Timothy Keller

Rezension von Sebastian Lüling
11. April 2024 — 8 Min Lesedauer

Wie bist du zu dem Menschen geworden, der du heute bist? Wir denken gern von uns, dass vor allem unsere eigenen freien Entscheidungen und Taten unseren Lebensweg bestimmt haben. Dabei ist uns oft nicht bewusst, wie stark unsere Herkunft, die Menschen aus unserem näheren Umfeld und die Bücher und sonstigen Medien, die wir aufnehmen, uns prägen und formen. Um einen Menschen besser zu verstehen, hilft also eine nähere Betrachtung seiner Prägungen und Einflüsse – nach dem Motto: „Zeig mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist.“

„Uns ist oft nicht bewusst, wie stark unsere Herkunft, die Menschen aus unserem näheren Umfeld und die Bücher und sonstigen Medien, die wir aufnehmen, uns prägen und formen.“
 

Eine solche Untersuchung hat Collin Hansen in Bezug auf den Pastor und Autor Timothy Keller vorgenommen. Der deutsche Titel seiner Biographie lautet entsprechend passend Timothy Keller: Was ihn prägte: Menschen, Bücher und ein gnädiger Gott.

Weiterverarbeitung von Einflüssen

Dass der New Yorker und im Mai 2023 verstorbene Timothy Keller auch in deutschen Kreisen weit rezipiert und respektiert wird, zeigen schon die „Stimmen zum Buch“ auf den ersten drei Seiten. Dort wird die Bedeutung Kellers als urbaner Gemeindegründer, kluger Apologet, reformatorischer Theologe, weitsichtiger Gesellschaftsversteher sowie sensibler und freundlicher Kommunikator betont.

Die erste und einzige Biographie Kellers eröffnet daher nicht nur „Keller-Fans“ interessante Einblicke in dessen Denken, Glauben und Handeln. Sie bietet auch anderen Christen eine Möglichkeit zur Selbstreflexion darüber, welche Prägungen auf sie eingewirkt haben und wie sie diese Prägungen weiterentwickeln, kombinieren und zum Wohle anderer einsetzen können. Gerade Letzteres – die „Weiterverarbeitung“ verschiedener Einflüsse – war eine Kernkompetenz von Keller, wie Hansen am Schluss seines Buches herausstellt:

„Kellers Originalität liegt in seiner Synthese, wie er Quellen zu unerwarteten Erkenntnissen verbindet ... Diese gottgegebene Fähigkeit, verschiedenste Quellen zu integrieren und Erkenntnisse mit anderen zu teilen, wurde schon seit dem College von fast jedem beobachtet, der Keller kannte. Er ist der Guide zu den Gurus. Man bekommt ihre besten Erkenntnisse, mit Kellers ganz eigener Note.“ (S. 308)

Einflussreiche Frauen

Welche Einflüsse prägten Keller nun genau? Hansen teilt hierzu Kellers Leben in vier Abschnitte auf:

  1. Kindheit, Heirat, Bekehrung und Berufsfindung (1950–1972)
  2. Theologische Ausbildung (1972–1975)
  3. Erste berufliche Praxis als Pastor und Dozent (1975–1989)
  4. Kellers Hochphase: Gemeindebau in New York und Buchveröffentlichungen (1989–2023)

Im ersten Abschnitt stechen hauptsächlich drei einflussreiche Frauen hervor: Kellers Mutter Louise, seine Frau Kathy und Barbara Boyd, eine Hochschul-Bibellehrerin.

Die katholisch-italienische, kontrollierende und perfektionistische mütterliche Erziehung schreckte Tim Keller eher vom christlichen Glauben ab, da dieser aufgrund der hohen Erwartungen seiner Mutter eng mit Schamgefühlen verknüpft war. Zwar konnte er dank des Bibelquiz mit der Familie schon früh alle Könige Israels und Judas auswendig aufzählen, aber ein Verständnis für Gottes Gnade und die Gute Nachricht hatte er noch nicht. Gleichzeitig führten diese Umstände dazu, dass er sich in verbalen Auseinandersetzungen mit seiner Mutter argumentativ zu behaupten lernte und unter anderem durch das frühe und viele Lesen ein intensives Innenleben entwickelte.

