Die Entweihung des Menschen
Carl R. Trueman ist Hauptredner auf der E21-Hauptkonferenz 2024. Die Konferenz findet vom 13.–15. Juni 2024 in Hamburg statt. Weitere Informationen gibt es hier.
Dieses Jahr markiert den achtzigsten Jahrestag der Vorlesungen von C.S. Lewis, aus denen später sein Buch Die Abschaffung des Menschen hervorging. Auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs identifizierte Lewis das zentrale Problem der Moderne: Der Welt kamen der Sinn und die Bedeutung wahren Menschseins abhanden. Während die technischen Errungenschaften des Menschen wieder einmal dazu benutzt wurden, menschliches Leben in industriellem Maße zu vernichten, wies Lewis auf die Entmenschlichung hin, die sich ringsherum vollzog. Im weiteren Verlauf des Krieges wurden seine Behauptungen durch die Endlösung und die Atombombe noch weiter bestätigt. Die moderne Kriegsführung war jedoch nicht das einzige Problem. Lewis vertrat die Ansicht, dass auch die intellektuellen und kulturellen Strömungen der Moderne mitschuldig an der Entmenschlichung seien. Der Krieg war ebenso sehr Symptom wie Ursache. Die Moderne war dabei, den Menschen abzuschaffen. Es handelte sich um nichts anderes als eine Krise der Anthropologie.
Entzauberung der Welt
Soziologen haben eine Reihe von Konzepten entwickelt, die das Zeitalter der Moderne charakterisieren. Diese bieten einen nützlichen Hintergrund für Lewis’ Beobachtungen. Das vielleicht einflussreichste Konzept ist Max Webers These von der Entzauberung der Welt. Während früher der lokale Gott oder Heilige für frisches und süßes Wasser sorgte, übernimmt das heutzutage die örtliche Wasseraufbereitungsanlage. Das Dorfleben wurde durch die Anonymität der Stadt ersetzt. Und es ist nicht mehr seine Menschlichkeit, die den Menschen wertvoll macht, sondern sein Einkommen und Konsumverhalten. Die Entzauberung hat sich in jeden Winkel des Lebens eingegraben: War die Liebe einst eine glückliche Fügung, die in einer lebenslangen Bindung zweier Menschen gipfelte, wischen wir heute auf unseren Apps nach links oder rechts, um das nächste Sex-Date zu arrangieren.
Diese Veränderungen bringen ein Gefühl des Verlustes mit sich. Die Moderne hat die Religion und das Übernatürliche an den Rand gedrängt; der Preis dafür war, dass die Welt ihres Geheimnisses beraubt wurde. Wie Matthew Arnold in einem bedeutsamen Gedicht schrieb, ebbt die See des Glaubens ab, , und wir hören nur noch sein „traurig Dröhnen, das im langen Schwund / zurück sich zieht“.
Das Problem besteht nicht nur darin, dass die Welt zu einem phantasielosen und nüchternen Ort wurde. Auch dem Menschen ist der Sinn für seine eigene Bedeutsamkeit verloren gegangen. Je mehr wir die Natur verstehen und kontrollieren, desto mehr erkennen wir unsere eigene Kontingenz und Kleinheit inmitten der Weite eines unpersönlichen Universums. Die einzigartige intellektuelle Brillanz unserer Spezies hat uns ironischerweise jeglichen Sinn dafür geraubt, dass wir eine besondere Bedeutung haben. Wie Pascal bemerkte, erschreckt die ewige Stille dieser unendlichen Räume diejenigen, die über sie nachdenken. Dies ist das Ethos, das das Werk vieler moderner und postmoderner Schriftsteller durchzieht: Kafka, Beckett, Sartre, Pinter. Ohne eine gottgegebene menschliche Natur und einen gottgegebenen menschlichen Zweck ist die Frage „Was ist der Mensch?“ leicht zu beantworten: Er ist nicht besonders viel. Auch seine Natur ist entzaubert.
Endloser Wandel
Eine zweite Facette der Moderne, die von Zygmunt Bauman herausgearbeitet wurde, ist ihre Liquidität. Wir leben in einer Welt, die in ständigem Wandel begriffen ist. Bauman ist nicht der erste, der diese Beobachtung macht. Sowohl Marx als auch Nietzsche äußerten sich im 19. Jahrhundert ähnlich. Das bürgerliche Zeitalter, erklärte bekanntlich Das Kommunistische Manifest, erfordert eine ständige Revolutionierung der Produktion und der Märkte und damit aller sozialen Beziehungen. „Alles Ständische und Stehende verdampft“, wie Marx es ausdrückte; ständige Unruhe war ein Kennzeichen der Moderne. Ähnlich beschrieb Nietzsches „toller Mensch“, der über den Tod Gottes nachdachte, die Erde als von der Sonne losgelöst, was alle alten Gewissheiten in Chaos verwandelte. Beide Männer sprachen die Wahrheit: Der moderne Westen befindet sich in der Tat in einem Zustand des endlosen Wandels und bietet uns keinen Halt, keinen festen Begriff davon, wer wir sind.
