Aktuelle Angriffe auf die Irrtumslosigkeit der Bibel

Artikel von D.A. Carson
20. März 2024 — 16 Min Lesedauer

In den ersten Jahrhunderten nach Christus führten Christen ausführliche und langwierige Debatten mit den Heiden in ihrer Umgebung. Unter anderem ging es dabei um die Glaubwürdigkeit der Bibel. Der Schwerpunkt dieser Debatten änderte sich jedoch im Verlauf der Zeit. Die römisch-katholische Kirche betrachtet die christliche Offenbarung über Jesus traditionell als ein der Kirche anvertrautes Gut, das sich in zwei Teile aufteilen lässt: (1) die Schrift und (2) die Überlieferungen. Protestanten dagegen vertreten die Auffassung, dass nur die Schrift die einzige und endgültige Offenbarung ist, auch wenn sie die Überlieferungen schätzen und studieren. Mit anderen Worten: Traditionell vertreten die Katholiken die Position, dass die Bibel die Wahrheit sagt, dass aber ergänzende Wahrheit in außerbiblischen Überlieferungen zu finden ist, die durch das Lehramt der katholischen Kirche festgelegt werden. Protestanten sind hingegen der Ansicht, dass allein die Bibel Wahrheit ist. Katholiken und Protestanten erkennen also beide die Bibel als Wahrheit an, aber Katholiken tendieren dazu, durch das Hinzufügen einer weiteren Quelle für Wahrheit die Schrift der Überlieferung zu unterordnen. Protestanten dagegen entscheiden sich dafür, durch ihr kompromissloses Festhalten an der Schrift die Überlieferung der Schrift zu unterordnen. Diese Unterscheidungen werden erschwert durch unterschiedliche Auffassungen darüber, was zum Kanon gehört, und durch komplexe Debatten über die Allgenugsamkeit und Klarheit der Schrift. An dieser Stelle soll es aber um die Debatten rund um den Wahrheitsgehalt der Schrift konzentrieren, insbesondere in neuerer Zeit.

Historische Wurzeln der Debatte

Im 18. und 19. Jahrhundert (auch wenn die Wurzeln weiter zurück und die Früchte bis in unsere Zeit reichen) entwickelte sich vor allem an den französischen und deutschen Universitäten eine skeptische Haltung gegenüber der Heiligen Schrift, die ihren Wahrheitsgehalt infrage stellte. Da die Geistlichen in der Regel an den Universitäten ausgebildet wurden, verbreitete sich der Unglaube bald auch in den Kirchen. Für gewöhnlich fand diese Entwicklung nicht in Form eines offenen Angriffes auf die Heilige Schrift statt, sondern wurde eher als eine gründlichere und wissenschaftlichere Lektüre der Heiligen Schrift dargestellt. Anstatt den Bericht des Pentateuchs anzuerkennen, zogen die Gelehrten beispielsweise vier weitere, späte „Quellen“ heran, die als JEPD bezeichnet wurden, was zu einer radikalen Rekonstruktion der alttestamentlichen Geschichte und einer impliziten Verneinung vieler historischer Darstellungen im Text führte. Im Neuen Testament überzeugte der enorme Einfluss von F.C. Baur (1792–1860) an der Universität Tübingen viele davon, dass Datierung, Herkunft und Authentizität der neutestamentlichen Bücher nur nach einem einzigen Kriterium bestimmt werden sollten: ihrer Position auf der Achse, die die damals zunehmenden Spannungen zwischen Juden- und Heidenchristen beschreibt. Alle gegenteiligen Beweise – und davon gibt es eine Menge! – wurden nicht ernst genommen und als Fehler abgetan. Dabei spielte es keine Rolle, ob dieser Fehler durch vermeintlichen Irrtum oder bewusste Täuschung entstanden sein sollte. Obwohl einige konservative Christen der Meinung waren, dass Baur entlassen werden sollte, hielt er den Stürmen stand, da er sich nicht gegen die verschiedenen konfessionellen Strömungen stellte.

