Beten lernen – durch den Blick in die Kirchengeschichte

Artikel von Thomas Kidd
6. März 2024 — 6 Min Lesedauer

Oft denken wir, die Reformation sei dadurch inspiriert worden, dass Laien Zugang zur Bibel in ihren Muttersprachen bekamen, sowie durch die Lehre der Errettung allein aus Gnade. Das waren sicherlich herausragende Anliegen, aber die Reformatoren und ihre Nachfolger kämpften auch darum, die Ausübung des Gebets wieder auf eine solide biblische Grundlage zu stellen.

Puritaner und Gebet

Reformierte Protestanten beschäftigten sich mit einer Unmenge an Fragen in Bezug auf das Gebet. Sie wollten liturgische Gebete hinter sich lassen, wie sie bspw. im Book of Common Prayer (dt. Allgemeines Gebetbuch) festgehalten waren, und mehr ohne Vorgaben und von Herzen beten. Sie wollten auch alle katholischen Relikte aus dem Gebet entfernen, wie z.B. die Anrufung der Heiligen, eine Praxis, der manche Priester der Church of England noch bis in die frühen 1600er Jahre nachgingen.

„Besonders die Puritaner strebten danach, das Wort zum Zentrum der Gottesdienste zu machen, während sie gleichzeitig das improvisierte öffentliche Gebet wieder aufleben ließen.“
 

So seltsam es auch klingen mag, aber die Reformatoren wollten auch den prozentualen Anteil der Gebetszeiten in den Versammlungen am Sonntag reduzieren, besonders die liturgischen Lesungen. Stattdessen widmeten sie dem exegetischen Lehren und Predigen mehr Zeit. Das war ein schwieriger Balanceakt. Besonders die Puritaner strebten danach, das Wort zum Zentrum der Gottesdienste zu machen, während sie gleichzeitig das improvisierte öffentliche Gebet wieder aufleben ließen.

Egal welches Gleichgewicht und welche Gottesdienstordnung sie einführten, alle Gemeindeversammlungen der Puritaner hatten eine Gemeinsamkeit: Sie waren lang. Die Gemeinden trafen sich typischerweise zweimal am Sonntag, zusätzlich zu den Versammlungen in der Woche und den Gottesdiensten und Gebetstreffen in den Häusern. Nicht selten dauerte der Gottesdienst am Sonntagmorgen drei Stunden oder sogar noch länger.

Die Versammlung begann üblicherweise mit einem Gebet des Pastors, das etwa 15 Minuten dauern konnte. Dann wurden Abschnitte aus der Schrift gelesen, die der Pastor oft erklärte. Die Versammlung sang Psalmen (nicht auf Psalmen basierte Lieder kamen langsam im Lauf des 18. Jahrhunderts hinzu), und erst dann hörte die Gemeinde eine Predigt, die ein bis zwei Stunden dauern konnte. Schließlich sprach der Pastor ein Gebet oder einen Segen. Gelegentlich feierte die Gemeinde sonntags das Abendmahl oder eine Taufe (die meisten Puritaner praktizierten die Kindertaufe).

Ernste Hingabe

Man könnte sagen, dass diese Leute es echt ernst nahmen! Das stimmt natürlich, aber wir müssen uns auch eine Welt vorstellen, in der für die meisten normalen Leute, die die Gottesdienste besuchten, Versammlungen am Sonntag eine willkommene Unterbrechung waren. Die meisten der Versammelten schufteten an den anderen sechs Tagen der Woche auf Bauernhöfen. Nicht nur die Puritaner hielten den Sabbat in hohen Ehren, sondern auch die frühe Regierung Neu-Englands griff hart durch bei Menschen, die den Sabbat nicht hielten. In ihrer Welt gab es auch nur wenig Freizeitbeschäftigung, die es mit dem Besuch der Kirche aufnehmen konnte: keine Sportligen, keine Bundesliga, buchstäblich keine Restaurants. Ich vermute, dass ein dreistündiger Gottesdienst mit inbrünstigem Gebet und treuen Predigten für die meisten Leute ein Genuss war, besonders für jene, die ihren Glauben ernst nahmen.

Religionshistoriker haben so ihre Schwierigkeiten damit, herauszufinden, wie nicht-liturgische Gottesdienste im Lauf der Geschichte der Christenheit tatsächlich in der Praxis ausgesehen haben. Neben dem oben skizzierten allgemeinen Rahmen und dem Text mancher Predigten, die erhalten geblieben sind, wurden die Einzelheiten in den Gottesdiensten oft nicht aufgezeichnet. Wir haben also eine grobe Vorstellung davon, dass das Gebet ein regelmäßiger Teil der Versammlungen der Puritaner war und dass Gebete länger dauerten als in den meisten evangelikalen Gemeinden heutzutage. Aber wir können nur raten, wie Pastoren und Älteste beteten.