„Die Dinge scheinen beständig auseinanderzufallen; und das gilt auch für den Konsens darüber, wer oder was der Mensch ist und wozu er da ist.“
In jüngerer Zeit hat sich der Wandel durch das, was Hartmut Rosa als soziale Beschleunigung bezeichnet, noch verstärkt. Wenn Marx mit seiner Behauptung, die industrielle Produktion sei eine Quelle ständiger gesellschaftlicher Veränderungen, richtig lag, dann vor allem deshalb, weil sie von einer Technologie abhing, die sich selbst ständig veränderte. Auch wir leben in einem Zeitalter beständigen technologischen Wandels, aber er betrifft nicht mehr nur die industrielle Produktion. Technologie prägt alle Bereiche unseres Lebens, von der Bildung bis hin zu unseren romantischen Beziehungen. Sowohl die privaten als auch die öffentlichen Bereiche unseres Lebens sind technologisch überformt, wobei sich die Technologie so schnell ändert, dass wir nicht in der Lage sind, die eine Entwicklung zu verarbeiten, bevor sie von der anderen überholt wird. Das Ergebnis ist ein Gefühl der Benommenheit; die Fähigkeit, selbst unsere persönliche Welt zu kontrollieren, scheint uns immer weiter zu entgleiten. In einem solchen Kontext wird es unmöglich, die Frage nach unserem Sein und unserer Bestimmung zu beantworten. Um es mit Yeats’ „The Second Coming“ zu sagen: Die Dinge scheinen beständig auseinanderzufallen; und das gilt auch für den Konsens darüber, wer oder was der Mensch ist und wozu er da ist.
Entweihung
Die Abschaffung des Menschen, wie Lewis sie beschreibt, findet vor dem Hintergrund zweier Aspekte der Moderne statt: der Entzauberung und der sich beschleunigenden Liquidität. Allerdings, so meine ich, ist für ein angemessenes Verständnis unserer Zeit eine dritte Kategorie hinzuzufügen: die der Entweihung. Der Mensch ist erschaffen nach dem Bild Gottes. Das macht die Abschaffung des Menschen zu einem theologischen Akt mit theologischen Konsequenzen. Für sich genommen bringen weder Entzauberung noch Liquidität diesen Aspekt des Problems angemessen zum Ausdruck, das theologische Konzept der Entweihung hingegen schon.
Das wird uns klarer, wenn wir über die erklärungsschematischen Grenzen von Entzauberung und Liquidität nachdenken. Die erste besteht darin, dass diese Konzepte nur auf den Verlust von etwas hinweisen, was einmal war. Entzauberung verweist auf den Verlust von Verzauberung. Während einst das Übernatürliche das Natürliche durchdrang und das Transzendente die Bedingungen für das Immanente festlegte, bleiben heute nur noch das Natürliche und das Immanente übrig. Ähnlich verhält es sich mit der Liquidität: Wir haben nicht mehr, wie Marx es ausdrückt, ständische und stehende Verhältnisse. Alles richtig – aber der Zustand der Moderne beschränkt sich nicht, wie wir sehen werden, auf diese Verluste.
Das zweite Problem ist, dass Entzauberung und Liquidität einen Mangel an menschlichem Handlungsvermögen suggerieren. Beide sind das Ergebnis unpersönlicher sozialer Prozesse: Industrialisierung, Bürokratisierung, Technologisierung, Globalisierung. Verbunden mit diesen Prozessen ist die Verdinglichung der Phänomene, auf die sie sich beziehen, im allgemeinen Sprachgebrauch: Industrie, Bürokratie, Technologie, die globale Wirtschaft. Jedes dieser Phänomene nimmt in unserem Denken ein Eigenleben an; in diesen Prozessen treten wir Menschen als austauschbare Objekte auf, nicht als aktive Subjekte oder Personen. Doch die Prozesse selbst sind das Ergebnis menschlichen Handelns. Wenn wir zu Rädchen in der Maschine geworden sind, dann deshalb, weil wir die Maschine gebaut haben.
