Wie die Luft, die wir atmen

Rezension von Lukas Meier
7. März 2024 — 7 Min Lesedauer

Glen Scrivener möchte uns in seinem Buch Wie die Luft, die wir atmen „die Augen dafür öffnen, dass das, was wir in unserer Welt erleben, die fortdauernden Nachbeben der Jesus-Revolution sind“ (S. 16). Dabei ist es nicht nur sein Anspruch, gläubige Christen in zehn kurzen Kapiteln auf nur 256 Seiten von dieser These zu überzeugen und ihnen Mut zu machen, „ihren Weg weiterzugeben“ (S. 16). Vielmehr möchte er gerade der Gruppe der unreligiösen Menschen die „Kraft und Tiefe von Jesus und seiner Revolution“ (S. 14) aufzeigen. Auch die ehemals Religiösen spricht er an. Für sie demonstriert er, dass ihre Kritik am christlichen Glauben selbst zutiefst christlich ist, denn „unsere Probleme mit dem Christentum … sind eigentlich typisch christliche Probleme“ (S. 15).

Die lange Nacht und das Kreuz

Das erste Kapitel bereitet die Szene vor. In drastischen Bildern beschreibt Scrivener die „lange Nacht vor Weihnachten“ (S. 25), also die antike Welt vor der Ankunft Christi. Am Beispiel der Kreuzigung, die nicht nur als brutale Strafe für Sklaven, sondern auch als Unterhaltung für die Massen diente, zeigt er, wie grausam und brutal das Leben im antiken Rom sein konnte. Für die „ebenso erfindungsreiche wie groteske Brutalität“ der alten Römer „war das Spektakel alles und das Leben nichts“ (S. 31). Diese menschenverachtende Einstellung hatten die antiken Menschen in Rom und Griechenland nicht etwa trotz, sondern gerade wegen ihrer Priester und Philosophen! „In der Antike bedeutete Gerechtigkeit Durchsetzung der Ungleichheit, denn so wollte es die Natur“ (S. 33).

Das Kreuz Christi stellte das alles auf den Kopf. Scrivener nennt das die Jesus-Revolution. Für diese Revolution „war das Kreuz nicht das Ende, sondern der Anfang“ (S. 42), und „die verrückte Botschaft vom Kreuz wurde zur einflussreichsten Botschaft in der Geschichte der Menschheit“ (S. 43).

Spuren der Revolution

In den nächsten sieben Kapiteln verfolgt Scrivener die Spuren dieser Revolution in der Geschichte des Abendlandes. Dabei beginnt er mit der (aus der biblischen Schöpfungsgeschichte abgeleiteten) unerhörten Idee von der Gleichwertigkeit aller Menschen und hält fest: „Gleichheit, Menschenrechte, Humanität – sie alle kommen aus dieser biblischen Wurzel“ (S. 66). Er beschreibt, wie der Glaube an einen barmherzigen Gott dazu führte, dass die Gladiatorenspiele abgeschafft und die Aussetzung unerwünschter Kinder verboten wurde.

Sodann geht es um das Thema „Freiwilligkeit“. Es beleuchtet die Idee der körperlichen und psychischen Integrität aller Menschen – also auch von Frauen, Kindern und Sklaven – und die sich aus dieser Idee ergebende Einhegung besonders des männlichen Sexualverhaltens. Für Scrivener war das eine „Revolution der sexuellen Werte und Praktiken“ (S. 95) welche die Welt veränderte und das Los unzähliger Menschen deutlich verbesserte.

Das angeblich so finstere Mittelalter nimmt sich der Autor ebenfalls vor und zeigt, wie unreflektiert und fehlerhaft dieses Urteil eigentlich ist. Das Mittelalter war keine Zeit des finsteren christlichen Fanatismus, sondern eine Ära, in der – nicht zuletzt durch die Kirche gefördert – Technologie, Menschenrechte, Wissenschaft und Demokratie sich weiterentwickelten und sogar manche Blüte erlebten.

Auch der Entwicklung der Wissenschaft geht Scrivener noch etwas genauer auf den Grund und stellt fest, dass Glaube und Wissenschaft eigentlich nicht notwendigerweise Feinde sein müssen. Vielmehr bilden christliche Glaubenssätze geradezu das Fundament des wissenschaftlichen Forschens. Es sind „Grundwahrheiten, die wir dem biblischen Schöpfungsbericht entnehmen können: die Freiheit Gottes, die Verstehbarkeit der Welt und die Fehlbarkeit des Menschen“ (S. 149), welche Wissenschaft in unserem modernen Sinn überhaupt erst als sinnvolles Unterfangen erscheinen lassen.

„Der christliche Glaube hat zu den Werten geführt, die unsere heutige westliche Gesellschaft so hochhält: Gleichheit, Barmherzigkeit, Freiwilligkeit, Aufklärung, Wissenschaft, Freiheit und Fortschritt.“
 

Der Autor greift auch ein weiteres heiß diskutiertes Thema auf: die Sklaverei. Er beschreibt, wie einzig und allein die westliche Zivilisation die Sklaverei abgeschafft hat, und weist nach, dass diese Abschaffung in erster Linie auf das Konto überzeugter Christen geht. „Die Abschaffung der Sklaverei war ein absoluter Meilenstein, den keiner, ob er nun Christ ist, oder nicht, ignorieren kann. Wir glauben nicht nur an die Freiheit, wir glauben jetzt auch an den Wandel durch Fortschritt“ (S. 182).

