heute vor allem für ihre anregenden Erzählungen geschätzt. Das sollte uns nicht überraschen. Alttestamentlichen Berichte wie jene über Josua, Gideon, Samuel oder David wurden als literarische Meisterwerke geschrieben und schöpfen tief aus dem Brunnen der hebräischen Erzählkunst. Was aber bieten die alttestamentlichen Geschichtsbücher über ihre anregenden literarischen Qualitäten hinaus? Wie kann man sie heute als Christ mit Gewinn lesen? Auf solche Fragen will ich in diesem Artikel Antworten geben.

Wegen der Unschärfe der Bezeichnung „Geschichtsbücher“, ist jedoch eine anfängliche (und zugegeben trockene) Erörterung von Definitionen notwendig. Danach soll es um die große „Story“ der Bücher Josua, Richter, 1. & 2. Samuel und 1. & 2. Könige gehen.[1] Anschließend möchte ich die wichtigsten Charaktere dieser Bücher (Gott, Volk und König) und ihre jeweiligen Rollen vorstellen. Das Ende ist am wichtigsten: Hier geht es darum, mit wem wir uns in diesen Büchern identifizieren sollten und wie eine „evangelische“ Auslegung dieser Texte gelingen kann. Das zeigt dann hoffentlich die Anwendbarkeit dieser Bücher auf das heutige christliche Leben.

Was sind eigentlich alttestamentliche Geschichtsbücher?

Zunächst zu den Begrifflichkeiten. Wovon sprechen wir, wenn wir von „alttestamentlichen Geschichtsbüchern“ reden? Viele Ausleger bezeichnen so alle Texte, die einen erzählenden Bericht über die Geschichte Israels bieten. Häufig werden daher sogar die fünf Bücher Mose in dieser Weise kategorisiert.

Solche rein literarischen Herangehensweisen werden der kanonischen Struktur des Alten Testaments jedoch nicht gerecht. Bereits zur Zeit Jesu (und wahrscheinlich schon lange davor) hat das Volk Gottes die hebräischen Bücher des Alten Testaments gemäß einer bestimmten dreiteiligen Abfolge gelesen: Tora, Propheten und Schriften. Das sieht man z.B. im Prolog des apokryphen Buches Jesus Sirach, das aus dem 2. Jh. v.Chr. stammt:

„Vieles und Großes ist uns gegeben durch das Gesetz und die Propheten und die Schriften, die sich daran anschließen.“ (Sir 1,1–2 LU17; Hervorh.d.Verf.)

Jesu Rede mit den Emmausjüngern macht deutlich, dass er ebenfalls diese dreiteilige hebräische Einteilung der alttestamentlichen Bücher verwendete:

„Und er begann bei Mose und bei allen Propheten und legte ihnen in allen Schriften aus, was sich auf ihn bezieht.“ (Lk 24,27; Hervorh.d.Verf.)

In diesem dreiteiligen Kanon des Alten Testaments bilden die Bücher Josua, Richter, 1. & 2. Samuel und 1. & 2. Könige eine eng verflochtene Einheit. Als sogenannte „vordere Propheten“ unterscheidet man sie von den fünf Büchern Mose (der Tora) und den erzählenden Büchern der späteren Schriften (Esra, Nehemia, Chronik, Ruth, Esther).

„Geschichtsbücher“ ist daher ein irreführender Begriff. Im hebräischen Kanon des Alten Testaments ist Geschichtsschreibung kaum das wichtigste Kriterium für die Kategorisierung von Büchern. In diesem Artikel soll es daher nur um Texte gehen, die kanonisch unter dem Begriff „vordere Propheten“ zusammengefasst werden. Diese verbindet ein zusammenhängendes Thema.

Die „Story“

Die Bücher Josua, Richter, 1. & 2. Samuel und 1. & 2. Könige erzählen sowohl von Israels Inbesitznahme des Landes, das Gott ihnen versprochen hatte, als auch vom Verlust ebendieses Landes aufgrund ihres Ungehorsams. Dies wird deutlich, wenn man die Eröffnung und den Schluss dieser großen Erzählung nebeneinander stellt:

