Das Heilshandeln Gottes

Rezension von Boris Giesbrecht
23. Mai 2024 — 6 Min Lesedauer

Wie werden wir gerettet? Das ist die entscheidende Frage, und jeder Mensch sollte sie beantworten können. Die reformatorische Antwort darauf lautet kurz und knapp, dass es Gott allein ist, der rettet. Die Lehren der Gnade betonen, dass alle Menschen Sünder sind, die sich selbst nicht retten können, sondern Gottes souveränes Eingreifen brauchen, um gerettet zu werden. Aber wie sieht eine solche Errettung konkret aus? Und vor allem: Welche Rolle kommt dem Menschen bei der Errettung zu?

Im Lauf der Geschichte gab es verschiedene Antworten auf diese Frage. Um diese verschiedenen Ansätze zu verstehen und einzuordnen, ist das Buch Das Heilshandeln Gottes äußerst nützlich. Es wurde von Benjamin B. Warfield (1851–1921) verfasst, der mehrere Jahrzehnte lang als Dozent für Systematische Theologie am Princeton Theological Seminary lehrte. Er zeichnete sich als Apologet, Exeget, Neutestamentler und Systematiker aus. Als einer der fähigsten Theologen des frühen 20. Jahrhunderts verteidigte er den evangelikalen Glauben gegen die Angriffe der liberalen Theologen und ist als „Löwe von Princeton“ bekannt geworden. Zum ersten Mal steht sein Werk über die Lehre der Errettung nun auf Deutsch zur Verfügung.

Verschiedene Ansichten

Das Heilshandeln Gottes basiert auf fünf Vorträgen, die Warfield im Juni 1914 hielt. Darin fasst er die unterschiedlichen Ansichten über die Erlösung zusammen, die verschiedene Gruppen von Christen im Laufe der Geschichte vertreten haben. Allerdings handelt es sich nicht um ein neutrales Nebeneinanderstellen von verschiedenen Ansichten, die alle ihre gleiche Daseinsberechtigung haben. Warfield beginnt mit den weitreichendsten Unterschieden und endet mit der Gegenüberstellung von Sichtweisen innerhalb der reformierten Positionen mit weniger radikalen Auswirkungen, wobei er immer zwei Sichtweisen einander gegenüberstellt. Schrittweise stellt er den Leser vor folgende Entscheidungen, während er jeweils die erste Ansicht widerlegt und für die zweite Position plädiert:

  1. Deismus vs. Theismus Überlässt Gott das Universum mechanisch seinem Lauf (Deismus), oder ist er persönlich um die Rettung des Menschen bemüht (Theismus)?
  2. Naturalismus vs. Supranaturalismus Arbeitet sich der befähigte Mensch zu Gott hin (Naturalismus), oder greift Gott übernatürlich ein und rettet den Menschen (Supranaturalismus)?
  3. Sacerdotalismus vs. Protestantismus Rettet Gott durch von ihm bestimmte Werkzeuge wie die Sakramente (Sacerdotalismus), oder wirkt Gott direkt auf die menschliche Seele ein (Protestantismus)?
  4. Universalismus vs. Partikularismus Übt Gott seine rettende Kraft auf jeden Menschen gleichermaßen aus – ob sie nun gerettet werden oder nicht – (Universalismus), oder wendet er sie allein auf bestimmte Personen an, die tatsächlich gerettet werden (Partikularismus)? Mit anderen Worten: Macht Gottes Gnade die Erlösung nur möglich oder rettet sie tatsächlich? In diesem Kapitel geht es also um die Unterscheidung zwischen dem reformierten und dem arminianischen Heilsverständnis.
  5. Supralapsarismus vs. Infralapsarismus Rettet Gott Menschen, um sie unterscheiden zu können (Supralapsarismus), oder unterscheidet Gott zwischen den Menschen, um einige retten zu können (Infralapsarismus)? Hier geht es um die logische (nicht zeitliche) Reihenfolge des göttlichen Plans.

Wichtige Fragen

Das Buch identifiziert damit die biblischen Aussagen, die bei der Frage nach der Errettung des Menschen auf dem Spiel stehen:

  • Es geht um den Zustand des Menschen: Ist er zum Guten fähig oder völlig verdorben und von sich aus nicht fähig, Gottes Gnade zu ergreifen?
  • Es geht um die Wirksamkeit von Gottes Willen: Ist das Sühnewerk von Jesus am Kreuz in gewissen Fällen vergebliche Mühe gewesen oder nicht?
  • Letztlich geht es um die Ehre Gottes: Kann sich der Mensch einer Entscheidung für Gott rühmen und damit Gottes Ehre schmälern?

