„Herzlich willkommen

Warum missionarische Gemeinden eine Kultur der Gastfreundschaft prägen sollten

Artikel von Philipp Bartholomä
24. April 2024 — 13 Min Lesedauer

Vor einigen Jahren besuchten meine Frau und ich ein Restaurant in der ersten Liga der Gastronomie. Sehr teuer, gehobene Küche, sogar ein Michelin-Stern. Es wurde der unentspannteste Restaurantbesuch unseres Lebens. Alles war irritierend und ungewohnt: Die Vorspeise aus Seetang und Algen, das unübersichtliche Arsenal an Besteck, keine Cola auf der Getränkekarte. Den Restaurant-Bediensteten muss schnell klar gewesen sein: Die gehören hier nicht her. Sie bemühten sich spürbar, uns als Gäste freundlich und respektvoll zu behandeln, aber trotzdem fühlten wir uns fehl am Platz und waren ständig darauf bedacht, nichts falsch zu machen. Ein solches Sterne-Restaurant funktionierte offensichtlich nach Regeln, die wir nicht kannten. Wir waren Uneingeweihte in einer für uns fremden Welt. Die daraus resultierende Verunsicherung war unangenehm. Wir waren so angespannt, dass wir die Gaumenfreuden gar nicht wirklich genießen konnten.

Als Christen machen wir zunehmend die Erfahrung des Fremdseins innerhalb einer nach-christentümlichen Gesellschaft, einer „fremden neuen Welt“ (Carl Trueman). Aber es gilt eben auch umgekehrt: Wo Nichtchristen uns auf unserem christlichen Terrain begegnen, kann sich ebenfalls leicht ein Gefühl der Fremdheit einstellen. Wo derart unterschiedliche „Welten“ aufeinandertreffen, sind Fremdheitserfahrungen nicht zu vermeiden. Das kann wie im Restaurant zu Frustration, Unsicherheit und innerer Abneigung führen. Es kann aber auch eine sehr anregende, im positiven Sinn aufrüttelnde Wirkung entfalten, weil sich neue Horizonte eröffnen und bisher selbstverständliche Überzeugungen infrage gestellt werden.

Fremdheitserfahrungen sollten im Blick auf die missionarische Gemeindepraxis intensiv bedacht werden: Wie fühlen sich unsere kaum noch christlich sozialisierten Mitmenschen, wenn sie mit einer für sie fremden „christlichen Gemeindekultur“ in Berührung kommen? Was bleibt ihnen unverständlich, was macht ihnen Mühe? Empfinden Gäste in einem für sie ungewohnten kirchlichen Kontext auch ein gewisses Unbehagen oder eine unterschwellige Anspannung? Könnte sie das daran hindern, ihre Herzen für das Wesentliche zu öffnen? Und natürlich stellt sich umgekehrt auch die Frage, unter welchen Bedingungen Fremdheitserfahrungen zu positiven Katalysatoren von Veränderungsprozessen werden. Was also bedeutet unter diesen Voraussetzungen christliche Gastfreundschaft und warum ist sie so wichtig? Wie können wir heute für Suchende, Fragende und Noch-nicht-Glaubende freundliche, verständnisvolle und fürsorgliche Gastgeber sein? Und was zeichnet eine gastfreundliche Gemeindepraxis insgesamt aus?

Gute Gründe für Gastfreundschaft

Christliche Gemeinden sollten gastfreundliche Orte sein, weil Gott ein gastfreundlicher Gott ist. Als Vater, Sohn und Heiliger Geist existiert der dreieinige Gott von Ewigkeit her als vollkommene, liebevolle und freudige Gemeinschaft. Gott öffnet in Christus diese trinitarische Gemeinschaft für uns. Er lädt uns ein, Teil dieser von Liebe und Freude geprägten Beziehungen zu sein.[1] Durch diesen ultimativen Akt der Gastfreundschaft werden aus solchen, die „fern von Gott“ waren, Menschen, die das Vorrecht haben, in seiner Nähe zu sein (Eph 2,13).