„Und es geschah nach dem Tod Moses, des Knechtes des HERRN, da sprach der HERR zu Josua, dem Sohn Nuns, dem Diener Moses, folgendermaßen: Mein Knecht Mose ist gestorben; so mache dich nun auf, ziehe über den Jordan dort, du und dieses ganze Volk, in das Land, das ich ihnen gebe, den Kindern Israels! Jeden Ort, auf den eure Fußsohlen treten, habe ich euch gegeben, wie ich es Mose verheißen habe. Von der Wüste und dem Libanon dort bis zum großen Strom Euphrat, das ganze Land der Hetiter, und bis zu dem großen Meer, wo die Sonne untergeht, soll euer Gebiet reichen. Niemand soll vor dir bestehen dein Leben lang! Wie ich mit Mose gewesen bin, so will ich auch mit dir sein; ich will dich nicht aufgeben und dich nicht verlassen. Sei stark und mutig! Denn du sollst diesem Volk das Land als Erbe austeilen, von dem ich ihren Vätern geschworen habe, dass ich es ihnen gebe. Sei du nur stark und sehr mutig, und achte darauf, dass du nach dem ganzen Gesetz handelst, das dir mein Knecht Mose befohlen hat. Weiche nicht davon ab, weder zur Rechten noch zur Linken, damit du weise handelst überall, wo du hingehst! Lass dieses Buch des Gesetzes nicht von deinem Mund weichen, sondern forsche darin Tag und Nacht, damit du darauf achtest, alles zu befolgen, was darin geschrieben steht; denn dann wirst du Gelingen haben auf deinen Wegen, und dann wirst du weise handeln! Habe ich dir nicht geboten, dass du stark und mutig sein sollst? Sei unerschrocken und sei nicht verzagt; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir überall, wo du hingehst!“ (Jos 1,1–9)
„Aber Jojachin, der König von Juda, ging zu dem König von Babel hinaus, er samt seiner Mutter, seinen Knechten, seinen Obersten und seinen Kämmerern; und der König von Babel nahm ihn gefangen im achten Jahr seiner Regierung. Und er ließ von dort alle Schätze im Haus des HERRN und die Schätze im königlichen Haus wegbringen; und er ließ alle goldenen Geräte in der Tempelhalle des HERRN zerschlagen, die Salomo, der König von Israel, gemacht hatte — wie der HERR es gesagt hatte. Und er führte ganz Jerusalem gefangen hinweg, nämlich alle Obersten und alle kriegstüchtigen Männer, 10 000 Gefangene, auch alle Handwerker und alle Schlosser, und ließ nichts übrig als das geringe Volk des Landes. So führte er Jojachin nach Babel hinweg, auch die Mutter des Königs und die Frauen des Königs und seine Kämmerer. Dazu führte er die Mächtigen des Landes von Jerusalem gefangen nach Babel, auch alle Kriegsleute, 7 000, dazu die Handwerker und die Schlosser, im ganzen 1 000, alles kriegstüchtige Männer; und der König von Babel brachte sie gefangen nach Babel.“ (2Kön 24,12–16)

Die gesamte Erzählung der vorderen Propheten wird in Josua 1,1–9 vorweggenommen: Gott hatte Abraham, dem Stammvater Israels, das Land Kanaan als Wohn- und Segensort für seine Nachkommen versprochen (vgl. 1Mose 12,1–9). Dieses Versprechen band Gottes Gegenwart mit seinem Volk im Alten Bund in besonderer Weise an das Land Kanaan.

Nach dem Aufenthalt Israels in Ägypten und der anschließenden Wüstenwanderung (vgl. 2Mose–5Mose) kam das Volk nun unter Josua in die Position, dieses Gebiet auch tatsächlich von Gott zu „erben“. Doch bereits in Josua 1,1–9 wird deutlich, dass das Land und Gottes Gegenwart darin erkämpft werden müssen. Wichtiger als die militärische Auseinandersetzung mit den Kanaanäern war dabei das Halten der Gebote Gottes. Das Land als Ort der Gegenwart Gottes war in doppelter Hinsicht umkämpftes Gebiet: Israel musste sowohl seinen wiederkehrenden Ungehorsam gegenüber Gott als auch seine militärischen Feinde besiegen. Nur wenn Ersteres gelang, war Letzteres möglich.

„Das Volk hat einen Leiter nötig, der selbst Gottes Gerechtigkeit verkörpert, um Gottes Gegenwart und das daraus resultierende Leben im Überfluss für sein Volk zu vermitteln.“
 

Die vorderen Propheten erzählen daher eine Geschichte des Scheiterns. Israel schaffte es nicht, seinen Ungehorsam gegenüber Gott zu überwinden und erfuhr daher eine gottgewirkte feindliche Hinwegnahme aus dem Land, das Abraham versprochen worden war. Abschnitte wie 2. Könige 17,7–23 fassen die vorderen Propheten passenderweise als eine Erzählung zusammen, in der Israels angehäufte Sünde dazu führte, dass Gott sein Volk „von seinem Angesicht“ verstieß. Dieser Verlust des Landes war hauptsächlich ein Verlust der Gegenwart Gottes.

