Wann beginnt mein Recht auf Leben?
Wann erhält das menschliche Leben einen Wert?
In seinem Buch A Defense of Abortion schreibt der an der University of Colorado lehrende Philosophieprofessor David Boonin, dass „ein Fötus im Grunde einfach nur ein menschliches Wesen in einem sehr frühen Stadium seiner Entwicklung“[1] sei. Trotzdem spricht er sich für Abtreibung aus – obwohl er anerkennt, dass man mit dem Embryo/Fötus, der man einmal war, identisch ist.
Boonin erkennt also eine wichtige Prämisse der Substanzauffassung an: Ich bin identisch mit dem Embryo, der ich einmal war. Ich bin heute das gleiche Wesen wie damals. Ich habe mich nicht aus einem Embryo entwickelt. Ich war einmal dieser Embryo.
Nach Boonins Ansicht folgt allein aus der Tatsache, dass ich mit meinem früheren embryonalen Selbst identisch bin, jedoch nicht, dass ich damals dasselbe Recht auf Leben hatte wie heute. Wer das anders sieht, müsse sich zunächst der Frage stellen, was den Wert eines Menschen eigentlich ausmacht.
Dass ich heute das Recht habe, Eigentum zu besitzen oder mir im Fernsehen eine beliebige Sendung anzuschauen, bedeutet beispielsweise nicht, dass ich diese Rechte schon als Kleinkind hatte. Genauso wenig – behauptet Boonin – bedeutet die Tatsache, dass wir im embryonalen/fötalen Stadium bereits als menschliche Wesen existieren, dass wir in jedem Lebensstadium die gleichen Rechte haben – einschließlich eines Rechts auf Leben.
Es genügt nicht, ein Mensch zu sein, so Boonin, um daraus ein Recht auf Leben abzuleiten. Konkret erklärt er: „Die Tatsache, dass ein menschlicher Fötus zur selben Spezies gehört wie Sie und ich, kann kein Argument sein, ihm dasselbe Recht auf Leben wie Ihnen und mir zuzusprechen.“[2] Der intrinsische Wert eines Menschen ist nach Boonins Definition eine zufällige Eigenschaft, die ein Fötus erst im späteren Verlauf der Schwangerschaft erwirbt, nämlich nachdem eine organisierte kortikale Hirnaktivität vorhanden ist, die zum aktuellen Zeitpunkt ein Verlangen nach etwas ermöglicht – was laut Boonin zwischen fünfundzwanzig und zweiunddreißig Wochen nach der Empfängnis der Fall ist. Nur ein gegenwärtiges Verlangen, kein zukünftiges, verleihe Wert und begründe ein Recht auf Leben. Da ein Fötus im frühen Stadium kein gegenwärtiges Verlangen hat, habe er auch kein Recht auf Leben.
Kurz gesagt, der Mensch ist zwar ab einem bestimmten Zeitpunkt existent, aber er wird erst zu einem späteren Zeitpunkt in dem Sinne intrinsisch wertvoll, dass er Subjekt von Rechten wird. Bis dahin mag die Abtreibung moralisch kritisierbar sein, nicht aber moralisch unzulässig.
Damit unmissverständlich deutlich wird, worum es hier geht, macht Boonin Nägel mit Köpfen und demonstriert anhand eines persönlichen Beispiels, welche Konsequenzen sein Argument hat:
„Auf dem Schreibtisch in meinem Büro, wo der größte Teil dieses Buches geschrieben und überarbeitet wurde, stehen mehrere Fotos meines Sohnes Eli. Auf einem der Bilder tanzt er vergnügt auf dem Sand am Golf von Mexiko, während die kühle Meeresbrise seine Wuschelhaare durcheinanderwirbelt. Auf einem zweiten sitzt er noch unsicher im Gras im Garten seiner Großeltern und übt, sich selbständig aufzusetzen. Auf einem dritten Bild ist er nur wenige Wochen alt, klammert sich fest an die Arme, die ihn halten, und trägt noch das winzige Mützchen, das seinen Körper warmhalten soll, welches ihm aus dem Krankenhaus mit nach Hause gegeben wurde. Bei all den bemerkenswerten Veränderungen, die auf diesen Bildern festgehalten sind, bleibt er unverkennbar derselbe kleine Junge. In der obersten Schublade meines Schreibtischs bewahre ich ein weiteres Bild von Eli auf. Dieses Bild wurde 24 Wochen vor seiner Geburt aufgenommen. Das Ultraschallbild ist etwas unscharf, aber man erkennt ausreichend deutlich einen kleinen Kopf, der leicht rückwärts geneigt ist, ebenso wie einen erhobenen, angewinkelten Arm, dessen Hand nach hinten zum Gesicht weist, während der Daumen zum Mund ausgestreckt ist. Für mich besteht kein Zweifel, dass dieses Bild denselben kleinen Jungen zeigt, bloß in einem sehr frühen Stadium seiner körperlichen Entwicklung. Zudem ist es keine Frage, dass die in diesem Buch von mir vertretene Position bedeutet, dass es moralisch zulässig gewesen wäre, sein Leben zu diesem Zeitpunkt zu beenden.“[3]
Man darf die Bedeutung dieses Zitats nicht übersehen. Boonin räumt eine wichtige Prämisse der Pro-Life-Argumentation ein – dass der Fötus Eli dasselbe Wesen wie das Kleinkind Eli ist. Dies steht in direktem Gegensatz zu der Auffassung einer geistigen Kontinuität, wie sie von Tooley, Singer, Giubilini und Minerva vertreten wird, die bestreiten würden, dass Eli mit seinem früheren embryonalen und fötalen Selbst identisch ist.