Kathy, Tim Kellers Ehefrau, wird im Buch als eine Frau vorgestellt, die Ermutigungsbriefe an C.S. Lewis schrieb. Dieser besondere Briefaustausch zwischen Kathy Keller und dem großen Autor Lewis verdeutlicht, wie zentral Kathy für das Werden und Wirken ihres Mannes war. Hansen beschreibt die beiden Kellers als „intellektuell Ebenbürtige“ (S. 58), die gemeinsam studierten und einen exzellenten Abschluss machten. Später sah sich Kathy auch in Zeiten der Vollzeitarbeit ihres Mannes selbst nicht als „Nummer 2“, sondern „als Wind in seinen Segeln“ (S. 67).

Eine Frau, die Tim Kellers Bibelstudium besonders anregte, war Barbara Boyd, Lehrerin für induktives und evangelistisches Bibelstudium. Boyd forderte Keller und andere Bibelschüler heraus, innerhalb von 30 Minuten 50 Dinge innerhalb eines einzigen Bibelverses zu beobachten. Durch dieses methodische und konzertierte Vorgehen erkannte Keller, dass „die tiefsten Goldadern nicht am Eingang einer Höhle“ zu finden sind (S. 47). Gleichzeitig lernte er durch die gemischten universitären Bibelstudiergruppen, dass gemeindeübergreifendes Arbeiten nicht nur fruchtbar ist, sondern auch großes evangelistisches Potential darin liegt, Gläubige und Skeptiker zusammen die Bibel studieren zu lassen. Diese Vorgehensweise bestimmte auch seine spätere Gemeinde in New York, in der Keller sowohl Christen als auch Suchende gleichzeitig ansprach.

Amerikanischer Theologenreigen

Nach dem spannenden ersten, vorwiegend biographischen Teil wird der zweite Teil des Buches deutlich theologischer. Die Person Keller gerät etwas in den Hintergrund, stattdessen beleuchtet Hansen ausgewählte Dozenten genauer, die die Kellers am theologisch breit aufgestellten Gordon-Conwell Theological Seminary unterrichteten. Beispielsweise wurde Tim Keller durch Richard Lovelaces Vorlesung über Kirchengeschichts auf Jonathan Edwards aufmerksam, der ihm die wirkungsvolle Kombination von Logik und Bildsprache näherbrachte. Die auch in Deutschland bekannte Autorin und Märtyrerwitwe Elisabeth Elliot prägte das Rollenverständnis von Mann und Frau der Kellers inmitten starker gesellschaftlicher Umbrüche der 60er und 70er Jahre.

Im Verlauf dieses und folgender Abschnitte werden zahlreiche Theologen wie Bavinck, Nicole, Lane, Kline, Sproul, Clowney, und theologische Strömungen wie Liberalismus, „Pneumodynamik“ oder „Neo-Calvinismus“ genannt. Collin Hansen setzt implizit voraus, dass seine Leserschaft nicht nur amerikanisch, sondern auch theologisch gebildet ist. Deutsche Christen ohne theologisches Vorwissen werden in diesem Abschnitt mitunter Schwierigkeiten haben, Hansens Ausführungen zu folgen und die Implikationen für Tim Kellers Wirken nachzuvollziehen.

Land- und Stadtarbeit

Im dritten und vierten Abschnitt stehen Kellers pastorale Tätigkeiten im kleinstädtischen Hopewell im US-Bundesstaat Virgina sowie in der Metropole New York im Fokus. Ersteres ist auch für jene interessant, die sich schon mit Tim Keller beschäftigt haben, da dieser fast ausschließlich für seine Großstadtarbeit unter Intellektuellen bekannt ist. Über neun Jahre lang arbeitete Keller jedoch in einer kleinen Gemeinde, die überwiegend aus Senioren mit geringer formeller Bildung bestand – nur zwei Gemeindemitglieder hatten einen Hochschulabschluss. Hansen beschreibt, wie Keller hier zum ersten Mal Kontextualisierung lernen musste. Seine Predigten wurden praktischer, konkreter und klarer. Rassistische Vorurteile und andere problematische Sichtweisen im amerikanischen Süden der 70er tangierte Keller, indem er durch Bücher der Bibel predigte. Hansen arbeitet in diesem Abschnitt viel mit praktischen Beispielen und teils emotionalen Anekdoten, die Keller nicht nur als Prediger, sondern auch als seelsorgerlichen Pastor darstellen. Er ging seinen Gemeindemitgliedern persönlich und aufopferungsvoll nach, beispielsweise im Falle von weggelaufenen Ehemännern und Kindern. Bis an den Rand des Burn-outs verausgabte er sich in Hopewell in einer Phase, in der Kathy und er ihre Söhne großzogen und nur ein geringes Einkommen hatten.