Warfield will also nicht nur informieren, sondern überzeugen. Dabei ist er getrieben von dem Grundgedanken, dass das Heil ganz und ausschließlich von Gott kommt. Es geht ihm dabei nicht um Rechthaberei, sondern um Soli Deo Gloria (dt. Gott allein die Ehre). Nur wenn gewährleistet ist, dass Gott völlig und in allen Phasen allein rettet, bekommt er auch die Ehre, die ihm zusteht. So gibt es für ihn schlussendlich nur zwei Lehren der Errettung: Dass die Erlösung von Gott kommt oder dass die Erlösung vom Menschen kommt.

„Nur wenn gewährleistet ist, dass Gott völlig und in allen Phasen allein rettet, bekommt er auch die Ehre, die ihm zusteht.“
 

Derjenige, der eine andere Position vertritt, müsse sich fragen, ob er die Größe Gottes der Größe der Freiheit und der Fähigkeit des Menschen opfert. Wer hier einwendet, dass der Mensch doch frei entscheide, dem hält Warfield mit Calvin entgegen:

„Wir leugnen zwar nicht, dass der Mensch spontan und aus freiem Willen handelt, wenn er vom Heiligen Geist geleitet wird, erklären aber, dass sein ganzes Wesen so von Verderbtheit durchdrungen ist, dass er von sich aus nicht die Fähigkeit besitzt, recht zu handeln.“ (S. 68)

Relevante Inhalte

Muss ein Buch, das vor mehr als 100 Jahren erschienen ist, tatsächlich ins Deutsche übersetzt werden? Um mit J.I. Packers Worten über ein anderes Werk zu antworten: „Wer keine Notwendigkeit für lehrmäßige Genauigkeit sieht und keine Zeit für theologische Debatten hat, die die Klüfte zwischen den sogenannten Evangelikalen bloßlegen, wird diese Neuauflage wohl mit Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen.“[1] Für alle anderen ist die Bekanntmachung dieser Inhalte im deutschsprachigen Raum vielleicht sogar noch dringender als bei der Erstveröffentlichung des Buches. Warum? Weil in einigen Gemeinden Unklarheit über die Errettung allein aus Gnade herrscht, und zwar nicht allein in den Kirchenbänken, sondern auch auf den Kanzeln. Widersprechen sich jedoch Prediger in einer Ortsgemeinde in dieser Frage, sorgt das für Verwirrung bei einer zentralen Frage des Evangeliums. Da ist es umso mehr von Bedeutung, wieder ein klares Verständnis dessen zu haben, wie Gott rettet.

Anspruchsvolle Lektüre

Deshalb ist dieses Buch gerade (angehenden) Pastoren und Gemeindeverantwortlichen zu empfehlen. Es schult das scharfe Denken. Wer bereits von der reformierten Heilslehre überzeugt ist, bekommt hier einmal mehr aufgezeigt, was alles auf dem Spiel steht. Wer hingegen von der reformierten Heilslehre nicht überzeugt ist, wird in diesem Buch eine logische Darstellung finden, um die eigene Sichtweise besser einordnen zu können. Für Theologiestudenten ist dieser Klassiker ein Muss, da Warfield es schafft, das Wesentliche auf wenige Seiten zusammenzufassen. Wer von einem der besten Theologen der letzten Jahrhunderte lernen möchte, sollte sich dieses Buch nicht entgehen lassen.

Der Verlag hat sich bemüht, den heutigen Leser mit einem Geleitwort auf das Werk einzustimmen. Da Warfield im deutschsprachigen Raum eher weniger bekannt ist, hat man außerdem noch eine Kurzbiographie über ihn vorangestellt. Allerdings ist bewusst auf vereinfachende Übertragungen der Fachbegriffe verzichtet worden. Ob daher auch der interessierte Laie zu diesem Buch greifen wird, bleibt abzuwarten. Schon der Blick in das Inhaltsverzeichnis könnte ihn zurückschrecken lassen. Um dieses Buch zu verstehen, müsste er vermutlich seinen Wortschatz um Worte wie „Autosoterismus“ oder „Sacerdotalismus“ erweitern. Viele Fachbegriffe dienen zwar der klaren Unterscheidung, erschweren aber das Lesen. Hilfreich ist die zusammenfassende Tabelle, die die Inhalte des Buches einander gegenüberstellt.

Wer erwartet, in diesem Buch eine biblisch-theologische oder exegetische Behandlung der Themen zu finden, wird enttäuscht. Der Autor geht eher philosophisch an die Fragestellungen heran, als sich auf biblische Texte zu stützen. Es finden sich also kaum Bezüge zur Bibel. Dafür muss auf andere Werke verwiesen werden. Als Einstiegs- und Übersichtswerk eignet sich dieses Buch jedoch allemal.

Buch

Benjamin B. Warfield, Das Heilshandeln Gottes, Siegen: Sola Gratia Medien, 2024, 184 Seiten, 13,90 Euro.