Geschichte und Theorien der Sühne

Artikel von Thomas Nettles
21. Februar 2024 — 19 Min Lesedauer

Sühnetheorie in der Bibel

In den biblischen Ausführungen zum Sühnewerk Christi und der Frage, wie wir durch seinen Tod von Sünde und ihren Konsequenzen befreit werden, werden unterschiedliche Begriffe verwendet, um ein umfassendes Bild zu vermitteln.

Ein solcher Begriff ist Lösegeld (vgl. Mk 10,45; 1Tim 2,4–6; Hiob 33,24.28; Ps 49,7–8). Das Wechselspiel der Begriffe Lösegeld und Erlösung deutet an, dass diese Konzepte einander ähneln. Beide sprechen von einem Preis, den es für die Freilassung eines Gefangenen oder Sklaven zu zahlen gilt. Der Preis bzw. das Lösegeld wird dadurch bestimmt, was derjenige, der diese Person gefangen hält bzw. ein „legales“ Recht auf sie hat, für angemessen hält (vgl. 4Mose 25,48–55; Röm 3,24–25; Eph 1,7). Die Sühnung ist wesentlich für den Preis des Lösegelds und der Erlösung. Diese deutet darauf hin, dass das Lösegeld, das Christus für die Erlösung der Sünder mitbringt, durch sein Ertragen des göttlichen Zorns erkauft wurde (vgl. 1Joh 4,10). Es war Gottes zeitlose Liebe zu Sündern, die die Inkarnation und das Ertragen des Zorns als Mittel zur Verwirklichung seines Erlösungsplans notwendig machte. Dieser Zorn ist Ausdruck einer angemessenen Gerechtigkeit für die Sünden derer, für die er starb, und derjenigen, die durch seinen Tod von einem „kommenden Zorn“ (1Thess 1,10) errettet sind. Paulus bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt, dass dieses Sühnopfer eine Demonstration der Gerechtigkeit Gottes ist, „damit er selbst gerecht sei und zugleich den rechtfertige, der aus dem Glauben an Jesus ist“ (Röm 3,26).

„Dieses Werk Christi wird in der Heiligen Schrift zudem auch als stellvertretendes Werk dargestellt.“
 

Dieses Werk Christi wird in der Heiligen Schrift zudem auch als stellvertretendes Werk dargestellt. Sein freiwilliger Charakter, der für seine wahrhaft stellvertretende Wirkung wesentlich ist, kann kaum von dem stellvertretenden Charakter getrennt werden. Jesus selbst führte dieses Thema ein, indem er lehrte, dass er anstelle seines Volkes, seiner Schafe, sterben werde (vgl. Joh 10,15.17.18; Mt 1,21; Röm 4,25; Gal 1,4; 2,20; 2Kor 5,21; Eph 5,25; Kol 2,14; Tit 2,14; Hebr 2,17; 9,26.28; 1Petr 3,18).

Weiterhin ist der Tod Christi als ein Beispiel angeführt. In der Kirchengeschichte gab es manche, die dazu neigten, den Gedanken des Beispiels als primäre Kraft des Todes Christi zu lehren. Doch die Bibel präsentiert diesen Gedanken nicht als Substanz dessen, was mit dem Tod Christi vollbracht wurde. Vielmehr dient die objektive Substanz selbst als Vorbild dafür, wie vollkommen wir uns dem Willen Gottes hingeben müssen (vgl. 1Petr 2,21). Wenn Christus voller Freude und Geduld (vgl. Hebr 12,1–2) einen Tod erdulden konnte, der den ungemilderten göttlichen Zorn mit sich brachte, sollten wir als seine Erlösten auch geduldig und freudig sein, wenn wir um seinetwillen leiden. Die im weiteren Verlauf des Essays diskutierten Theorien verlieren ihre motivierende Kraft, wenn sie nicht auf echter stellvertretender Versöhnung beruhen.

