Sollten Christen Marihuana rauchen?

Artikel von Kevin Vanhoozer
3. Mai 2024 — 9 Min Lesedauer

Was hat Gras mit der guten Nachricht zu tun?

Mein Vater, ein Apotheker, war überzeugt: Wer Marihuana raucht, geht vor die Hunde. Ich bin in den 1960er und 1970er Jahren mit der Ansicht aufgewachsen, dass mich selbst ein beiläufiger Flirt mit „Mary Jane“ ins Verderben stürzen würde. Ich kann also auf keine persönlichen Erfahrungen zurückgreifen, wenn ich über die neue Normalität vieler Menschen rede: Marihuana ist legal.

Wie passt der Konsum von legalisiertem Marihuana zur christlichen Ethik und Lebensweise? Jesus sagt, seine Last sei leicht (vgl. Mt 11,30), aber einen durchziehen ist noch leichter. Was, wenn überhaupt etwas, sollten Pastoren dazu sagen? Dürfen Jünger Jesu, die ihr Kreuz auf sich nehmen, einen Joint zwischen den Fingern halten?

In meinem Heimatstaat Illinois wurde Marihuana im Jahr 2020 legalisiert. In mehreren anderen Bundesstaaten war es bereits legal. Lokale Bezirke und Gemeinden sind geteilter Meinung darüber, ob sie den Verkauf von Marihuana zur Entspannung erlauben sollen (medizinisches Marihuana ist ein anderes Thema). THC (die bewusstseinsverändernde Chemikalie in Cannabis) kann nun in Form von Backwaren eingenommen, getrunken und geraucht werden (das in Chicago ansässige Unternehmen Cresco Labs stellt mehr als 500 Marihuana-Produkte her).

Befürworter der Legalisierung erhoffen sich Mehreinnahmen (durch Umsatzsteuern und Lizenzgebühren), Gegner hingegen sorgen sich um erhöhte Ausgaben im Gesundheitswesen und die unsäglichen persönlichen und sozialen Kosten für diejenigen, die süchtig werden oder Psychosen erleiden.

Die Bibel schweigt zum Thema Marihuana (aber nicht zum Rausch). Es handelt sich dabei nicht um die Frucht des Baumes im Garten Eden, und es wäre raffiniert – aber falsch – in Johannes 6,10 einen versteckten Hinweis zu sehen: „Es war nämlich viel Gras an dem Ort.“

„Jünger sollten weise mit ihrer Zeit und Energie umgehen – und auch was in der Freizeit geschieht, gehört zu unserem Jünger-Sein dazu.“
 

„Die Bibel verbietet Marihuana nicht ausdrücklich, also dürfen wir es auch rauchen!“ – Es gibt gute Gründe, dieses Auslegungsprinzip abzulehnen.

Marihuana: Was jeder wissen muss

Legalisierungsbefürworter weisen darauf hin, dass Marihuana in den Niederlanden bereits in den 1970er Jahren legalisiert wurde und nicht zu weitverbreiteter Kriminalität, geschweige denn zum Zusammenbruch der niederländischen Gesellschaft geführt hat. Sie argumentieren, dass Cannabis, wenn es in Maßen konsumiert wird, sicherer ist als Alkohol oder Tabak. Ein gutes Buch über die Vor- und Nachteile der Legalisierung von Marihuana aus Sicht der Politik ist Marijuana Legalization: What Everyone Needs to Know.

Während einige Konsumenten von einem erhöhten Bewusstsein sensorischer Erfahrungen berichten, kommen Studien zu dem Schluss, dass der Nettoeffekt des Kiffens ein gewisser Grad an kognitiver Beeinträchtigung und eine geringere „Ausführungsfunktion“ ist. Das oben genannte Buch berichtet: „Der Einfluss von Marihuana kann das verbale und das Arbeitsgedächtnis, die Aufmerksamkeit und die psychomotorische Leistung beeinträchtigen.“

Das National Institute on Drug Abuse ist eine zuverlässige Quelle, wenn wir uns die kurz- und langfristigen Auswirkungen von Marihuana auf das Gehirn anschauen möchten. Das Ergebnis lautet, dass regelmäßige Konsumenten großer Mengen von Marihuana mit größerer Wahrscheinlichkeit eine geringere Lebenszufriedenheit, eine schlechtere geistige und körperliche Gesundheit und größere Beziehungsprobleme haben.

