Jesus im Buch der Richter

Artikel von Miles Van Pelt
30. April 2024 — 6 Min Lesedauer

Das Buch der Richter besteht aus zwei Einleitungen (vgl. Ri 1,1–2,5; 2,6–3,6), zwei Abschlusspassagen (vgl. Ri 17,1–18,31; 19,1–21,25), Berichten über zwölf Richter (sechs Haupt- und sechs Nebenrichter) und einen Gegenrichter, Abimelech (vgl. Ri 9,1–57). Das Richterbuch ist ein anspruchsvolles literarisches Werk, das die Geschichte Israels vom Tod Josuas, des Sohnes Nuns (vgl. Ri 1,1; 2,8), bis in die Zeit vor der Entstehung der israelitischen Monarchie behandelt. Theologisch gesehen beschreibt das Buch der Richter den fortschreitenden Abfall des Volkes Israel von dem Bund mit Gott, der trotz des Götzendienstes des Volkes in unerschütterlicher Treue an seinem Bund festhält. Im Folgenden gehe ich auf drei Punkte ein, die man kennen sollte, wenn man das Buch Richter liest.

1. Die Richter sind Vorbilder auf Christus

Die Richter wurden vom Herrn erwählt und durch den Geist befähigt, Gottes Volk zu befreien, die Ruhe im Land zu sichern und den Gehorsam gegenüber dem Bund zu fördern (vgl. Ri 2,16–19). Moderne Ausleger betrachten die Richter üblicherweise als moralisch verdorbene Personen, die in die Verderbtheit ihrer Zeit verwickelt sind. Dies ist jedoch nicht die Sicht des Neuen Testaments oder der frühen Auslegungen des Buches.

Schauen wir uns die Beurteilung der Richter im Hebräerbrief an: Gideon, Barak, Simson und Jephthah (die man als die schlimmsten Übeltäter ansehen könnte) werden zusammen mit David und Samuel als Männer beschrieben, „die durch den Glauben Königreiche bezwangen, Gerechtigkeit wirkten, Verheißungen erlangten, die Rachen der Löwen verstopften; sie haben die Gewalt des Feuers ausgelöscht, sind der Schärfe des Schwertes entkommen, sie sind aus Schwachheit zu Kraft gekommen, sind stark geworden im Kampf, haben die Heere der Fremden in die Flucht gejagt“ (Hebr 11,33–34). Das Lob dieser treuen Diener setzt sich bis Vers 40 fort, sie werden gar als Menschen beschrieben, „deren die Welt nicht wert war“ (Hebr 11,38).

„Denke beim Lesen der Berichte im Richterbuch daran, dass sie zur Belehrung geschrieben wurden, damit wir unsere Augen auf Jesus richten.“
 

Diese Perspektive stimmt gut mit einer der frühesten historischen Bewertungen der Richter überein. Ben Sirach schreibt: „Auch die Richter, ein jeder, als er berufen wurde, alles Männer, deren Herz nie untreu war, die dem Herrn nie den Rücken gekehrt haben – möge ihr Andenken gesegnet sein! Mögen ihre Gebeine aus dem Grab wieder auferstehen, und mögen die Namen dieser berühmten Männer von ihren Söhnen würdig getragen werden“ (Sir 46,11–12).

Denke beim Lesen der Berichte im Richterbuch daran, dass sie zur Belehrung geschrieben wurden (vgl. Röm 15,4), damit wir unsere Augen auf Jesus richten (vgl. Hebr 12,2), der wie Simson von seinem Herrn dazu ausersehen wurde, sein Leben hinzugeben, um das Volk Gottes zu befreien (vgl. Ri 16,30).

2. Das Richterbuch ist nicht chronologisch, sondern theologisch strukturiert

Bei der Lektüre des Richterbuches stoßen wir auf mindestens drei verschiedene Arten von Zeitangaben: die Jahre der feindlichen Unterdrückung, die Jahre der Ruhe und die Jahre, in denen ein Richter wirkte. Der Herr erweckte beispielsweise den Ehud nach 18 Jahren der Unterdrückung durch den Moabiterkönig Eglon (vgl. Ri 3,14–15); danach hatte das Land 80 Jahre lang Ruhe (vgl. Ri 3,30). In ähnlicher Weise wird zweimal berichtet, dass Simson 20 Jahre lang Richter über Israel war (vgl. Ri 15,20; 16,31).

Einige Ausleger haben versucht, die Dauer der Richterzeit durch Addition aller Jahresangaben zu ermitteln. Einige Berichte überschneiden sich jedoch und es gibt Lücken in den beschriebenen Zeiträumen. Die Richter wirkten meistens lokal und nicht auf ganz Israel bezogen. Außerdem wird im ersten Schlussabschnitt des Buches Jonatan, der Enkel des Mose, als illegaler Priester in Dan eingesetzt (vgl. Ri 18,30). Dieses Ereignis ist chronologisch am Beginn der Richterzeit zu verorten, nicht am Ende. Die Struktur des Buches ist also theologisch, nicht chronologisch.