All diese Konzepte sind im Sühnediskurs von großer Bedeutung. Mal wurde das eine, mal das andere als zentrales Konzept bezeichnet, welchem die anderen Aspekte als beitragende Faktoren beigeordnet wurden. Diese Sichtweisen besagen, dass mit dem Tod Christi etwas objektiv Substantielles verbunden ist, was notwendigerweise mit Vergebung und der Akzeptanz vor Gott zusammenhängt. Der Tod Christi wird als etwas gesehen, das für den Sünder reale Auswirkungen auf Sündenvergebung, die Befreiung von Versklavung unter Sünde und das Verhältnis zu göttlichem Zorn hat. Eine weitere Sichtweise, wenn auch nur von einer Minderheit vertreten, konzentriert sich auf die subjektive Wirkung des Todes Christi auf den Sünder, um in ihm ein starkes Verlangen nach Buße, Liebe zu Gott und einem treuen Dienst zu wecken. Gott fordere nichts anderes, um einen derart bußfertigen Sünder gnädig aufzunehmen. Zu dieser Kategorie gehören sowohl die Theorie des moralischen Beispiels als auch die der moralischen Regierung.

Sühnetheorien in der Kirchengeschichte

Frühe Kirche

Der Brief an Diognet ist eine der frühen apologetischen Schriften, die eine bemerkenswert klare Erklärung zur stellvertretenden Auffassung des Sühneopfers beinhaltet. Hierin wird behauptet, dass die christliche Offenbarung und Erlösung das Christentum dem Heidentum und auch der Philosophie überlegen machen. Dort heißt es:

„O überschwengliche Menschenfreundlichkeit und Liebe Gottes! – da hasste und verstiess er uns nicht und gedachte nicht des Bösen, sondern war langmütig und geduldig und nahm aus Erbarmen selbst unsere Sünden auf sich; er selbst gab den eigenen Sohn als Lösepreis für uns, den Heiligen für die Unheiligen, den Unschuldigen für die Sünder, den Gerechten für die Ungerechten, den Unvergänglichen für die Vergänglichen, den Unsterblichen für die Sterblichen. Denn was anders war imstande, unsere Sünden zu verdecken als seine Gerechtigkeit? In wem konnten wir Missetäter und Gottlose gerechtfertigt werden, wenn nicht allein im Sohne Gottes? Welch süsser Tausch, welch unerforschliches Walten, welch unverhoffte Wohltat, dass die Ungerechtigkeit vieler in einem Gerechten verborgen würde und die Gerechtigkeit eines einzigen viele Sünder rechtfertige!“[1]

Justinus der Märtyrer (ca. 100–165) erkannte deutlich in der Schrift, dass es keine Erlösung ohne den Tod Christi und den Glauben an ihn geben kann. Er glaubte, dass Christus für den ganzen Fluch der Menschheit litt, denn „der Vater aller wollte, daß sein Christus den Fluch aller aus Liebe zu den Menschen einer jeden Generation auf sich nehme, wenn er zugleich wußte, er werde ihn nach seinem Kreuzigungstode wieder auferwecken“.[2] Dies solle jeden, der diese Wahrheit erkannt hat, dazu bringen, seine eigenen Vergehen zu beklagen. Von nun an schauen wir nicht mehr auf einen Schatten, etwa „das Blut von Böcken und Schafen oder durch die Asche einer jungen Kuh“, sondern werden „mittels des Glaubens durch das Blut Christi und seinen Tod“ gereinigt. Er wurde als „sündlos und gerechter Mann“ gekreuzigt und „alle, die sich durch Ihn an den Vater wenden, werden von ihren Leiden geheilt“.[3]

„Von nun an schauen wir nicht mehr auf einen Schatten, etwa ‚das Blut von Böcken und Schafen oder durch die Asche einer jungen Kuh‘, sondern werden ‚mittels des Glaubens durch das Blut Christi und seinen Tod‘ gereinigt.“
 