Der Konsum von Marihuana bei Teenagern und jungen Erwachsenen führt, wie die American Academy of Pediatrics feststellt, zu einer „Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses und einer Verringerung der Konzentration, der Aufmerksamkeitsspanne und der Problemlösungsfähigkeit. … Es wurden auch Veränderungen in der motorischen Kontrolle, der Koordination, des Urteilsvermögens, der Reaktionszeit und der Verfolgungsfähigkeit dokumentiert.“

Aus all diesen Gründen fordert der National Safety Council („Sicherheit ist unsere Mission“) Arbeitgeber dazu auf, allen Arbeitnehmern in sicherheitsrelevanten Berufen den Konsum von Cannabis zu verbieten, auch wenn sie nicht bei der Arbeit sind. In Illinois müssen alle Apotheken Schilder mit folgendem Hinweis anbringen: „Cannabiskonsum kann die Wahrnehmung und das Fahrverhalten beeinträchtigen, ist nur für Erwachsene bestimmt, kann süchtig machen und sollte nicht von schwangeren oder stillenden Frauen konsumiert werden.“

Und die American Medical Association, die größte Ärztevereinigung des Landes, ist der Ansicht, „dass Cannabis eine gefährliche Droge ist und als solche ein ernsthaftes Problem für die öffentliche Gesundheit darstellt.“

Eine protestantische Spielethik?

Selbst diejenigen, die den oben genannten Tatsachen zustimmen, sind sich nicht einig, wie die Legalisierung zu bewerten ist. Es ist daher gesundheitsfördernd, über das im US-amerikanischen Recht einschränkende Adjektiv „zur Erholung“ (recreational marijuana) nachzudenken (im deutschen Recht ist von „Genusscanabis“ die Rede, Anm.d.Red.). Eine Arbeitsethik haben Protestanten bereits. Was wir brauchen, ist eine bessere Spielethik.

Was sollten Pastoren einem erwachsenen Christen sagen, der Marihuana verantwortungsbewusst, also in Maßen und in der Privatsphäre des eigenen Zuhauses konsumieren möchte? Einfach darauf zu bestehen, dass es immer noch unmoralisch ist, auch wenn es nicht mehr illegal ist, dringt nicht zum Kern der Sache vor.

Außerdem halten laut einer Gallup-Umfrage vom Juni 2018 65 Prozent der Amerikaner das Rauchen von Marihuana für moralisch akzeptabel. Die eigentliche Frage ist, ob die beabsichtigten Wirkungen des Marihuanakonsums – die Verringerung von Angstzuständen, das Erleben von Rausch- bzw. veränderten Bewusstseinszuständen, die Steigerung der Kreativität usw. – als nützlich oder schädlich angesehen werden sollten. Und vor allem: Ist das Rauchen von Marihuana mit dem Evangelium vereinbar (vgl. Phil 3,20)?

„Erholung“ (recreation) bezeichnete ursprünglich den Prozess geistiger Erfrischung: den Akt der Wiederherstellung oder Belebung der Seele. Heute bezieht sich der Begriff meist auf Dinge, die Menschen tun, um sich zu entspannen oder Spaß zu haben. Erholung ist eine Aktivität der Muße bzw. Freizeit – Muße als „freie“ Zeit. Man kann sie allein oder in Gesellschaft verbringen. In jedem Fall ist sie prägend, entweder geistig oder gesellschaftlich.

Josef Pieper definiert „Muße“ in Muße und Kult als Geisteshaltung und Seelenzustand, der die Fähigkeit fördert, die Wirklichkeit der Welt wahrzunehmen. Er sagt auch, sie sei die Grundlage der Kultur. Zu welcher Art von Kultur also, so können wir fragen, trägt der Konsum von Marihuana bei? Die im Zusammenhang des Rauchens von Gras verwendete Sprache enthält einige Hinweise.

Es gibt Hunderte von Begriffen für Marihuana und die von ihm ausgehenden Wirkungen: „Amnesie“ (weil es vergesslich machen kann), „Houdini“ (weil der Konsument der Realität entflieht) und „stoned“ (der Zustand der Unbeweglichkeit aufgrund des Rausches).

Was hat Christus mit der Kifferkultur zu tun – mit den Praktiken und Produkten, die aus einer geistigen und körperlich locker-flockigen Lebensweise resultieren?

Ratschläge für Jünger

Zwei biblische Erwägungen – (1) der Gegensatz zwischen rechtmäßig und zweckmäßig und (2) die Mahnung zur Wachsamkeit – bieten Pastoren einen Rahmen, um den Konsum von Marihuana weniger unter dem Gesichtspunkt der Moral (richtig vs. falsch) als vielmehr unter dem der Nachfolge (weise vs. töricht) zu betrachten.