Darüber hinaus dürfen wir den Einfluss und das Wirken kultureller Eliten – der Rechts-, Bildungs-, Technologie-, Kunst-, Manager- und politischen Klassen – nicht außer Acht lassen. In der Vergangenheit sahen sich diese Eliten mit der Aufgabe betraut, Kontinuität zu garantieren; das geschah durch die Wertevermittlung von Generation zu Generation und die sorgfältige Pflege der für diese Aufgabe notwendigen Institutionen und sozialen Praktiken. Heute ist der vorherrschende Impuls unserer Eliten Zerrüttung, Zerstörung und Zerstückelung. Die Abschaffung des Menschen ist ein bewusstes Projekt der Offiziersklasse unserer Kultur, nicht einfach nur das Ergebnis unpersönlicher sozialer und technologischer Kräfte. Für sich genommen, reichen die Kategorien der Entzauberung und Liquidität nicht aus, um dieses Projekt angemessen zu verstehen.
Das dritte Problem besteht darin, dass weder Entzauberung noch Liquidität die theologische Signifikanz der Veränderungen berücksichtigt, die die Moderne in Bezug auf das Verständnis des Menschseins mit sich gebracht hat. Man muss kein Christ (und nicht einmal Theist) sein, um zu begreifen, dass diese Transformationen theologisch bedeutsam sind. Sowohl bei Marx als auch bei Nietzsche ist „Entweihung“ ein Teil ihres Verständnisses der modernen Welt. In derselben Passage des Kommunistischen Manifests, in der verkündet wird, dass alles Stehende verdampft, wird erklärt, dass alles Heilige entweiht wird. Und Nietzsches „toller Mensch“ macht sehr deutlich, dass Gott nicht nur in der moralischen Vorstellung aufgehört hat zu existieren, sondern tot ist – mehr noch, dass wir ihn getötet haben. Diese Tötung Gottes ist sicherlich der ultimative Akt aktiver Entweihung.
Sowohl Nietzsche als auch Marx bewerten diese Entweihung positiv. Für Marx ist Religion ein Opiat, das das Proletariat daran hindert, den vollen Schmerz zu spüren, den der Kapitalismus verursacht. Religionskritik ist daher von zentraler Bedeutung für das revolutionäre Projekt. Entweihung ist eine Voraussetzung für die Verwirklichung der kommunistischen Utopie. Für Nietzsche ist der Tod Gottes, auch wenn er eine erschreckende Verantwortung auf die Schultern der Menschen legt, eine notwendige Voraussetzung für die Selbsttranszendenz des Menschen. Die Frage ist nur, ob wir dieser Aufgabe gewachsen sind.
Nicht jede Form von Entweihung in der Moderne ist das Ergebnis absichtlichen Handelns. Die mechanisierte Kriegsführung verschärfte das moderne Problem der Theodizee und fügte der traditionellen Religion schweren Schaden zu. Wilfred Owens Gedicht „Anthem for Doomed Youth“ überträgt die Sprache der christlichen Liturgie auf das Gemetzel in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Der Glaube wird entweiht, aber nicht durch die Handlungen eines bestimmten Individuums, sondern durch das Chaos eines Krieges, der durch die Macht der Industrie überladen wurde und das Ergebnis eines zufälligen Zusammentreffens zahlreicher Aspekte der Moderne war.
Häufiger wird Entweihung jedoch als bewusster Akt betrieben. Ich habe bereits auf den Zerstückelungsdrang moderner Eliten – der Disruption und Diskontinuität zum Ziel hat – verwiesen. Dieser tritt nirgendwo deutlicher zutage als in ihrem „Entweihungsbestreben“. Von Algernon Charles Swinburne bis Francis Bacon und darüber hinaus ist die bewusste Entweihung des Heiligen ein ständiges Thema. Nehmen wir zum Beispiel die ersten Zeilen von James Joyces Ulysses:
„Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen. Ein gelber Schlafrock mit offenem Gürtel bauschte sich leicht hinter ihm in der milden Morgenluft. Er hielt das Becken in die Höhe und intonierte: – Introibo ad altare Dei.“
So beginnt das größte Meisterwerk der Moderne – mit der ersten Zeile der Messe, gesprochen von einem Mann, der sich gerade rasiert, wobei seine Genitalien für alle sichtbar im Wind flattern. Auch wenn wohl nicht davon auszugehen ist, dass die Abschaffung des Menschen zu Joyces Absichten gehörte (indem er das homerische Epos in den Alltag des modernen Dublins überträgt, adelt er den Menschen nicht weniger, als dass er ihn ironisiert), beginnt sein Ulysses mit einem Moment der Entweihung. Das hat Auswirkungen auf die Anthropologie. Die Religion zu verspotten, bedeutet letztlich das der Religion innewohnende Verständnis von Gott und dem Menschen zu verspotten.