Boonins Sicht beunruhigt viele Abtreibungsbefürworter, die darauf bestehen, dass du im embryonalen und fötalen Stadium noch nicht existiert hast. Klar, ein physischer Körper hat existiert, aber nicht du selbst. Boonin sagt deutlich, dass es so nicht funktioniert. Ich bin heute noch dasselbe Wesen wie damals. Doch Boonin argumentiert weiter, dass mein Recht auf Leben damals nicht dasselbe war wie heute, weil mein (intrinsischer) Eigenwert damals nicht derselbe war wie heute. Ohne das gegenwärtige Verlangen habe ich keinen intrinsischen Wert und kein Recht auf Leben.
Die Antwort auf Boonins Menschsein-Argument
Einer solchen Sichtweise halte ich Folgendes entgegen:
Erstens: Warum verleiht das Vorhandensein eines unmittelbar ausübbaren „Verlangens“ Wert und nicht etwa das Vorhandensein einer menschlichen Natur, die Verlangen hervorbringt? Stephanie Gray veranschaulicht, welche Bedeutung diese Frage hat, indem sie menschliche Embryonen und Amöben gegenüberstellt. Beide haben keine organisierte kortikale Gehirnaktivität. Die Embryonen haben sie aufgrund ihres Alters und ihrer Entwicklung noch nicht (und sind daher noch nicht rational). Amöben haben sie auch nicht (und sind daher nicht rational), allerdings aufgrund ihrer Beschaffenheit – Rationalität entspricht nicht ihrer Natur. Wird die Amöbe jemals rational sein? Nein. Wird der Embryo jemals rational sein, wenn er nicht durch eine Krankheit oder Verletzung daran gehindert wird? Ja.
Gray untermauert ihre Argumentation mit folgenden Fragen:
„Wäre es demnach richtig, wenn man sagt, dass eine Amöbe deshalb nicht rational ist, weil sie so ist, wie sie ist? Weil es nämlich nicht in ihrer Natur liegt, ein rationales Lebewesen zu sein? ... Ist das nicht gerade die Erklärung dafür, dass Amöben keine Menschen sind, menschliche Embryonen aber schon? ... Eine Amöbe ist aufgrund ihrer Natur nicht rational. Ein menschlicher Embryo jedoch ist, wie wir bereits gesehen haben, aufgrund seines Entwicklungsstadiums noch nicht rational. Einer der beiden wird nie denken können. Der andere kann jetzt noch nicht denken – aufgrund seines jungen Alters.“[4]
In gleicher Weise gilt, dass Embryonen und Föten aufgrund ihres Alters kein Verlangen haben. Amöben fehlt generell aufgrund ihrer Beschaffenheit die Fähigkeit des Verlangens. Wie Gray hervorhebt, „beruhen die Menschenrechte auf dem Mensch-Sein, nicht auf menschlichem Verhalten“.
Zweitens schießt Boonins Argumentation über sein eigenes Ziel hinaus. Sie spricht Neugeborenen das Recht auf Leben ab. „Verlangen“ setzt voraus, dass Überzeugungen und Urteilsvermögen vorhanden sind. Beides entwickeln Neugeborene jedoch erst mehrere Wochen (wenn nicht Monate) nach der Geburt.