„Vom Geist erfüllt zu sein, führt zu mehr Selbstbeherrschung, berauscht zu sein dagegen zu einem Verlust von Hemmungen.“
 

„Alles ist mir erlaubt – aber nicht alles ist nützlich!“ (1Kor 6,12). Genau! Paulus zitiert – und modifiziert – hier wahrscheinlich ein korinthisches Motto. Er argumentiert, dass das, was wir mit unserem Körper tun, zu unserem christlichen Zeugnis gehört, denn „nicht mehr ich [selbst], sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20).

Paulus macht noch deutlicher, was er meint, wenn er sagt: „Alles ist mir erlaubt – aber ich will mich von nichts beherrschen lassen! … Es ist mir alles erlaubt – aber es erbaut nicht alles!“ (1Kor 6,12; 10,23).

Vom Geist erfüllt zu sein, führt zu mehr Selbstbeherrschung (vgl. Gal 5,22–23), berauscht zu sein dagegen zu einem Verlust von Hemmungen. Beachte den Unterschied zwischen dem Trinken von Alkohol und dem Rauchen von Gras: Ein Glas Wein ergänzt das Essen, führt aber nicht zu Trunkenheit; der Konsum von Cannabis dagegen zielt einzig und allein darauf ab, „high“ zu werden.

Die zweite Überlegung orientiert sich an der Aufforderung Jesu, achtzuhaben und zu wachen (vgl. Mk 13,32 –37). C.S. Lewis beschrieb seine Bekehrung als ein Erwachen, und wir könnten Jüngerschaft als das Projekt beschreiben, Christusnachfolgern zu helfen, wach zu bleiben – wach für das Privileg und die Verantwortung, ihre Bürgerschaft des Evangeliums immer, überall und vor allen zu leben.

Ähnlich wie der Zauber, den die grüne Dame auf Jill, Eustachius und Trauerpfützler in Lewis’ Der silberne Sessel ausübt, trübt Marihuana unsere Fähigkeit, die Welt klar wahrzunehmen, und dämpft unseren Sinn für die Dringlichkeit dessen, was Jünger tun sollten.

Die Wichtigkeit der Wachsamkeit ist auch ein Thema des Alten Testaments: „Und es wird geschehen, dass ich zu jener Zeit Jerusalem mit Leuchten durchsuchen werde; und ich will die Leute heimsuchen, die auf ihren Hefen liegen, indem sie in ihrem Herzen sagen: ‚Der HERR wird weder Gutes noch Böses tun!‘“ (Zef 1,12). Das hebräische Wort für „auf ihren Hefen liegen“ bedeutet wörtlich „sich verdicken am Bodensatz“ (von Wein). An einem Joint zu ziehen, hat eine ähnliche Wirkung.

In der heutigen Kultur werden Marihuanakonsumenten in der Regel als glücklose, aber harmlose Menschen dargestellt. „Stoned“, „gebacken“ und „abgestumpft“ sind allesamt passive Verben, die den lethargischen Zustand beschreiben, der dem Einfluss von Marihuana entspricht. Können Jünger gleichzeitig Heilige und Faulenzer sein? Könnte Marihuana die neueste Möglichkeit der Trägheit sein – nicht einfach Faulheit, sondern die tödlichere Sünde, der alles so egal ist, dass es sich für nichts lohnt, wach zu bleiben?

„Könnte Marihuana die neueste Möglichkeit der Trägheit sein – nicht einfach Faulheit, sondern die tödlichere Sünde, der alles so egal ist, dass es sich für nichts lohnt, wach zu bleiben?“
 

Unsere Kultur weiß nicht so recht mit Erholung umzugehen (ganz zu schweigen von dem Marihuanakonsum „zur Erholung“). Die Versuchung besteht darin, Erholung entweder zu vergöttern, indem man sie der bedrückenden Arbeit gegenüberstellt, oder aber sie abzuschwächen, indem man sie als „Auszeit“ abtut, die keine Bedeutung hat. Gute Haushalterschaft gilt nicht nur für die Arbeit, sondern auch für die Art und Weise, wie wir uns entspannen. Gras zu kaufen und zu konsumieren ist nicht die Art und Weise, wie wir unsere (Frei-)Zeit auskaufen.

Jünger sollten weise mit ihrer Zeit und Energie umgehen – und auch was in der Freizeit geschieht, gehört zu unserem Jünger-Sein dazu. Die Parole für weise Jünger lautet: „Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wacht!“ (Mk 13,37).