„Entweihung ist heute Mainstream, ein Kennzeichen selbst des billigsten Sektors der Unterhaltungsindustrie.“
Es ließe sich viel über die antireligiöse Tendenz großer Teile der Hochmoderne sagen. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass das Projekt der bewussten Entweihung Teil unserer Popkultur geworden ist. So wie sich der anspruchsvolle Joyce in den 1920er Jahren über die lateinische Messe lustig machte, erinnerte uns der talentierte Billy Joel in den 1970er Jahren daran, dass katholische Mädchen viel zu lange warten, bis sie ihre Jungfräulichkeit verlieren; und jetzt singt der alberne Lil Nas X Lieder, die ebenso blasphemisch wie banal sind. Entweihung ist heute Mainstream, ein Kennzeichen selbst des billigsten Sektors der Unterhaltungsindustrie.
Kampf gegen die Autorität des Körpers
Dass Entweihung zum Mainstream geworden ist, lässt sich vielfach belegen. An dieser Stelle möchte ich mich jedoch auf die Bereiche Sexualität und Tod beschränken. Beide sind traditionell Angelegenheiten von tiefer religiöser Bedeutung. Sex ist der geheimnisvolle Ursprung des Lebens, der Tod markiert sein geheimnisvolles Ende. Es ist daher kaum verwunderlich, dass sich ein großer Teil der Gesetze des Pentateuch mit den Auswirkungen von Sex und Tod auf die kultische Reinheit befasst. Das Gesetz legt detailliert fest, wie jemand, der aufgrund von Sex oder sexuell bedingten Phänomenen oder durch den Kontakt mit einem toten Körper unrein ist, durch Opfer und Waschungen in die Gemeinschaft zurückkehren kann. Auch im Islam sind Sex und Tod mit Fragen kultischer Reinheit verbunden.
Auch wenn der Pentateuch im Christentum als durch Christus transformiert gelesen wird, liefert er immer noch den Kontext für das neutestamentliche Drama. In Markus 5 heilt Jesus den Besessenen bei den Gräbern, macht die Frau mit dem Blutfluss gesund und erweckt die Tochter des Jairus von den Toten. In jedem Fall besteht das Wunder in der Überwindung von Unreinheit, die in irgendeinem Zusammenhang mit Sex oder dem Tod steht. Außerdem versteht das Christentum den Bund der Ehe analog zum Bund zwischen Christus und seiner Kirche; diese Analogie spiegelt sich sowohl in Paulus’ Sexualethik als auch im sakramentalen Eheverständnis der katholischen Kirche wider.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass westliche Gesellschaften Sex und Tod lange Zeit mit öffentlichen, sakralen Ritualen umgeben haben. Ein Traugottesdienst war die Voraussetzung für legitime sexuelle Erfahrungen. Säuglinge wurden getauft. Tote wurden in geweihter Erde begraben. Sex und Tod waren sakrale und gemeinschaftlich bedeutsame Angelegenheiten.
Die veränderte Haltung gegenüber Sex und Tod in der Moderne ist somit keineswegs trivial. Es gibt viele wichtige gesellschaftliche Themen: Einkommenssteuersätze, Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen, das gesetzliche Mindestalter für den Erwerb von Alkohol und so weiter. Aber keines davon ist so zentral für das Wesen einer Kultur wie deren Einstellung zu Sex und Tod. Man muss nicht religiös sein, um das zu erkennen. Man muss lediglich anerkennen, dass Sex und Tod traditionell sakrale Angelegenheiten waren, um den Verlust dieses Status als bedeutsam zu erachten.
Sex und Tod sind untrennbar mit dem Körper verbunden. Im Sexualakt entsteht im Zusammenkommen zweier Körper ein neuer; der Tod markiert das Ende des körperlichen Lebens. Tatsächlich waren Sex und Tod deshalb sakrale Angelegenheiten, weil der Körper selbst – in den Grenzen des Geheimnisses von Geburt und Sterben – heilig war. Man könnte es auch anders formulieren: Diejenigen, die nach Gottes Bild geschaffen wurden, wurden als Körper geschaffen. Das Ebenbild bewohnte den Körper nicht auf die Weise, wie ein Astronaut einen Raumanzug bewohnt. Der Körper war die Person. Adam bekräftigt das, als er Eva sieht und erklärt: „Diese endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch.“ Auch die neutestamentliche Lehre von der leiblichen Auferstehung bestätigt, dass der Mensch kein gespenstisches, immaterielles Wesen ist, sondern eine Einheit aus Körper und Seele.
Die Kultur der Moderne tendiert dahin, dem Körper diese Bedeutung abzusprechen. Um eine Person zu sein, reicht Körperlichkeit als Kriterium nicht mehr aus, wie z.B. die Philosophen Peter Singer und Derek Parfit betonen. Dieses Argument ist keineswegs nur in Universitätsseminaren zu hören, sondern Teil der allgemeinen Moralvorstellung unserer Zeit. Wir räumen Gefühlen intuitiv den Vorrang ein und sprechen dem Körper (und den Beziehungen, die Körperlichkeit impliziert) seine Autorität ab. Wir begreifen uns in erster Linie als psychologische Wesen; eine Vorstellung, die durch die reibungslosen, körperlosen Interaktionen unserer Online-Welt noch verstärkt wird.