Drittens wird durch Boonins Argumente die Gleichheit der Menschen ausgehebelt. Gegenwärtiges und unmittelbar ausübbares Verlangen sind von Mensch zu Mensch verschieden. Wenn aber der intrinsische Wert (und damit das Recht auf Leben) auf einer Eigenschaft beruht, die keiner von uns in gleichem Maße hat, haben diejenigen mit einem „Mehr“ dieser Eigenschaft ein größeres Recht auf Leben als die übrigen Menschen. Die grundsätzliche Gleichheit der Menschen wird auf diese Weise zur Fiktion.
Viertens lassen sich zu Boonins Begründung Gegenbeispiele anführen, die bedenklich sind. Man stelle sich nur einmal einen indoktrinierten Sklaven vor. Angenommen, man hat dem Sklaven eine Gehirnwäsche verpasst, sodass er sich nie nach Freiheit sehnt – können wir dann seine Versklavung rechtfertigen? Wenn Boonin erklärt, dass man das nicht könne, weil der Sklave – aufgrund der Natur des Wesens, das er ist – einen „idealen“ Wunsch nach Freiheit hat, dann bedient sich Boonin bei der Substanzauffassung, wie sie von Abtreibungsgegnern vertreten wird. Das Recht auf Leben wird weder durch ein gegenwärtiges Verlangen noch durch irgendeine andere unmittelbar ausübbare Eigenschaft begründet. Vielmehr ist es das Vorhandensein einer bestimmten Natur, aus der diese Eigenschaften hervorgehen (ob wir nun nach ihnen verlangen oder nicht), welches das Recht auf Leben begründet.[5]
Betrachten wir ein ähnliches Beispiel, das Francis J. Beckwith anführt. Angenommen, ein Wissenschaftler verändert chirurgisch das Gehirn eines sich entwickelnden Fötus so, dass er nie nach etwas verlangen kann. Die Operation wird abgeschlossen, bevor der Fötus eine organisierte kortikale Hirnaktivität entwickelt hat, ein gegenwärtiges Verlangen war folglich nicht vorhanden. Fünf Jahre später wird das Kind getötet, damit seine Organe entnommen werden können, um Krankheiten bei anderen Menschen zu behandeln. Nachdem es zum Zeitpunkt der Tötung keinerlei Verlangen hatte – wurde dem Kind Schaden zugefügt, ja oder nein?
Beckwith erklärt: „Wenn Rechte ein Verlangen voraussetzen und dieses wiederum eine organisierte kortikale Hirnaktivität, dann kann Boonins Kriterium keine Begründung dafür liefern, dass dem Fötus ein Schaden zugefügt wurde.“ Geht man jedoch davon aus, dass dem Fötus Schaden zugefügt wurde, dann ist es dessen Natur und nicht sein unmittelbar ausübbares Verlangen nach irgendetwas, die moralisch begründet, dass es sich um eine Schädigung handelt. Der Fötus ist die Art von Wesen, dem man nichts vorenthalten sollte, was zu seinem Gedeihen beiträgt.[6] Auch Buddhisten und Stoiker verlangen gegenwärtig vielleicht nichts. Haben sie damit ihr Recht auf Leben verwirkt? Oder nehmen wir an, ich schieße mir versehentlich mit einer Nagelpistole in den Kopf, während ich eine Terrasse baue. Ich überlebe, aber ich beschädige den Teil meines Gehirns, der das Verlangen kontrolliert. Die Folge davon ist, dass ich nach nichts mehr verlange. Habe ich mein Recht auf Leben verwirkt?[7] Begründungen des menschlichen Werts, die auf der Fähigkeit des Verlangens beruhen, stehen im Widerspruch zum Konzept unveräußerlicher Rechte. Wenn dein Recht auf Leben unveräußerlich ist, kannst du es nicht einfach aufgeben, weil du nicht mehr leben willst. Unveräußerliche Rechte lassen sich nicht wegverhandeln.
1 David Boonin, A Defense of Abortion, Cambridge: Cambridge University Press, 2002, S. 20.
2 Ebd., S. 3.
3 Ebd., S. xii-xiv.
4 Stephanie Gray, Love Unleashes Life: Abortion and the Art of Communicating Truth, Toronto: Life Cycle Books, 2015, S. 47–48.
5 Vgl. Christopher Kaczor, The Ethics of Abortion: Women’s Rights, Human Life, and the Question of Justice, 2. Aufl., New York: Routledge, 2015, S. 23; Francis J. Beckwith, Defending Life: A Moral and Legal Case against Abortion Choice, New York: Cambridge University Press, 2007, S. 147–149.
6 Vgl. Beckwith, Defending Life, S. 148–149.
7 Vgl. Kaczor, Ethics of Abortion, S. 22–23.