Irenäus von Lyon (ca. 130–202) war um ein Verständnis des Sühneopfers bemüht, das den Wert der Menschwerdung mit der erlösenden Kraft des Kreuzes verbindet. Nicht nur, dass der Mensch im menschgewordenen Christus „Teil der Unsterblichkeit“ geworden ist, er profitiert darüber hinaus noch von der moralischen Transaktion, „[d]ie Sünde zu vernichten und den Menschen von Schuld zu befreien“.[4] Die Menschwerdung und das Leiden Christi waren notwendig, um aufgrund unserer Versklavung zur Sünde und der Knechtschaft des Todes eine gerechtfertigte Erlösung zu erreichen. G.W.H. Lampe weist darauf hin, dass die Wiederherstellung des Menschen als das Ebenbild Gottes durch die Menschwerdung und die Einbindung des Menschen in den Gehorsam Christi ein zentraler Gedanke sei.[5] Christi Erlösungswerk wird vollbracht, indem er durch seinen vollkommenen Gehorsam die Umkehrung des Ungehorsams Adams vollzieht. Irenäus glaubte, dass Christus „die lange Entwicklung der Menschen“ in sich zusammenfasste, „indem Er durch die Inkarnation Mensch wurde, und gab uns in dieser Zusammenfassung das Heil, damit wir unser Sein nach dem Bild und Gleichnis Gottes, das wir in Adam verloren hatten, in Christo Jesu wiedererlangen möchten.“[6] Diese Rekapitulation enthält drei Elemente: Der Gehorsam Christi hat uns Gerechtigkeit geschenkt, sein Lösegeld hat uns befreit und seine Auferstehung bringt ewiges Leben. Bei dem Lösegeld ging es nicht etwa darum, dem Teufel irgendwelche „Rechte“ zuzugestehen, sondern darum, dass Gott seine Erlösung in gerechter Weise vollzog, seinem eigenen gerechten Anspruch entsprechend, dass die Sünde den Tod bringe.

Im 20. Jahrhundert thematisierte Gustav Aulen (1879–1978) in einer Vorlesungsreihe, die unter dem Titel „Christus Victor“ veröffentlicht wurde, die Lösegeldtheorie mit der Besiegung Satans als primäre biblische Betonung und klassisch-christliche Auffassung. Somit rettete er die Lösegeldtheorie von der post-irenäischen Entwicklung von Sieg durch Betrug und der Auffassung, die Zahlung erfülle eine gerechtfertigte Forderung Satans. Aulen war von einem reformierten Verständnis der Substitution und ihren Begleiterscheinungen aber nicht gerade begeistert.[7]

Tertullian (ca. 160–220) war der Auffassung, dass Adam mit der Sünde „das ganze Menschensgeschlecht durch seine Abstammung zu ihm infiziert hat, und seine eigene Verdammnis auf sie übertragen hat“. Er lehrte, dass der Begriff „Kinder des Zorns” bedeutet, dass die „Sünden, Fleischeslust, Unglaube, Zorn der Natur zugeschrieben werden, die alle Menschen gemein haben“. So habe jede Seele ihren „Status in Adam, bis sie einen neuen Status in Christus erhalte“. Dies geschieht durch das Erlösungswerk Christi. Tertullian sagt, dass „der Tod Christi … das ganze Wesen und der ganze Wert der christlichen Religion“ sei, weil im Tod Christi „der Herr ihn erlöst von den Engelmächten, die die Welt beherrschen, von den Geistern der Ungerechtigkeit, von der Finsternis der Welt, vom ewigen Gericht, vom ewigen Tod“.[8]