Dennoch zweifelten Gelehrte immer mehr die Glaubwürdigkeit der Wunder in den Evangelien an. Viele sahen das Johannesevangelium als historisch zuverlässiger an als Matthäus, Markus und Lukas. Dieser Umstand beruhte auf der zweifelhaften Begründung, dass Johannes von weniger Wundern berichtet und diese eher als Ausgangspunkt für die Reden Jesu behandelt. So wird aus der Speisung der Fünftausend die Rede vom Brot des Lebens (vgl. Joh 6) und die Heilung des Blindgeborenen ist Grundlage für die Feststellung, dass Jesus Licht und Sehvermögen schenkt. Das alles veränderte sich durch den Einfluss von David Friedrich Strauß (1808–1874). Sein umfangreiches dreibändiges Werk Das Leben Jesu (1835–1836) vertrat den Standpunkt, dass das Johannesevangelium weder als historischer Bericht noch als symbolträchtige Parabel, wie liberale Theologen es gern lasen, glaubwürdig sei. Vielmehr seien die Jesus zugeschriebenen Wunder ganz im Sinne des Materialismus und Naturalismus als Erfindungen der frühen Kirche zu verstehen. Die Christen hätten diese Geschichten erfunden und Mythen geschaffen, um die theologischen Überzeugungen zu verbreiten, die sie sich selbst eingeredet hatten. In seinen späteren Schriften verneinte Strauß unmissverständlich die Existenz einer geistlichen Wirklichkeit. Dies war ein so eklatanter Angriff auf die Heilige Schrift, dass er Strauß seine Anstellung an der Universität Zürich kostete. Als Das Leben Jesu 1846 zum ersten Mal in englischer Sprache erschien,[1] erklärte es der namhafte Rezensent, Anthony Ashley Cooper, Siebter Earl von Shaftesbury, zum „giftigsten Buch, das je aus dem Rachen der Hölle erbrochen wurde“.

„‚Unfehlbarkeit‘ besagt, dass die Schrift nicht versagen oder sich als falsch erweisen kann, während ‚Irrtumslosigkeit‘ darauf besteht, dass es in der Schrift keine Fehler gibt.“
 

An dieser Stelle wird deutlich, dass Christen, die die Wahrheit der Bibel verteidigten, an zwei unterschiedlichen Fronten auf Gegner stießen: zum einen auf diejenigen, die im Sinne der mittelalterlichen Kirche die Zuverlässigkeit der Schrift durch Berufung auf die Überlieferung relativierten und zum anderen auf die, die im Sinne des aufkommenden philosophischen Naturalismus leugneten, dass Gott in der Schrift die Wahrheit offenbart hat.

Die Bedeutung des Begriffes „Irrtumslosigkeit“

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass der Titel dieses Aufsatzes zwar den zeitgenössischen Angriff auf die Irrtumslosigkeit der Bibel anspricht, dass aber der Aufsatz selbst stärker die Wahrheit der Bibel thematisiert. Das liegt daran, dass man in der heutigen Theologie bei genauerem Hinsehen mit „Irrtumslosigkeit“ eher den Wahrheitsgehalt der Bibel meint und diskutiert. Das soll anhand der folgenden acht Punkte kurz erklärt werden:

  1. Quellen aus der Zeit der Kirchenväter belegen die frühchristliche Überzeugung, dass die Bibel ohne Fehler, also irrtumslos sei, auch wenn dies von manchen angezweifelt wird. Im 4. Jahrhundert führen beispielsweise Hieronymus und Augustinus einen Briefwechsel, um aufzuzeigen, dass die Evangelien irrtumslos sind – ein wichtiger Punkt in ihrer Apologetik gegenüber den Heiden.[2]
  2. Der Begriff „irrtumslos“ wird in den letzten ein oder zwei Jahrhunderten immer häufiger verwendet. Das bedeutet jedoch nicht, dass es sich dabei um ein neues Verständnis vom Wesen der Schrift unter Christen handelt. Vielmehr drückt dieser Umstand die wachsende Sorge um den Erhalt des historischen Verständnisses der Christenheit vom Wesen der Heiligen Schrift aus. Dieses Verständnis wird von der liberalen Theologie auf unterschiedliche Art und Weise angegriffen.
  3. Lange Zeit wurde der Begriff „Unfehlbarkeit“ bevorzugt: Man sprach eher von der Unfehlbarkeit der Schrift als von der Irrtumslosigkeit der Schrift. Es handelt sich dabei tatsächlich um hilfreiche, sich ergänzende Begriffe, wenn sie richtig verstanden und angewandt werden: „Unfehlbarkeit“ besagt, dass die Schrift nicht versagen oder sich als falsch erweisen kann, während „Irrtumslosigkeit“ darauf besteht, dass es in der Schrift keine Fehler gibt. So verstanden, bringen beide Ausdrücke die Wahrheit der Schrift zum Ausdruck. Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch wurde die Unfehlbarkeit in einigen Kreisen nur auf den Wahrheitsgehalt der geistlichen Botschaft der Schrift bezogen, während man vermeintliche historische und andere faktische Fehler darin zu sehen glaubte. Als Gegenreaktion bestanden viele Christen auf der Irrtumslosigkeit der Schrift, nicht weil sie ihrem Verständnis von der Schrift einen neuen Aspekt hinzufügten, sondern weil sie an der historischen Position festhielten, dass die Bibel die Wahrheit zu jedem Thema sagt, das sie anspricht.
  4. Dennoch darf „Irrtumslosigkeit“ nicht mit „Präzision“ verwechselt werden. Viele lehnen den Begriff „Irrtumslosigkeit“ mit der Begründung ab, er klinge pedantisch, zu präzise, zu sehr auf das Kleinste konzentriert. Diejenigen aber, die ihn mit historischem Bewusstsein verwenden, wissen, dass er nicht einen bestimmten Präzisionsgrad erfordert, sondern die Wahrhaftigkeit unterstreicht, unabhängig vom Grad der Präzision oder Präzisionslosigkeit (die weitgehend vom Kontext bestimmt wird).
  5. Der Anspruch auf Irrtumslosigkeit steht nicht im Widerspruch zum legitimen Gebrauch von Metaphern, Übertreibungen, Parabeln, Redewendungen und verschiedenen literarischen Gattungen. Mit anderen Worten: Die Verneinung der Irrtumslosigkeit mit der Begründung, sie sei zu buchstabengetreu, zeugt von Unkenntnis dessen, was Irrtumslosigkeit ist – ja, dessen, was Wahrheit ist und den zahlreichen und unterschiedlichen Arten und Weisen, wie sie vermittelt werden kann.
  6. In den letzten fünfzig Jahren hat die Sprechakttheorie eine besondere Blütezeit erlebt. Dabei wird mehr Wert auf das gelegt, was Texte bewirken, als auf das, was sie aussagen. Schauen wir uns zwei Stellen genauer an: „Was du tun willst, das tue bald“ (Joh 13,27, wo Jesus sich an Judas Iskariot wendet); „Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren wurde; der Tag, an dem mich meine Mutter zur Welt gebracht hat, sei nicht gesegnet“ (Jer 20,14, wo Jeremia seine eigene Existenz beklagt). Sagen beide Stellen die Wahrheit aus? Sind sie unfehlbar? Natürlich könnte man argumentieren, dass es wahr ist, dass Jesus bzw. Jeremia diese Sätze gesagt haben, aber sind die Worte selbst wahr? Es liegt auf der Hand, dass „Wahrheit“ die falsche Kategorie ist für eine Aufforderung, wie in der ersten Stelle, oder eine Klage, wie in der zweiten. Aus dieser Feststellung schließen manche, dass es daher unangemessen ist zu behaupten, dass die gesamte Schrift irrtumslos sei, da Wahrhaftigkeit und Irrtumslosigkeit nicht auf jede Aussage der Bibel zutreffen. Dies ist jedoch ein etwas abwegiger Einwand. Es ist eine Sache zu sagen, dass ein Text einen Imperativ enthält und daher nicht als irrtumslos bezeichnet werden kann, und eine vollkommen andere, zu sagen, dass ein Text etwas sagt, das nicht wahr ist und daher nicht als irrtumslos bezeichnet werden kann. Anders ausgedrückt: Der christliche Anspruch lautet, dass die gesamte Schrift irrtumslos ist, wenn es um ihren Wahrheitsgehalt geht.
  7. An diesem Punkt gehen einige Kritiker nicht mit und argumentieren, dass eine Eigenschaft wie „Irrtumslosigkeit“ nicht besonders hilfreich ist, wenn sie so sorgfältig definiert werden muss. Nach ihnen könnte man auf sie getrost verzichten. Aber in der ganzen Palette der christlichen theologischen Begriffe gibt es kaum ein Substantiv, das nicht sorgfältig definiert werden muss, z.B. Gott, Christus, Rechtfertigung, Glaube, Gerechtigkeit, Sünde, Götzendienst und so weiter. Alle diese Worte bedürfen einer sorgfältigen Definition. Wenn wir alle Begriffe, auf die das zutrifft, aufgeben müssten, blieben uns nur noch sehr wenige Worte übrig.
  8. Schließlich müssen wir uns immer vor Augen halten, dass es um die Offenbarung eines Gottes geht, der sich mitteilt. Dieser Gott entschließt sich dazu, mit dem Menschen, der nach seinem Ebenbild geschaffen wurde, in menschlichen Worten zu kommunizieren, die verstanden, geglaubt, befolgt, missachtet, erlernt und behalten werden können. In der Tat werden die Worte der Schrift üblicherweise als Worte Gottes behandelt.[3] Wenn wir über die verbale Selbstoffenbarung Gottes in der Schrift sprechen, ist es nicht nur möglich, sondern auch notwendig, über den Wahrheitsgehalt dieser Selbstoffenbarung zu sprechen. Dies führt uns zu vier weiteren häufig vorgebrachten Einwänden gegen die Irrtumslosigkeit, denen allen ein verzerrtes Verständnis von Wahrheit zugrunde liegt.