„Die Entweihung des Menschen manifestiert sich heute am deutlichsten in einem Kampf gegen die Autorität des Körpers.“
Die Entweihung des Menschen manifestiert sich heute am deutlichsten in einem Kampf gegen die Autorität des Körpers, insbesondere gegen seine sexuelle Natur und seine Sterblichkeit. Pornographie ist ein offensichtliches Beispiel. Was macht Pornographie? Sie „entpersönlicht“ den geheimnisvollen, schöpferischen Sexualakt, indem sie ihn zu einer Konsumware für Dritte degradiert. Die Bedeutung des Sexualakts liegt nicht in der Interaktion der Akteure, sondern in dem Vergnügen, das diese dem Konsumenten bereiten. Pornographie verwandelt das menschliche Subjekt in ein Objekt, den verkörperten Menschen zu einem Stück Fleisch. Der zunehmend gewalttätige Charakter heutiger Pornographie verstärkt diesen Prozess noch. Pornographie ist somit entmenschlichend. Oder anders ausgedrückt: Sie ist eine Entweihung des Menschen.
Die grundlegende Logik der Pornographie liefert die (logisch zu Ende gedachte) sexuelle Revolution. In der Vergangenheit war Sexualität aufgrund ihrer Verwobenheit mit dem Mysterium des Lebens heilig; heutzutage ist Sex nicht viel mehr als eine Freizeitbeschäftigung und ein Mittel zur Selbstverwirklichung. Früher einmal brachte Sex das Individuum dazu, die andere Person als Subjekt zu betrachten, demgegenüber man sich verpflichtet; heute neigt man dazu, andere Menschen als Objekte zu sehen, die in erster Linie zur persönlichen Befriedigung benutzt werden können. Die sexuelle Revolution bringt eine Entweihung des Menschen mit sich.
Ein weiteres Beispiel ist die heutige Transgender-Bewegung. Die Loslösung der Person vom Körper erreicht ihren Höhepunkt in der Aussage „Ich bin eine Frau, gefangen im Körper eines Mannes“. Diese Aussage ist nur in einer Welt plausibel, in der psychologische Gefühle essenzialisiert und mit einer Autorität ausgestattet wurden, die dem Körper verweigert wird. Natürlich entsteht hier ein Widerspruch: Wenn der Körper irrelevant ist, warum muss er dann mit außerordentlichem Aufwand so umgestaltet werden, dass er einer innerlich gefühlten Geschlechtsidentität entspricht? Der Körper ist nur in instrumenteller Hinsicht relevant: Er ist nicht mein wahres Ich, sondern ein Mittel, mit dem ich meinem wahren Ich nach außen hin Ausdruck verleihe. Nun können und sollten wir in unserem pastoralen Umgang mit diesem Thema sehr sensibel sein, gerade weil die Person, die einen solchen Anspruch erhebt, genau das ist: eine Person. Akzeptiert man jedoch die Gültigkeit dieser Behauptung, verleugnet man die Bedeutung des Körpers und damit auch wahres Personsein, das vom Körpers nicht zu trennen ist. Eine solche Verleugnung entweiht den Menschen.
Das ermöglicht uns auch, die Widersprüchlichkeit der aktuellen Probleme innerhalb der breiteren LGBTQ- und feministischen Bewegungen in Bezug auf Trans-Rechte zu erkennen. Traditionelles lesbisches, schwules und bisexuelles Denken geht von einer verkörperten Geschlechtsbinarität aus; sich zu seinem eigenen Geschlecht hingezogen zu fühlen, setzt die Stabilität dieses Geschlechts als Kategorie voraus. So erklärt sich der wachsende Widerstand einiger Lesben und Schwulen gegen den Transgenderismus. Hier jedoch entsteht ein Problem. Auch diese Gruppen leugnen (paradoxerweise) in der Praxis die Bedeutung der verkörperten Geschlechtsbinarität; nämlich die Vorstellung, dass Männer und Frauen in einer intrinsischen sexuellen Komplementarität existieren, wobei der eine für den anderen geschaffen ist. Die Leugnung dieser Komplementarität stuft die Bedeutung des Körpers für das Personsein effektiv herab. Denn wenn eine richtig geordnete sexuelle Vereinigung die Hingabe des eigenen Körpers an einen anderen beinhaltet, dann ist die sexuelle Konstitution des Körpers ein zentraler Bestandteil beider Personen. Wenn aber die geschlechtliche Beschaffenheit des Körpers für die intimste aller menschlichen persönlichen Interaktionen irrelevant ist, dann ist das, was ich bin, auf eine sehr grundlegende Weise von meinem Körper losgelöst. Ich werde zu etwas, das meinen Körper bewohnt und ihn als Instrument benutzt, nicht zu etwas, das ich bin. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass man den Körper nicht entweihen und gleichzeitig eine stabile Vorstellung von der eigenen Person beibehalten kann – genauso wenig wie Nietzsche meint, man könne Gott töten, ohne die Erde von der Sonne loszulösen.