„An der Gastfreundschaft der Gemeinde erfahren Menschen die Gastfreundschaft Gottes.“
 

Im Neuen Testament wird das Anliegen der Gastfreundschaft nicht zuletzt durch den Begriff der „Fremdenliebe“ (philoxenia, von griechisch philos = Liebe und xenos = der Fremde) ausgedrückt. Gastfreundschaft beinhaltet also im Kern, für die Bedürfnisse des „Fremden“ zu sorgen und gerade dem Tür und Herz zu öffnen, der ganz anders ist als ich. Genau diesen Lebensstil hat Jesus geprägt. Auch wenn er selbst unter seinem Volk in gewisser Weise ein „Fremdling“ blieb (Joh 1,11), war er doch in der Lage, die Volksmengen mit ihren inneren und äußeren Nöten gastfreundlich „aufzunehmen“ (Lk 9,11). Und während die religiöse Elite seiner Zeit einen starken Exklusivismus pflegte und sich den Fremden gerne vom Leib hielt, bat Jesus als ultimativer Gastgeber auch „Zöllner und Sünder“ zu Tisch (Mt 11,19; Lk 7,34). Er ist das Vorbild einer grenzüberschreitenden Gastfreundschaft, die andere mit dem Evangelium „ansteckt“.[2]

Diesem Vorbild entsprechend soll die neutestamentliche Gemeinde eine liebevolle Gastfreundschaft praktizieren (Röm 12,13; Hebr 13,2). Nicht umsonst wird Gastfreundschaft – und damit der Blick hin zum Fremden – als Charaktereigenschaft von Gemeindeleitern vorausgesetzt (1Tim 3,2; Tit 1,8). Die Bibel stellt die Gastfreundschaft sehr klar ins Zentrum einer an Jesus orientierten Gemeindekultur. An der Gastfreundschaft der Gemeinde erfahren Menschen die Gastfreundschaft Gottes.

Gastfreundschaft als Herzenshaltung

Gastfreundschaft ist kein Programm, das sich einer Gemeinde einfach so verordnen ließe. Gastfreundschaft ist eine Herzenshaltung. Sie fließt aus dem Wesen Gottes und gehört zu den „positiven Klimaveränderungen“, die am Ende nur ein tief verinnerlichtes Evangelium bewirken kann. Von Natur aus kümmern wir uns lieber um unsere eigenen Belange und haben stärker uns selbst im Blick als die anderen. Das gilt auch für Gemeinden. Deshalb gehört es zu den wesentlichen Aufgaben von Verantwortungsträgern, auf der Grundlage der „Guten Nachricht von Gottes Gastfreundschaft“ sowohl den Wert als auch die konkreten Ausprägungen eines gastfreundlichen Lebensstils immer wieder neu in Kopf und Herz der Gemeindemitglieder zu verankern. Schauen wir uns also einige Bausteine einer solchen Kultur der Gastfreundschaft an:

Offene Häuser

Gastfreundschaft fängt in unseren Häusern und Wohnungen an. Wir haben es hier mit einem Kreislauf zu tun: Was wir in der Gemeinde leben, formt unsere alltägliche Praxis, aber was wir in unserem persönlichen Umfeld nicht leben, prägt auch unsere Gemeinden nicht. Gastfreundschaft bedeutet, regelmäßig und unkompliziert sein eigenes Zuhause zu öffnen, sowohl für Menschen innerhalb der Familie Gottes als auch für Nachbarn und Freunde, die noch nicht glauben. Die gastfreundliche Liebe Jesu drängt uns dazu, anderen Zutritt zu unserer eigenen Komfortzone zu geben. Gerade in stark säkularisierten Kontexten, wo viele Menschen intuitiv Abstand von allem nehmen, was mit Kirche zu tun hat, ist häusliche Gastfreundschaft ein besonders wichtiger missionaler Baustein, der Herzen öffnet. Um in einem Umfeld, das mit den Inhalten unseres Glaubens „fremdelt“ und Christen misstraut oder sie sogar für gefährlich hält, wirksame Zeugen für Christus zu sein, braucht es transparent gelebte Gastfreundschaft.

Gemeinsame Mahlzeiten

Im Zentrum der Gastfreundschaft steht die Tischgemeinschaft. In unserem gesellschaftlichen Klima ist das nicht immer einfach. Denn für viele gilt das Haus oder die Wohnung als ein intimer Raum, also als Privatsphäre, die klar vom öffentlichen Raum unterschieden wird. Für Gastgeber bedeutet das, dass sie sehr bewusst diese Hürde überschreiten. Es hilft emotional und gedanklich, wenn man Ess- und Wohnzimmer nicht einfach als privaten Raum betrachtet, sondern als mittleren Raum, der zwischen dem Privatraum (beispielsweise dem Schlafzimmer) und dem öffentlichen Raum steht. Auch Gäste kann es Überwindung kosten, sich einladen zu lassen, weil sie das als ein Eindringen in eine fremde Privatsphäre empfinden.