Mittelalter

In seinem Buch Cur Deus Homo (dt. „Warum Gott Mensch wurde“) begutachtet Anselm von Canterbury (ca. 1033–1109) die Menschwerdung und den Tod Christi. Das Problem, so formuliert es der fiktive Mönch Boso, ist folgendes: „[D]er sündige Mensch schulde Gott eben um der Sünde willen soviel, daß er nicht zurückerstatten kann, er könne aber im Falle der Nichterstattung auch nicht gerettet werden.“[9] So argumentiert Anselm in seiner Satisfaktionslehre, dass Gottes Ehre notwendigerweise hinreichend Genüge getan wird, wenn er sowohl Gerechtigkeit als auch Gnade zeigt. Der Sohn Gottes nahm die volle Menschlichkeit an und lebte in vollkommener Gerechtigkeit unter dem Gesetz Gottes, um die Heiligkeit des Vaters zu ehren, und bezahlte die Todesschuld, die er selbst nicht schuldig war, als Strafe für Sünden, die er niemals begangen hatte. Anselm schrieb dies „vernunftgemäßer Notwendigkeit“[10] zu, dass die Erlösung und Heiligung des Menschen nur „nach Vergebung der Sünden, welche aber kein Mensch erlangen kann, es sei denn durch jenen Einen Menschen, der zugleich selbst Gott ist und durch seinen Tod die sündigen Menschen mit Gott aussöhnt“.[11] Unsere gerechte Schuld gegenüber Gott als Geschöpfe und unsere moralische Schuld gegenüber Gott als Sünder wäre, ohne den von der unendlichen Weisheit geschaffenen Weg, unmöglich zu erfüllen:

„Sohin war es unerläßlich, daß Gott menschliche Natur annahm und zwar diese mit der göttlichen zur persönlicher Einheit verbunden, damit, während in den Naturen ein Gegensatz sich herausstellt, zwischen Abtragen sollen und können, in der Person dieser Gegensatz sich ausgliche. … Das Leben dieses Menschen vollends hast du als ein so erhabenes, so kostbares ganz klar und deutlich hingestellt, daß es wohl ausreichend befunden werden mag, zu sühnen, was für die Sünde der ganzen Welt geschuldet wird, und noch darüber bis ins Unendliche.“[12]

Als Anselm weiter mit Boso darüber sinniert, bringt er die Diskussion zu einem prägnanten Schluss:

„Wem könnte er nun füglicher Frucht und Lohn seines Todes zuwenden, wenn nicht jenen, um deren Erlösung willen er … Mensch geworden, und denen er … durch sein Sterben ein Vorbild der Sterbens für die Gerechtigkeit gegeben? Vergeblich würden ihm ja diejenigen nachahmen, welche ohne Teilnahme an seinem Verdienste blieben.“[13]

Der Diskurs über das Sühneopfer wurde von Petrus Abaelardus (1079–1142) von der Objektivität zur Subjektivität verlagert; von den notwendigen Anforderungen der Gerechtigkeit und des Zornes Gottes hin zu einem Einfluss auf den menschlichen Geist. McDonald schreibt Abaelard die Einführung der Sichtweise des moralischen Einflusses des Sühneopfers zu, die seiner Meinung nach besser als „Theorie des emotionalen Appells der göttlichen Liebe“ bezeichnet werden kann. Gott begnadigt den Sünder nur aufgrund des Beginns der Liebe zu Gott, wenn der Sünder die liebende Hingabe Christi an seinen Vater beobachtet; ohne eine sich im Gesetz manifestierende Befriedigung der Heiligkeit Gottes, ohne objektive Erkenntnis der Vergeltung. So zeige die Art und Weise, wie Gott seine Gerechtigkeit im Tod Christi demonstriert, laut Abaelard „seine Liebe zu uns, oder versucht uns zu überzeugen, wie sehr wir ihn lieben sollten, der für uns ‚seinen eigenen Sohn nicht schonte‘“. Abaelard identifizierte die Gnade, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit Gottes mit Liebe.[14] Die vollkommene Liebe Christi als vollkommener Mensch vervollständigt, was in unserer Liebe fehlen mag, und das Verdienst seiner Liebe durchdringt unsere, sodass uns vergeben wird und wir vom Vater angenommen werden.[15]