Auch Praktiken im Zusammenhang mit dem Tod haben, so wie der Sex, ihren sakralen Charakter verloren. Einst war der Tod ein heiliges Mysterium; heute mobilisieren wir soziale und technologische Kräfte, um ihn zu leugnen. Gewalt und Tod – früher einmal zu heilig, um in griechischen Tragödien auf der Bühne dargestellt zu werden – sind zur trivialen oder pornographischen Kost von Filmen und Videospielen geworden. Das römische Kolosseum machte den Tod zum Gegenstand der Unterhaltung; heute bringen Filme und Videospiele pornographische Gewalt in die Wohnzimmer, ja in die Hände aller, die einen Fernseher, eine Spielkonsole oder ein Smartphone besitzen.
Der wirkliche Tod ist eine rein medizinische Angelegenheit, bei der die Sterbenden in Krankenhäusern und Hospizen untergebracht werden. Der Kampf gegen den Körper ist auch hier von Bedeutung, denn worin besteht die letzte Autorität unseres Körpers? Nicht in der Vorgabe unseres Geschlechts als männlich oder weiblich, sondern in der Tatsache unserer Sterblichkeit. Vor diesem Hintergrund erscheint die Euthanasie wie ein letzter (und wohl vergeblicher) Versuch, die Kontrolle darüber zu erlangen, wer wir sind.
Der Domestizierungsversuch der Sterblichkeit geht auch nach dem Tod weiter. Kirchen werden in der Regel ohne Friedhöfe gebaut und Gottesdienste werden nicht mehr in der Nähe der Verstorbenen abgehalten. Beerdigungen werden zu Feiern des Lebens. Feuerbestattungen werden mit jedem Jahr beliebter, wofür es durchaus praktische Gründe geben mag (Kosten, Platzmangel). Trotzdem bleibt es dabei, dass auf diese Weise jede bleibende, sichtbare Erinnerung der Lebenden an die Toten als Tote eingeäschert wird. Es stimmt, einige haben Urnen mit der Asche ihrer Angehörigen. Aber das Gefäß auf dem Kaminsims zu Hause ist etwas anderes – etwas weniger Heiliges? – als eine Grabstätte neben einem Gotteshaus. Es ist schwer, stille Ehrfurcht zu bewahren, wenn der Fernseher dröhnt und der Kessel kocht.
Auch der Transhumanismus (von dem der Transgenderismus eine philosophische Subkategorie ist) ist Ausdruck dieses Domestizierungsversuchs. Der Körper in seiner Sterblichkeit ist die finale Barriere der Selbsterschaffung. Sich als Mann zu identifizieren, obwohl man eine Frau ist, bedeutet, sich der Autorität des Körpers zu widersetzen; aber man kann sich mithilfe von Hormonen, Operationen und der Bestätigung der einen umgebenden Welt vom Gegenteil überzeugen. Man kann sich auch der Autorität des Körpers widersetzen, indem man sich als unsterblich identifiziert – aber hier wird man den Verdacht nicht los, dass der Körper seine Autorität eines Tages geltend machen und Widerspruch einlegen wird. So erklärt sich das Bestreben der Transhumanisten, die menschlichen Grenzen, insbesondere die der begrenzten Dauer unseres sterblichen Lebens, zu überwinden.
Im Rausch der Zerstörung
An dieser Stelle möchte ich auf einen weiteren Nutzen der Kategorie der Entweihung als Erklärungsschema der Moderne hinweisen: Sie hilft nämlich, die Intentionalität und den Rausch zu erklären, die mit der Zerstörung der alten Anthropologie der menschlichen Ausnahmestellung (er ist Ebenbild Gottes) und Begrenztheit (er ist Geschöpf) einhergehen. Entweihung ist eine Machtbehauptung, die den größten Mythos bekräftigt, den unsere Kultur gerne glaubt, – dass wir die gottgleichen Herren des Universums sind. Noch einmal: Die Kategorien der Entzauberung und Liquidität können nicht erklären, warum beispielsweise einige Abtreibungsaktivisten Abtreibung nicht einfach nur als notwendiges Übel betrachten, sondern als etwas, auf das man stolz sein und dessen man sich rühmen kann; sie können auch nicht den männlichen Trans-Aktivisten erklären, der kürzlich damit prahlte, eine Gebärmuttertransplantation zu wollen, nur damit er schwanger werden und abtreiben kann. Die bewusste, ekstatische und irrationale Freude an der Zerstörung alter moralischer Normen, traditioneller Kategorien und körperlicher Realitäten reicht über das hinaus, was unpersönliche soziale Phänomene bewirken können.