Die beiden Einleitungen und Schlussabschnitte stehen einander paarweise gegenüber. Die erste Einleitung und der zweite Schluss spiegeln sich und schildern die Krise von Israels Erbe, insbesondere Israels Versagen bei der Inbesitznahme des Landes (vgl. Ri 1,1–2,5) und die fast vollständige Auslöschung des Stammes Benjamin aufgrund seiner sodomitischen Sünde (vgl. Ri 19,1–21,25). Die zweite Einleitung und der erste Schluss spiegeln einander ebenfalls. Sie schildern die Glaubenskrise Israels, die sich im wiederholten Götzendienst äußerte. Dieser war der Grund dafür, dass sie das Land nicht in Besitz nehmen konnten, und Ursache für den gesamten moralischen Verfall (vgl. Ri 2,6–3,6; 17,1–18,31).

„Der Preis für die Befreiung durch die Richter steigt, da der letzte Richter sein Leben lassen muss, um den Feind zu besiegen.“
 

Zwischen diesen Einleitungen und Schlussabschnitten finden wir die Richterberichte. Die sechs Hauptrichter sind in zwei Gruppen zu je drei Personen zusammengefasst: Othniel, Ehud und Deborah/Barak und Gideon, Jephthah und Samson. Über die sogenannten kleinen Richter lesen wir nur sehr kurze Berichte (bis zu drei Verse), in denen die meisten formelhaften Elemente der großen Richter fehlen. Die kleinen Richter werden miteinbezogen, um die Zahl 12 zu erreichen, die der Zahl der Stämme Israels entspricht. Sie sind so angeordnet und gruppiert, dass sie einen Höhepunkt in der Geschichte der Hauptrichter darstellen. Schamgar markiert den Bericht über Debora/Barak als den ersten Höhepunkt der Richtererzählung. Tola und Jair prägen dann Jephthahs Bericht. Ibzan, Elon und Abdon schließlich markieren Simson als letzte und kulminierende Richtererzählung.

Mit dem Fortschreiten der Berichte über die großen Richter nimmt auch der Verfall Israels zu. Der Preis für die Befreiung durch die Richter steigt ebenfalls, da der letzte Richter sein Leben lassen muss, um den Feind zu besiegen (vgl. Ri 16,30).

3. Das Buch der Richter bereitet den Weg für das Königtum in Israel vor

Es ist allgemein anerkannt, dass die vier identischen Aussagen im Schlussteil des Buches die Königszeit Israels vorwegnehmen: „In jenen Tagen gab es keinen König in Israel“ (Ri 17,6; 18,1; 19,1; 21,25). Auf zwei dieser Aussagen folgt eine Beschreibung dieser Zeit: „Ein jeder tat, was in seinen Augen richtig war“ (Ri 17,6; 21,25). Israel brauchte einen König, der Gottes Gesetz kannte, dieses Gesetz befolgte und das Volk in diesem Gehorsam anführte (vgl. 5Mose 17,14–20).

Das Buch der Richter bereitet uns auch auf ungewöhnliche Weise auf die Entfaltung des Königtums vor, das mit den ersten beiden Königen Israels, Saul und David, beginnen sollte. Durch das Buch der Richter zieht sich ein Konflikt zwischen Juda (David) gegen Benjamin (Saul). Im ersten Kapitel wird zum Beispiel in 19 Versen von der relativ erfolgreichen Besetzung des Gebietes Juda berichtet (vgl. Ri 1,2–20). Unmittelbar danach folgt ein einziger Vers, in dem es heißt, dass es Benjamin nicht gelungen war, sein Gebiet vollständig zu besetzen, und dass es weiterhin unter den Kanaanitern wohnte: „Aber das Volk Benjamin hat die Jebusiter, die in Jerusalem wohnten, nicht vertrieben, so dass die Jebusiter bis zum heutigen Tag mit dem Volk Benjamin in Jerusalem wohnen“ (Ri 1,21). In Richter 19 schließlich begehen die Benjaminiter in Gibea die Sünde von Sodom (vgl. 1Mose 19), und der ganze Stamm wird unter den Bann der völligen Vernichtung gestellt (vgl. Ri 20–21). Als Israel um einen König bittet „wie alle anderen Völker“ (1Sam 8,5), gibt der Herr ihnen genau das, worum sie bitten: Saul aus der Stadt Gibea im Stamm Benjamin – gewissermaßen eine prophetische Auswahl, angesichts dessen, wie tragisch Saul in seiner Rolle als König scheitern würde.