Im weiteren Verlauf des Buches werden Kellers Dozententätigkeit am Westminster Theological Seminary und seine Berufung in die Gemeindegründung in New York geschildert. Hier wird dem Leser deutlich, welche Mammutaufgabe es war, im weitestgehend säkularisierten und teuren Manhattan eine florierende Gemeinde mit reformatorisch-konservativer Theologie zu etablieren. Besondere Aufmerksamkeit widmet Hansen dem 11. September 2001 und dessen Folgen für die Gemeindearbeit. Kellers sensibler Umgang mit Leid und die Entstehung seiner apologetischen Bücher wie Warum Gott? werden hier hervorgehoben. Hansen zeichnet Verbindungslinien zwischen bisherigen Lebensstationen und Kellers Arbeit in der Redeemer Presbyterian Church in New York. Auch arbeitet er heraus, wie Gott seine Potentiale als belesener Intellektueller, aufmerksamer Zuhörer und vielfältiger Generalist besonders bei der Arbeit mit der urbanen Elite New Yorks benutzte und gedeihen ließ.

Keine klassische Biographie

Die letzten Lebensjahre Kellers werden nur angerissen. Sein Kampf nicht nur „gegen Krebs, sondern gegen [s]eine Sünde“ (S. 309) wird nur im Epilog angeführt, welcher aus der Übersetzung eines englischen Nachrufs besteht. Überhaupt werden persönliche Themen und Probleme in Hansens Werk nur punktuell angesprochen. Eine Ausnahme bildet die berührende Episode um Kellers homosexuellen und an AIDS verstorbenen Bruder Billy, für den Tim in einer Grabrede tröstliche und ehrende Worte fand. Tiefere Einblicke in Kellers Familie, beispielsweise in die Erziehung der drei Söhne, werden nicht gewährt. Erstaunlicherweise kommt Tim Keller selbst kaum zu Wort, obwohl Hansen in den letzten Jahren seines Lebens als offizieller Biograph und Freund persönlichen Zugang zu ihm hatte. Stattdessen werden Angehörige, Mitstreiter oder Kellers Predigten zitiert. Wie Keller selbst seine Kindheit oder seine Gemeindearbeit einschätzte, kann daher überwiegend nur vermutet werden.

„Das Buch macht Mut, seinen Begabungen und Interessen nachzugehen, gute Einflüsse zu synthetisieren und diese passend für den jeweiligen Kontext einzusetzen.“
 

Dies liegt wie eingangs erwähnt an der Ausrichtung von Hansens Werk. Hansen hat keine klassische Biographie verfasst, sondern eher die Einflüsse auf Keller untersucht. Das Vorgehen ist zwar nachvollziehbar, mag den einen oder anderen Leser aber enttäuschen. Theologisch ausgebildete Keller-Fans werden auf ihre Kosten kommen, weniger versierte Leser werden phasenweise – besonders im Mittelteil – ihre Mühen haben. Was die Lektüre ebenso herausfordernd macht, ist nicht nur das als bekannt vorausgesetzte Who’s who der amerikanisch-evangelikalen Szene, sondern auch die zahlreichen Zeitsprünge, mit denen Hansen operiert. Hansen will mit ihnen aufzeigen, wie Kellers frühe Entwicklungen seine spätere Arbeit beeinflussten. Gleichzeitig können sie verwirren, gerade wenn Konzepte und Werke am Anfang nicht erklärt werden. So zitiert Hansen etwa an drei Stellen David Wilkersons Das Kreuz und die Messerhelden, bevor der Inhalt erst in vierter Instanz erläutert wird.

Ebenso wenig sollte das Buch als Anleitung für die Gemeindearbeit verstanden werden. Dazu eignen sich Kellers eigene Werke wie Center Church besser. Stattdessen kann das Werk helfen, Gottes Wirken nicht nur an Keller, sondern auch in der Gemeindearbeit besser nachzuvollziehen. Das Buch macht Mut, ähnlich wie Keller seinen Begabungen und Interessen nachzugehen, gute Einflüsse zu synthetisieren und diese passend für den jeweiligen Kontext – und sei er noch so aussichtslos – einzusetzen.

Buch

Collin Hansen, Timothy Keller: Was ihn prägte: Menschen, Bücher und ein gnädiger Gott, Gießen: Brunnen Verlag, 2024, 352 Seiten, ca. 20,99 Euro.