Die Kategorie der Entweihung macht solche Dinge verständlicher. Übertretung bereitet Lust, wie sowohl Augustinus als auch Freud verstanden; und je größer die Übertretung, desto größer die Lust. Nun, kann es eine größere Übertretung geben als gegen das Heilige? Indem wir Gott töten, gewähren wir uns das Privileg, selbst zu Göttern zu werden. Es gibt sicherlich keinen größeren Rausch, als Gott zu sein. Und es gibt keine dramatischere Art, Gott zu sein, als einen heiligen Krieg gegen die gottgegebene Natur des verkörperten Menschseins zu führen.
„Losgelöst vom Ebenbild Gottes und seiner Personhaftigkeit ist der Körper bestenfalls eine lebendige Knetmasse.“
Die Entweihung des Menschen fordert einen hohen Preis. In einem Brief, der (wie Lewis’ Vorlesungen über die Abschaffung des Menschen) in den frühen 1940er Jahren geschrieben wurde, bemerkte Czesław Miłosz gegenüber seinem Freund Jerzy Andrzejewski, dass das Wort „Mensch“ ohne religiöse und metaphysische Untermauerung inhaltslos werde. An anderer Stelle desselben Briefes spricht Miłosz davon, dass die philosophische Reduktion der menschlichen Person auf einen Klumpen animierten Fleisches (oder, wie Mary Harrington es kürzlich formulierte, „Fleischlego“) die Gräueltaten des Krieges ermöglicht hat. Ist diese Reduktion erst einmal vollzogen, so Miłosz, kann man sich leicht vorstellen, wie junge Männer in sauberen Militäruniformen andere Menschen erschießen, während sie gleichzeitig ihr Mittagessen verspeisen. In Crepuscular Dawn stellt Paul Virilio fest, dass für die nationalsozialistische Eugenik der Körper keine moralische Bedeutung habe; die Lagerärzte konnten daher ihre grausamen Experimente ohne Gewissensbisse durchführen. Losgelöst vom Ebenbild Gottes und seiner Personhaftigkeit ist der Körper bestenfalls eine lebendige Knetmasse. Und so schreitet die Entweihung weiter voran, wie die jüngsten Reaktionen amerikanischer Universitäten auf die Gewalt der Hamas gegen jüdische Kinder zeigen. Dostojewskis Iwan Karamasow war angesichts des unermesslichen Leids unschuldiger Kinder nicht in der Lage zu akzeptieren, die göttliche Vorsehung könne dem Ganzen doch noch einen letzten Sinn verleihen. In einem melancholischen Akt der Rebellion erklärte er den Preis der Harmonie als zu hoch und gibt Gott mit höchster Achtung seine Eintrittskarte zurück. Der Tod Gottes und die damit einhergehende Entmenschlichung hat unsere Welt zu einem Ort gemacht, an dem man selbst im Angesicht zerstörter Kinder in Feierlaune schwelgt.
Unser kulturelles Vorstellungsvermögen ist durchdrungen von den scheinbar endlosen Möglichkeiten der Technologie. Der Begriff „Mensch“ ist für uns noch entleerter, als er es für Lewis und Miłosz war. Technologische Entwicklungen destabilisieren den Begriff des Menschseins und drängen uns gleichzeitig dazu, die Natur als bloßes Rohmaterial zu betrachten. In dem Maße, in dem unsere Erinnerung an die christliche Moralvorstellung verblasst, können wir den Begriff „Mensch“ nach unserem eigenen Gutdünken definieren. Es ist diese Ablehnung der Autorität des Körpers, die die Frage „Was ist eine Frau?“ so schwierig zu beantworten macht. Die Verwirrung der Geschlechter ist kein separates Phänomen; sie entspringt einer grundlegenden Verwirrung darüber, wie die Frage „Was ist ein Mensch?“ zu beantworten ist.
Das Fehlen eines normativen, verkörperten Verständnisses wahren Menschseins befreit unseren technologisch ermächtigten Willen von allen Beschränkungen. Die Frage, was Menschsein bedeutet (wenn es überhaupt etwas bedeutet), wird in die Zukunft projiziert; nicht berücksichtigt wird dabei, was wir in der Vergangenheit waren oder in der Gegenwart sind. Wenn Menschsein, wie es das Christentum lehrt, Körperlichkeit impliziert, dann sind wir heute entmenschlicht. Unsere Körper sind bloße Materie ohne moralische oder teleologische Bedeutung; in einem Akt zu verwirklichende Potenz. Da unserer Potenz jedoch kein Wesen eingeschrieben ist, hat sie keine intrinsische Form, die definieren könnte, wie eine Verwirklichung auszusehen hat. Das ist das Szenario, das Lewis in seinem Werk Die böse Macht ins Auge fasste.