Vier weitere Einwände gegen die Irrtumslosigkeit

Taten und Berichte

Erstens teilen viele Gelehrte die Taten Gottes und die Berichte darüber in zwei unterschiedliche Kategorien ein, um ersterer den Vorrang zu geben und letztere hintenanzustellen. Diese Zweiteilung hat sich auf verschiedene Weise herausgebildet. So hat eine Gruppe von Gelehrten vor einigen Jahrzehnten die Taten Gottes zum Ausdruck seiner Offenbarung erklärt und die Worte Gottes in ihrer Bedeutung heruntergestuft.[4] Gottes Offenbarung besteht in dem Ereignis des brennenden Busches, dem Ereignis des Auszugs aus Ägypten, dem Ereignis der Auferstehung Jesu. Die Worte, die diese Ereignisse beschreiben, stellen nicht selbst Offenbarung dar, sondern lediglich „Schilderungen“ dieser Offenbarung. Obwohl es noch einige Vertreter dieser Denkrichtung gibt, wird sie heute größtenteils abgelehnt. Zunächst einmal sind sehr wenige bloße Ereignisse in sich selbst so aussagekräftig, dass sie es nicht nötig hätten, durch Worte erklärt und entschlüsselt zu werden. Jesus wurde gekreuzigt, starb und ist wieder auferstanden – ungewöhnlich, kein Zweifel, aber was soll’s? Brauchen wir nicht Worte, um zu erklären, dass Jesus beim Sterben unsere Sünden trug und dass Gott ihn zu unserer Rechtfertigung von den Toten auferweckte? Sehr häufig sind es Worte, durch die Ereignissen ihre Bedeutung verliehen wird.

Die heute üblichere Form dieser Zweiteilung stellt Jesus, das fleischgewordene Wort (vgl. Joh 1,1.14), den geschriebenen Worten gegenüber: „Ich ziehe das menschgewordene Wort dem geschriebenen Wort vor“, lautet die Aussage der Kritiker. Irrtumslosigkeit bezieht sich auf Worte und kann daher als Grundsatz relativiert oder verworfen werden. Aber mit welcher Begründung würde man das geschriebene Wort gegen das fleischgewordene Wort ausspielen? Was zunächst einigermaßen geistlich klingt („Ich ziehe das menschgewordene Wort vor“), entpuppt sich plötzlich als ein Ausdruck von Unglauben. An dieser Stelle sei erwähnt, dass der Begriff „Wort“ nur einige wenige Male auf Jesus angewandt wird, (d.h. die „menschgewordene“ Verwendung), während „Wort“ mehrere hundert Male auf das Evangelium, die Predigt oder die Schrift selbst angewandt wird. Wäre es nicht seltsam zu sagen, dass die Menschwerdung Jesu eine Offenbarung ist und dann zu ignorieren, dass der menschgewordene Christus derjenige ist, der darauf besteht, dass „die Schrift … doch nicht außer Kraft gesetzt werden [kann]“ (Joh 10,35)?