Gott, Volk und König

Zwei der wichtigsten Charaktere dieser Erzählung wurden bereits genannt: Gott und Israel. Die dritte Hauptfigur habe ich allerdings bislang nicht erwähnt: den Leiter des Volkes. Die Geschichte der vorderen Propheten setzt durchweg ein gesellschaftliches Dreieck voraus, das aus Gott, dem Volk und dem Leiter des Volkes besteht.

Der oben zitierte Text aus Josua 1 beschreibt die Rolle des Leiters in Bezug auf Gott und das Volk: Der Leiter muss Gottes Gebote halten, um das Volk erfolgreich im Land führen zu können. Ähnliche Ansprüche werden auch an den König Israels im Königsgesetz von 5. Mose 17,14–20 gestellt. In Psalm 72 wird zudem deutlich, dass allein der König, der in Gottes Gerechtigkeit lebt, seinem Volk Leben im Überfluss bringen kann.

Diese Beziehung zwischen Gott, Volk und König kann man wie folgt zusammenfassen: Das Volk, das Gottes Gebote halten muss, um in seiner Gegenwart bestehen zu können, hat einen Leiter nötig, der selbst Gottes Gerechtigkeit verkörpert, um Gottes Gegenwart und das daraus resultierende Leben im Überfluss für sein Volk zu vermitteln. Genau dieses Verständnis einer idealen Beziehung zwischen Gott, Volk und König bzw. Leiter entfalten die vorderen Propheten in ihrer Darstellung der Geschichte Israels.

Dies soll hier kurz skizziert werden: Im Josuabuch tritt Josua als ein guter Leiter des Volkes auf, der Israel am Ende seines Lebens dazu auffordert, Gott zu dienen (so wie er und sein „Haus“ es tun, vgl. Jos 24,14–15). Das Volk kann daher unter Josua das Land unterwerfen und dort einen Bund mit Gott eingehen.

Im Richterbuch treten immer noch schlimmere Leiter Israels auf. Diese schaffen es nur kurzfristig, das Volk von seinen Feinden und seinen Götzen zu befreien. Das Ende des Richterbuches (ab Ri 17) ist daher von einem Refrain geprägt, der das Verlangen nach einem gerechten König zum Ausdruck bringt: „Zu jener Zeit gab es keinen König in Israel; jeder tat, was recht war in seinen Augen“ (Ri 21,25).

In den Samuelbüchern werden die Leiter Israels zu Königen. Bedingt durch die altvorderorientalischen Erwartungen an dieses Amt, die gewiss auch von vielen Israeliten geteilt wurden, verschärft sich die Problematik des ungerechten Leiters daher zunächst (vgl. 1Sam 8). Saul wird zum paradigmatisch schlechten König, der sich in seiner Unvernunft über das Gesetz Gottes hinwegsetzt. Der junge David hingegen wird zum paradigmatisch guten König, der seinem Volk „Recht und Gerechtigkeit“ durch seine Beziehung zu Gott verschafft (vgl. 2Sam 7–8). Das Ende Davids zeigt jedoch auf, dass auch sein Königtum mit Sünde zu kämpfen hat (vgl. 2Sam 12).

„Wenn wir die vorderen Propheten heute als Christen lesen, dann steht uns häufig unser moderner Individualismus im Weg.“
 

Die Königebücher erzählen dann, wie die sich anhäufenden Sünden des davidischen Königtums Konsequenzen für ganz Israel nach sich ziehen. Die Linie Davids versagt darin, Gerechtigkeit auszuüben, d.h. das Volk im Halten der Gebote in die Gegenwart Gottes zu führen. Die Konsequenz ist das Exil: Israel muss das Land verlassen, das Gott dem Stammvater Abrahams versprochen hatte. Mehr noch: Sie werden aus der Gegenwart Gottes gerissen.

Die Story und wir

Wenn wir die vorderen Propheten heute als Christen lesen, dann steht uns häufig unser moderner Individualismus im Weg. Das Ergebnis sind moralistische Predigten, die uns erklären, dass wir wie David oder Hiskia sein sollen oder das Beispiel Manasses vermeiden müssen. Solche Ansätze sind im Angesicht der eigentlichen Botschaft der vorderen Propheten problematisch.

Die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige adressieren in ihrer Gesamtheit das Volk Israel in der Exilszeit (vgl. 2Kön 25). Als Erzählung erklären sie, warum Israel in die babylonische Gefangenschaft gehen musste. Der Bericht zielt daher mehr auf die Gemeinschaft des Volkes als auf das Individuum des Königs. Dass die vorderen Propheten für das Volk geschrieben wurden, entgeht uns in unserem individualistischen Weltbild häufig.