Hinweise bei Edwards

Überraschende Hinweise finden sich in einer Sammlung von Gebets-„Zetteln“, die wir in den Aufzeichnungen von Jonathan Edwards finden, dem großen Pastor und Theologen Neu-Englands. Der Historiker Stephen Stein hat gezeigt, dass die Gemeindemitglieder Edwards im Laufe der Woche kleine Papierschnipsel zusteckten, und dass dieser sich dann am nächsten Sonntag bei seinem Gebet für die Gemeinde darauf bezog. Viele der Anliegen klingen für uns heute vertraut, da sie sich häufig um Krankheit, Verletzungen und Tod drehten. Aber die Gebetszettel zeigten auch, wie stark sie die reformierten Glaubensgrundsätze über Gottes souveränen Willen und ihre Abhängigkeit von ihm verinnerlicht hatten.

Das Anliegen eines gewissen Benjamin Bartlet war typisch: Sein jüngstes Kind war „sehr schwer krank“. Er bat darum, dass das Kind wieder gesund werden möge, wenn es Gottes Wille sei. Aber selbst wenn nicht, betete Bartlet, dass er und das Kind „bereit sein mögen für Gottes heiligen Willen und ihm zum Wohlgefallen“. Edwards leitete die Gemeinde vermutlich diesen Zeilen entsprechend ins Gebet.

Die Gebete der großen Erweckung

In den 50 Jahren vor der großen Erweckung in den 1730er und 1740er Jahren scheinen die Gebete der Neu-Engländer jedoch eine wichtige Veränderung erfahren zu haben. Zweifellos gab es weiterhin Gebete um Heilung und andere alltägliche Sorgen. Aber andere pastorale Gebete verlagerten ihren Fokus von moralischer Erneuerung hin zum Thema Erweckung.

In den frühen 1700er Jahren wurde den Menschen zunehmend bewusst, dass die Bemühungen um eine Veränderung der abnehmenden Moral der Gesellschaft gescheitert waren. Puritanische Pastoren beklagten lange den Niedergang der geistlichen Mission der Gründergeneration Neu-Englands. Aber Geschimpfe und größere Anstrengungen bewirkten keine Veränderung.

In den 1720er und 1730er Jahren begannen Pastoren zu betonen, dass eine Erneuerung ohne Erweckung hoffnungslos sei – und Erweckung hing nicht von noch mehr menschlicher Anstrengung ab, sondern von einer Ausgießung von Gott, dem Heiligen Geist. Gott war nicht darauf angewiesen, dass die Gemeinde betete, damit er Erweckung senden konnte. Aber inbrünstige Gebete um Gottes rettende Macht war sehr oft das erste Zeichen von Erweckung. Diese frühen evangelikalen Pastoren beteten oft in Übereinstimmung mit Jesaja 44,3: „Denn ich werde Wasser auf das Durstige gießen und Ströme auf das Dürre; ich werde meinen Geist auf deinen Samen ausgießen und meinen Segen auf deine Sprösslinge.“ Dieser Wandel hin zum Gebet um das Ausgießen des Geistes war eine entscheidende Entwicklung, die den Weg für die große Erweckung vorbereitete.

Was wir lernen sollten

Was wir über das Gebet in puritanischen und frühen evangelikalen Gemeinden wissen, sollte uns heute eine Lehre sein. Obwohl die Menschen im frühen Amerika eine ausgezeichnete Predigt und wunderbaren Gesang genossen, waren Gemeindeversammlungen kaum die inszenierten Aufführungen, die heutzutage viele evangelikale Gemeinden auf die Beine stellen. Insbesondere blieb das improvisierte Gebet ein überaus wichtiger und oft langwieriger Aspekt jener frühen Versammlungen in Amerika. Pastoren und Älteste gingen auf die Gebetsanliegen ihrer Leute ein, aber leiteten auch im Gebet, sodass die Anliegen einen breiteren Blickwinkel einnahmen als nur die physischen Bedürfnisse der Gemeinde.

„Bei aller Berücksichtigung der individuellen Umstände einer Gemeinde kann man kaum das fehlende gemeinsame Gebet in vielen Gemeinden unserer Zeit rechtfertigen.“
 

Bei aller Berücksichtigung der individuellen Umstände einer Gemeinde kann man kaum das fehlende gemeinsame Gebet in vielen Gemeinden unserer Zeit rechtfertigen. Oder dass das Gebet zu einer nebensächlichen Pflicht zurückgestuft wird. Die Menschen brauchen pastorales und gemeinschaftliches Gebet für die Lasten, welche sie zur Gemeinde bringen. Alle brillanten Programme von Gemeinden sind nebensächlich, nur die Macht Gottes allein wird die Mission einer Gemeinde erfüllen und Erweckung fördern. Kein Bestandteil des Gottesdienstes ist ein besseres Signal für die Abhängigkeit der Christen von Gott als das Gebet. Pastoren, die jede Woche das Gebet in den Mittelpunkt rücken, zeigen diese Abhängigkeit auf praktische, biblische Weise.