„Die gastfreundliche Liebe Jesu drängt uns dazu, anderen Zutritt zu unserer eigenen Komfortzone zu geben.“
 

Deshalb wird einem als Gastgeber daran gelegen sein, es den Gästen möglichst einfach zu machen – und das ist dann der Fall, wenn man natürlich und unkompliziert ist. Meist rückt die mentale Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem schnell in den Hintergrund, wenn man in einer entspannten Atmosphäre am Tisch sitzt und gemeinsam spricht und lacht. Es hilft auch, wenn sich die Einladung von der alltäglichen Esskultur nicht allzu stark unterscheidet. Ein Fünf-Sterne-Menü an einem dekorierten Esstisch in einem perfekt aufgeräumten Wohnzimmer mag zwar gelegentlich großartig sein, kann aber auch zu Verkrampfung und einer eher angespannten Atmosphäre führen. Als Gast kann man sich leicht beschämt fühlen, weil man gar nicht will, dass die Gastgeber einen so hohen Aufwand betreiben. Aber wenn es bei Tisch ähnlich zugeht wie bei einem zu Hause, ist das für Gastgeber wie auch für die Gäste entspannend. Eine solche Art von Gastfreundschaft ist ansteckend. Sie fördert die Wechselseitigkeit, so dass man nicht nur einlädt, sondern sich auch einladen lässt. In beide Richtungen ist es in unserem kulturellen Setting eine bewusste Entscheidung, den eigenen Lebensraum mit anderen zu teilen und in gemeinsame Mahlzeiten zu investieren.

Den Fremden höher achten

Gastfreundliche Gemeinden verkörpern eine Haltung der Offenheit gegenüber dem „Fremden“ und sind bereit, eigene Bedürfnisse und Vorlieben hintenanzustellen. Machen wir uns nichts vor: Die meisten Gemeinden stehen in der Gefahr, die Mentalität eines Karussells zu pflegen. Irgendwann dreht man sich nur noch um sich selbst. Doch auf ein schnell drehendes Karussell aufzuspringen, ist schwierig. Wer es dennoch versucht, macht unter Umständen eine schmerzhafte, im wahrsten Sinne des Wortes „abstoßende“ Erfahrung. Gemeinden mit Mission brauchen stattdessen eine Kultur, die Gästen einen leichten Zugang zu ihrer Gemeinschaft ermöglicht. Dazu gehört eine vom Evangelium geprägte Offenheit für Menschen, die bisher kaum Bezug zum christlichen Glauben hatten und sich in unserer „Bubble“ nicht auskennen. Das betrifft nicht nur Menschen anderer Herkunft, die anders aussehen, eine andere Muttersprache sprechen, ganz anders denken und fühlen, sondern auch Einheimische, die heute trotzdem kulturell oft ganz anders „ticken“ als wir. Wenn wir so andere höher achten, kostet das Mühe. Denn es braucht die Bereitschaft, unsere persönlichen Vorlieben, Geschmäcker und Präferenzen zurückzustellen. Entscheidend ist nicht, was uns gefällt oder guttut, sondern was den anderen dient. Wir sind nicht für uns selbst da. Gastfreundliche Gemeinden sehen von ihren eigenen Bedürfnissen weg und fragen: Wie können wir verhindern, dass sich Gäste übermäßig fremd fühlen? Dass theologische Inhalte und Glaubensüberzeugungen Reibung erzeugen und mitunter auch Anstoß erregen, ist nicht zu vermeiden. Aber gibt es darüber hinaus Elemente unserer Gemeinde- und Gottesdienstkultur, die für noch nicht glaubende Gäste unverständlich oder potentiell unangenehm sind? Auf welche liebgewordenen Traditionen können wir verzichten, um Außenstehende nicht unnötig vor den Kopf zu stoßen? Oder umgekehrt: Was zeigt Gästen Wertschätzung? Woran merken sie, dass wir sie liebevoll im Blick haben?

Die Spannung zwischen Nähe und Distanz

Zur Gastfreundschaft gehört auch, die Spannung zwischen angemessener Distanz und einladender Nähe zu halten. Außenstehende sollten die Möglichkeit haben, sich voll auf die christliche Gemeinschaft einzulassen, aber auch die Freiheit, dem Geschehen zunächst aus sicherer Entfernung zuzuschauen. Penetrante Nähe und übereifrige Kontaktaufnahme werden gerade in unserer Zeit von kirchenfremden Gästen in der Regel als zu viel des Guten empfunden. So sehr wir uns als Gemeinde über Gäste freuen – wir sollten sie nicht allzu schnell vereinnahmen und nicht unsensibel in ihren persönlichen Freiraum eindringen. Das darf umgekehrt aber nicht zu einem Mangel an Herzlichkeit und persönlicher Nahbarkeit führen. Die meisten Menschen unserer Zeit sind sozial bedürftig, sie wollen wahrgenommen und angesprochen werden und freuen sich, wenn wir Interesse an ihnen zeigen. Gemeindemitglieder sollten deshalb regelmäßig ermutigt werden, ihre natürliche Trägheit zu überwinden und auf Leute zuzugehen, die sie noch nicht kennen.