Der Genialität des Menschen und ihren nihilistischen Resultaten wohnt eine Ironie inne. Während der wissenschaftlichen Revolution nutzte der Mensch seine außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten, um sich selbst davon zu überzeugen, dass er gar nicht außergewöhnlich ist. Heute kombiniert er seine Willenskraft mit seinem technischen Talent, um sich selbst in Knetmasse zu verwandeln. In einer totalen Revolution, wie Augusto Del Noce es nennen würde, setzt er seine Menschlichkeit beharrlich dazu ein, sich selbst zu entmenschlichen.
Die moderne Krise der Anthropologie überwinden
Gibt es Hoffnung? Für einen Richtungswechsel müssen wir ein normatives Verständnis dessen zurückgewinnen, was Menschsein bedeutet. Wie ist das zu erreichen? Unser Grundproblem besteht heute nicht darin, so mein Argument, dass der Mensch entzaubert oder verflüssigt ist, sondern dass er – zum Teil durch die unpersönlichen Kräfte der Moderne, vor allem aber durch seine eigene Hand – entweiht worden ist. Sakralisierung ist damit der Kern der Lösung dieses Problems. Das lässt sich jedoch nicht durch die Verabschiedung von Gesetzen regeln. Die für die Sprache der Sakralisierung empfängliche spirituelle Vorstellungskraft ist nicht etwas, das unter der Kontrolle von Politikern steht. Die moderne Krise der Anthropologie muss von den religiösen Gemeinschaften bewältigt werden, die ihren Glauben in lokalen Kontexten feiern und leben. Es handelt sich in erster Linie um eine theologisch fundierte liturgische Antwort, da es Gottesdienst und Anbetung sind, die die Menschen in die Gegenwart des Gottes bringen, nach dessen Bild sie geschaffen sind und der ihre gemeinsame Humanität begründet.
„Die moderne Krise der Anthropologie muss von den religiösen Gemeinschaften bewältigt werden, die ihren Glauben in lokalen Kontexten feiern und leben.“
Die frühe Kirche brach mit den zeitgenössischen römischen Vorstellungen und setzte ein Bekenntnis, einen Kodex und einen Kult durch, der den Menschen als Ebenbild Gottes verstand und behandelte. Frauen profitierten, Kinder profitierten, Arme und Schwache profitierten – die Menschlichkeit profitierte. Diese Nächstenliebe beruhte nicht auf einem seichten Altruismus, sondern auf einem tiefgründigen Verständnis von Gott und seinem Handeln in Christus. Es ist kein Zufall, dass vertiefte Reflexion über die Identität Christi und den dreieinigen Gott diese barmherzige Kirche der ersten Jahrhunderte prägte. Ihre Vision vom Menschen als Person (nicht als Objekt) mit einem ihm angeborenen Wert gründete in der Vorstellung, dass wir alle im Bilde Gottes erschaffen sind. Die menschliche Natur – Körper und Seele – hatte einen normativen, heiligen Inhalt. Das gilt auch heute noch. Nur wenn die Kirche in ihrer Gesamtheit die Größe des Gottes erkennt, nach dessen Bild wir erschaffen sind, kann die Wiederherstellung wahren Personseins und der Würde von Männern und Frauen gelingen. Nur mit Gott im Mittelpunkt werden wir in der Lage sein, die Herausforderungen zu bewältigen, die sich der menschlichen Natur durch die verschiedenen Instrumente der Entzauberung, Liquidität und Entweihung – von der Technologie bis hin zu den ständig wechselnden Vorlieben der Identitätspolitik – stellen.
Anders als Nietzsche behauptet hat, ist Gott nicht tot. Als moderne Menschen haben wir jedoch Nietzsches Behauptung als Entschuldigung dafür benutzt, den Menschen zu entweihen, uns selbst und andere in unbedeutende, sexualisierte, belebte Fleischklumpen zu verwandeln. Nur eine Wiedergewinnung und Verkündigung des lebendigen Gottes im lebendigen Gottesdienst der Kirche kann den Menschen wieder sakralisieren und ihn vom Rande eines nihilistischen, entmenschlichten Abgrunds zurückholen. Wenn der moderne Mensch verlangt, dass ich seine Entweihung als Preis für den Eintritt in eine Welt akzeptiere, in der Gott tot ist, dann gebe ich ihm – für meinen Teil – die Eintrittskarte mit höchster Achtung zurück.