Es war das Volk, das Gott erwählte, um das Land zu erben. Es war das Volk, das Glück oder Unglück aufgrund von guten oder schlechten Leitern erfuhr. Es war das Volk, das sich durch das Einsetzen eines Königs aus seinem Elend erheben wollte (vgl. 1Sam 8). Und es war das Volk, das seit der Verheißung eines beständigen Königtums an David (vgl. 2Sam 7) auf den versprochenen ewigen Nachkommen Davids wartete, der Israel die Gegenwart Gottes bringen würde.

Die vorderen Propheten hielten dem gefangenen Volk den Spiegel der Geschichte vor. Sie erzählten vom Versagen Israels und seiner Könige, in Gottes Gegenwart zu leben. Gleichzeitig setzten sie in Abschnitten wie 2. Samuel 7,1–17 Zeichen der Hoffnung auf einen ewigen David. Das ist das hauptsächliche Anliegen dieser Bücher. Gemäß diesem müssen sie auch gepredigt werden.

Im Dreieck von Gott, König und Volk sind wir als neutestamentliche Gemeinde das Volk. Beim Lesen der vorderen Propheten müssen wir daher der wiederkehrenden exegetischen Versuchung widerstehen, uns selbst zum König zu machen (wie einst Israel mit Saul). Nur dann können wir diese Bücher wirklich evangelisch lesen.

Die neutestamentliche Gemeinde hat Jesus zum König, der in seiner Auferstehung als göttlicher David in seine Herrschaft eingesetzt wurde (vgl. Röm 1,3–4). Durch sein Leben und sein Sterben brachte er das Königreich Gottes  (vgl. Mk 1,15). Im Dreieck von Gott, Volk und König bringt unser guter König Jesus uns durch seine Gerechtigkeit in die Gegenwart Gottes. Wir erleben somit die Erfüllung der Hoffnung der vorderen Propheten. Das muss die Leitlinie in der Auslegung dieser Bücher sein.

Lesehilfen

Konkret schlage ich daher folgende Fragen vor, die man sich beim Lesen der vorderen Propheten oder verschiedener Abschnitte daraus immer wieder stellen sollte:

  • Erfuhr das Volk die Gegenwart Gottes im versprochenen Land durch einen gerechten Leiter oder König, oder nicht? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht? Was lief schief?
  • Inwiefern spiegelt das, was schief lief, unsere eigene Sünde wider? Inwiefern spiegelt das, was gut lief, ein Ideal für die neutestamentliche Gemeinde wider?
  • Inwiefern macht uns das Auftreten schlechter Könige und Leiter dankbar für die Ankunft unseres guten Königs Jesus? Inwiefern zeigt uns das Auftreten guter Könige und Leiter das noch bessere Königtum Jesu?
  • Geht der Text mit dem Volk ins Gericht? Inwiefern kann er uns dann Gesetz sein?
  • Gibt der Text dem Volk Hoffnung? Inwiefern erfüllt sich diese Hoffnung im Königtum Jesu?

Generell gilt zu beachten, dass die vorderen Propheten Erzählungen sind und als solche gelesen werden wollen. Man sollte sie daher in großen Abschnitten von mehreren Kapiteln lesen. Gute Literatur genießen wir ja sonst auch in längeren Stücken.

„Generell gilt zu beachten, dass die vorderen Propheten Erzählungen sind und als solche gelesen werden wollen. Man sollte sie daher in großen Abschnitten von mehreren Kapiteln lesen.“
 

Wichtig ist es außerdem, besonders die Anfänge und Schlüsse ganzer Bücher bzw. erzählender Einheiten innerhalb eines Buches zu beachten. Diese geben oft bereits das Leitthema vor. Wiederholungen von Phrasen, Wörtern oder Motiven können ebenfalls helfen, ein Gespür dafür zu entwickeln, was in einem Text wichtig ist.

Generell sollte man versuchen, die vorderen Propheten wirklich als „Literatur“ zu lesen. Als Wort Gottes sind sie sicherlich mehr als das. Sie sind aber eben nicht weniger. Die vorderen Propheten sind wirklich gut geschriebene Erzählungen, die dem Volk Gottes vor Augen halten, dass ein gerechter König nötig ist, um in der Gegenwart Gottes leben zu können.


1Ich verwende hier bewusst den Begriff Story im Gegensatz zu Geschichte, um zwischen der Vergangenheit „wie es eigentlich gewesen ist“ (das, was Menschen häufig mit Geschichte meinen) und der Repräsentation der Vergangenheit in Erzählform (Story) zu unterscheiden.