Gastfreundschaft gegenüber Skeptikern

Außerdem machen gastfreundliche Gemeinden Skeptikern, Suchenden und Noch-nicht-Glaubenden deutlich, dass sie wertgeschätzt und willkommen sind. Das geschieht vor allem dort, wo man tief verinnerlicht hat, wie unplausibel und unglaubwürdig der Glaube an Gott in unserer Welt geworden ist. Wo Gemeinden Suchende begleiten wollen, erlauben sie ihnen ausdrücklich, ihre Skepsis und kritische Anfragen an den christlichen Glauben ehrlich zu äußern, ohne dafür verurteilt oder belächelt zu werden. Respektvoll und einladend versucht man deutlich zu machen: Wir erwarten nicht, dass du von vornherein alles glaubst, was wir glauben. Du bist bei uns herzlich willkommen, auch wenn du dem christlichen Glauben mit Vorbehalten gegenüberstehst, einen anderen Lebensentwurf verwirklichst oder von uns abweichende religiöse Überzeugungen hast.

Gastfreundliche Gemeinden fördern die intellektuelle und existentielle Auseinandersetzung mit dem Glauben. Sie legen besonders viel Wert darauf, Orte zu schaffen, an denen man Zweifeln und Fragen auf den Grund gehen kann. An denen man herausfinden kann, ob die Inhalte des christlichen Glaubens bisherigen Einwänden standhalten und tragfähige Antworten auf die tiefsten menschlichen Sehnsüchte liefern. Es gibt Seminare und Lektürehinweise für Menschen, die sich mit bestimmten Fragen intensiver befassen möchten, und Seelsorgeangebote für die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte.

Klar ist: Bekehrungsprozesse werden dort stark begünstigt, wo auch diejenigen, die „noch nicht ganz“ glauben können, Verständnis und Wertschätzung erfahren. Wenn Gäste merken: „Hier kann man nachvollziehen, dass ich mich erst mal etwas fehl am Platz fühle“, „In dieser Gemeinde werden meine kritischen Rückfragen ausgehalten“ oder „Hier darf ich auch zweifeln“, wird so manches Unbehagen abgebaut und es entsteht tatsächlich ein Umfeld, in dem Glauben gefördert wird. Fragt man Menschen, die aus recht großer Gottesferne zum Glauben gekommen sind, hört man immer wieder eine ganz ähnliche Geschichte: Sie seien im Vorfeld davon ausgegangen, als „Ungläubige“ in einem kirchlichen Umfeld nicht willkommen zu sein. Doch statt der erwarteten Ablehnung hätten sie ehrliches Interesse und geduldige Annahme erfahren und das als entscheidenden Schritt auf dem Weg zum Glauben erlebt.

Fazit

Die Ausprägung einer „Kultur der Gastfreundschaft“ ist sicher nicht die einzige wichtige Weichenstellung, die zukunftsfähige, missionarische Gemeinden bewusst vornehmen sollten. Aber Gastfreundschaft spielt für den Gemeindeaufbau der Zukunft zweifellos eine Schlüsselrolle. Immer wieder zeigt sich, dass missionarisch wirksame Gemeinden sehr bewusst eine gastfreundliche Atmosphäre pflegen.[3] Christopher James spricht speziell für den nach-christentümlichen Kontext zu Recht von einer cornerstone practice (also einer Art Grundstein oder Fundament der Gemeindepraxis).[4] Menschen fühlen sich am ehesten in Gemeinden zuhause, die Gäste in ihrer Fremd- und Andersartigkeit annehmen. Gastfreundschaft als Fremdenliebe wird so zu einer „verleiblichten Botschaft des Evangeliums“, die durch die Gnade Gottes und getragen von der Kraft des Heiligen Geistes darauf abzielt, Fremde zu Familienmitgliedern im Hause Gottes zu machen


1Vgl. dazu ausführlicher Michael Reeves, Delighting in the Trinity: An Introduction to the Christian Faith, Downers Grove: InterVarsity, 2012.

2Vgl. zu diesem Motiv der „Ansteckung“ durch Gastfreundschaft die biblisch-theologische Studie von Craig L. Blomberg, Contagious Holiness: Jesus’ Meals with Sinners, Downers Grove: InterVarsity, 2005.

3Zur ausführlichen Begründung vgl. Philipp Bartholomä, Freikirche mit Mission: Perspektiven für den freikirchlichen Gemeindeaufbau im nachchristlichen Kontext, 2. Aufl. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2020, S. 426–431, S. 483–489.

4Christopher James, Church Planting in Post-Christian Soil: Theology and Practice, Oxford: University Press, 2018, S. 226–230.