Auch der näheren Definition dieses Fortschritts widmet Scrivener sich und führt aus, wie unser Glaube an gesellschaftlichen und moralischen Fortschritt keineswegs selbstverständlich, sondern vielmehr eine wunderbare Folge des christlichen Glaubens ist. Das christliche Geschichtsverständnis ist nicht wie das antike zyklisch, sondern teleologisch, weil die Geschichte ihr Ziel in Jesus Christus hat. Geschichte ist Fortschrittsgeschichte, weil sie Geschichte auf Christus hin ist.

Wie es nun weitergeht

Am Ende der historischen Spurensuche zeigt Scrivener auf, wie der christliche Glaube zu den Werten geführt hat, die unsere heutige westliche Gesellschaft so hochhält: Gleichheit, Barmherzigkeit, Freiwilligkeit, Aufklärung, Wissenschaft, Freiheit und Fortschritt. All dies verdanken wir dem Christentum – doch dieses Christentum ist im Verschwinden begriffen. Deshalb stellt sich Scrivener die Frage, wie es mit diesem „Königreich ohne den König“ (S. 205) weitergehen wird.

Er hält zum einen fest, dass das Christentum eigentlich noch immer Prägekraft in der Gesellschaft hat: „In all den Trends, die wir gegenwärtig erleben, ist immer noch das Christentum am Werk“ (S. 211). Gleichzeitig warnt er davor, dass ebendiese Trends drohen, zur „Dekadenzversion des christlichen ‚Erleuchtungsdrangs‘“ zu werden, der vorwiegend das fehlt, „was das Herz des Christentums ausmacht: Vergebung“ (S. 219). Es droht eine neue, säkulare und unbarmherzige Gesetzlichkeit, ein „Halb-Christentum“ (S. 224), dem wir nur eines entgegensetzen können: das Original, zu dem zurückzukehren er im letzten Kapitel auch aufruft.

Keine Langeweile

Am Ende dieser Tour de Force muss man einmal tief durchatmen. Wie ein Schnellzug führt uns Glen Scrivener in diesem kurzen Buch von der Antike in die Gegenwart. Dabei verwebt er Heilsgeschichte, Ideengeschichte und Ereignisgeschichte miteinander. Er führt von Caligula über Karl den Großen bis hin zu Hitler so manchen Bösewicht auf den Plan. Ganze Epochen handelt er in ein, zwei Kapiteln ab und bespricht die Kreuzzüge, die Inquisition und den Fall Galilei. Er erörtert die Ambivalenz des Fortschritts und analysiert schließlich die gegenwärtige Lage unserer Zivilisation.

Eins ist sicher: Langweilig wird dieses Buch nie. Es erinnert an eine Netflix-Serie mit dramatischen Szenen, starken Kontrasten, verwegenen Charakteren und schnellen Schnitten. Nirgendwo verweilt der Blick länger. Rastlos schweift das Auge über ganze Jahrhunderte hin und nimmt nur grobe Konturen wahr. Man bleibt stets aufmerksam, erwartet gespannt die nächste Wendung, den nächsten Einfall, den nächsten Akteur auf der Bühne.

Die Argumentation ist mutig, bisweilen gewagt. Nachweise für die aufgestellten Behauptungen fehlen weitgehend. Natürlich könnte und müsste man alles viel differenzierter sagen – darauf weist der Autor zu Beginn des Buches auch gleich selbst hin. Scrivener führt keinen wissenschaftlichen Beweisgang. Er erzählt eine Geschichte, die mitreißt, die zur Identifikation einlädt, die nicht zuletzt auch unterhalten soll. Und das tut sie, auch dank der gelungenen Übersetzung, die dem Tempo und der Dramatik des Buches gerecht wird.

Ermutigung zum Festhalten

Am Ende klappt man die Buchdeckel zu und ist ermutigt, denn bei der Lektüre wird einem wieder ganz neu klar: Der christliche Glaube ist ein einzigartiges und wundervolles Geschenk Gottes, das nicht nur unsere westliche Zivilisation, sondern auch das Leben von Millionen Menschen unendlich viel besser, freier und leichter gemacht hat. Es lohnt sich, an diesem Glauben festzuhalten, wohin auch immer unsere Gesellschaft sich weiterentwickeln mag.

Auch lohnt es sich, dieses Buch zu lesen. Scrivener gelingt es, den Leser auf eine faszinierende und vielseitige Reise mitzunehmen, die bei aller Geschwindigkeit und inhaltlichen Breite so manche Erkenntnis bereithält und zu eigenen Nachforschungen anregt. Er legt uns eine spannende Mischung aus Geschichtsbuch, theologischer Abhandlung und apologetischer Predigt vor, die ihren ganz eigenen Reiz hat.

Buch

Glen Scrivener, Wie die Luft die wir atmen: Warum wir alle an Freiheit, Menschenwürde und Gleichheit glauben. Dillenburg: Christliche Verlagsgesellschaft, 2023, 256 Seiten, 19,90 Euro.
Das Buch kann auch direkt beim Verlag bestellt werden.