Anpassung

Zweitens wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass in der komplexen und verwobenen Dynamik zwischen dem göttlichen Autor und dem menschlichen Verfasser, aus der die Heilige Schrift hervorgeht, sowohl Gott als auch Mensch tatsächlich an der Entstehung des Textes beteiligt waren. Einige schließen daraus aber fälschlicherweise, dass man das Vorhandensein von Fehlern akzeptieren müsse, wenn man nicht von einem rein göttlichen Diktat ausgeht (und die Rolle des Menschen auf den Schreibenden reduziert). „Irren ist menschlich“, sagen sie – und Gott hätte sich der menschlichen Unvollkommenheit angepasst. An der Irrtumslosigkeit festzuhalten würde also bedeuten, den menschlichen Aspekt bei der Entstehung der Heiligen Schrift bewusst zu verdrängen. Nahezu alle christlichen Theologen greifen auf vergleichbare Konzepte zurück, um die unterschiedlichen Arten der Inspiration zu erklären und um zu beschreiben, wie Gott sich menschlicher Verfasser bedient – einschließlich ihrer Erfahrungen und ihres Sprachgebrauchs. Dennoch bestehen bekennende Christen darauf, dass Irrtum nicht den Kern des menschlichen Wesens ausmacht: Jeder einzelne Mensch ist in der Lage eine Aussage zu treffen, die eindeutig und vollkommen wahr ist, auch wenn es sich dabei nicht um eine erschöpfende Aussage handelt. Die vielen biblischen Texte, die Gottes herrliche Güte bezeugen, durch die er auf unsere Begrenztheit als Menschen eingeht, bezeugen auch, dass er in seiner Vorsehung sein Wort in seiner Wahrheit bewahrt.

„Die Kunst der gebieterischen Unwissenheit“

Der dritte Angriff auf die Irrtumslosigkeit – und damit auf die Wahrheit – ist das Bezweifeln der menschlichen Fähigkeit, Wahrheit über etwas überhaupt erkennen zu können. „Die Kunst der gebieterischen Unwissenheit“ ist ein Ausdruck, der einem wichtigen Aufsatz des verstorbenen Michael J. Ovey entstammt.[5] Ein gutes Beispiel dafür, so Ovey, ist das Konzil von Sirmium (357 n.Chr.). In Sirmium diskutierte man das Für und Wider einer bestimmten theologischen Position und kam schließlich nicht nur zu dem Schluss, dass man keine endgültige Entscheidung treffen könne, sondern dass dies sogar grundsätzlich unmöglich sei. Mit anderen Worten: In Sirmium gestand man sich nicht nur seine eigene Unwissenheit ein, sondern bestand darauf, dass Unwissenheit die einzig richtige Position sei – was in der Praxis natürlich bedeutete, dass man jede beliebige Position wählen konnte, solange man diese nicht zur einzig richtigen erklärte. Die Unwissenheit des Konzils war kein bescheidener Agnostizismus, sondern eine gebieterische Forderung. Einige postmoderne Denkrichtungen wählen eine ähnliche Vorgehensweise. Sie behaupten, genau zu wissen, wie viel wir von dem, was die Bibel sagt, nicht wissen können. Wenn sie ihre eigene Erkenntnistheorie etwas mehr anzweifeln würden, könnten sie vielleicht mehr Vertrauen in ihre Lesefähigkeit entwickeln.

Angriffe auf dem Gebiet der Moral

Schließlich haben einige Kritiker zu verschiedenen Zeiten der Kirchengeschichte und insbesondere in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts versucht, die Wahrheit (und damit die Irrtumslosigkeit) der Heiligen Schrift zu untergraben, indem sie unterschiedliche Inhalte der biblischen Ethik ins Lächerliche zogen. Dazu gehörten Berichte über Völkermord und die Aussagen der Bibel über Hölle, Homosexualität, Frauenrechte und religiösen Exklusivismus. Einige dieser Themen werden an anderer Stelle beleuchtet. An dieser Stelle soll nur festgehalten werden, dass viele Angriffe auf die Irrtumslosigkeit in Wirklichkeit aus einem Unbehagen gegenüber bestimmten biblischen Wahrheiten entstehen.

Weiterführende Literatur


1David Friedrich Strauss: Das Leben Jesu: kritisch bearbeitet, WBG 2012.

2Eine ausführliche Abhandlung findet sich bei John D. Woodbridge, Biblical Authority: A Critique of the Rogers/McKim Proposal, Grand Rapids: Zondervan, 1982.

3Vgl. Wayne Grudem, „Scripture’s Self-Attestation and the Problem of Formulating a Doctrine of Scripture”, in D.A. Carson, John D. Woodbridge (Hrsg.), Scripture and Truth, Grand Rapids: Zondervan, 1983, S. 19–59.

4Vgl. G. Ernest Wright, God Who Acts: Biblical Theology as Recital, SBT 8, London: SCM, 1962.

5„The Art of Imperious Ignorance”, Themelios 41 (2016), S. 5–7. Vgl. D.A. Carson, Editorial: „Aber das ist nur deine Interpretation!“, auf Englisch erschienen in Themelios 44 (2019), S. 25–32.