Frühe Neuzeit

Natürlich verkannte auch Martin Luther die subjektiven Effekte der Erlösung nicht, aber er stützte sie fest auf ein umfassendes Verständnis der objektiven, das Verhältnis zu Gott betreffenden Wirkung des Todes Christi. Dies wird aus einer Ostersonntagspredigt deutlich, in der Luther auf das Opfer Christi mit den Begriffen Lösegeld, Genugtuung, Versöhnung und implizite Stellvertretung einging. Seine Zuhörer sollten Folgendes beachten:

„Zum ersten, daß wir bedenken den großen, ernsten und schrecklichen Zorn Gottes wider die Sünde, an dem, daß solcher Zorn durch keinen andern Weg hat mögen abgewendet werden, und die Versöhnung durch keine Bezahlung hat mögen erworben werden, denn durch dies einige Opfer, das ist, den Tod und Blut des Sohnes Gottes, und daß wir alle mit unsern Sünden solchen Zorn Gottes verwirkt, und Ursach gewesen sind, daß Gottes Sohn hat müßen am Kreuz geopfert werden und sein Blut vergießen.“[16]

Luther betonte den stellvertretenden Aspekt, als er die Gemeinde daran erinnerte, „daß sich des Menschen Herz in solchem Schrecken von seiner Sünde wieder aufrichte und bedenke, warum Gott solches thut, daß er seines eigenen Sohnes nicht verschont, und dahin gibt zum Opfer ans Kreuz und Tod, auf daß der Zorn wieder von uns genommen würde“.[17]

„Luther betonte den stellvertretenden Aspekt.“
 

Ähnlich wie schon Anselm zuvor stützte sich Calvin in seiner Erörterung zum Sühnewerk Christi auf das orthodoxe Verständnis der Person des Christus. Während Calvin den Aspekt der Stellvertretung forcierte, verwendete er die Begriffe Opfer, Erlösung, Genugtuung, Versöhnung, Sühne und Lösegeld und stellte fest: „In Christus ist es ganz anders, ganz neu: Er, der Hohepriester, ist selbst das Opfer.“ Grund hierfür war, dass keine andere für unsere Sünden angemessene Genugtuung und kein anderer Mensch gefunden wurde, der würdig war, Gott den eingeborenen Sohn zu opfern:

„Nun trägt also Christus das Priesteramt, und er vollführt es nicht nur, um uns durch eine ewige Versöhnung Gottes Wohlgefallen und Freundlichkeit zu gewinnen, sondern auch um uns der gleichen Würde mit teilhaftig zu machen.“[18]

Bezugnehmend auf Jesaja 53,6–10, 2. Korinther 5,21, Galater 3,13–14 und 1. Petrus 2,24 schreibt Calvin folgendermaßen: „Denn der Sohn Gottes, selbst doch ganz rein von jeder Übeltat, hat unsere Sünde und Schande auf sich genommen und uns dafür mit seiner Reinheit umkleidet.“ Calvin nennt das stellvertretende Werk Christi eines, bei dem Christus „um uns von all unserem Unflat zu reinigen, durch solche übertragende Zurechnung ganz mit der Sünde bedeckt worden“ ist. Christus fiel für uns unter den Fluch, trug unsere Sünden und verwandelte das Kreuz aus einem schrecklichen Instrument des schändlichen Todes in einen „Triumphwagen“. Nur indem wir auf Christus als Opfer sehen, können wir mit Gewissheit glauben, „dass Christus unsere Erlösung (apolytrosis), unser Lösegeld (antilytron) und unser ‚Gnadenstuhl‘ (hilasterion) ist.“[19]

In seinem Werk Leben durch seinen Tod. Das Sühnopfer Christi im Licht der Bibel brachte John Owen das reformierte Verständnis der stellvertretenden Sühne zu seiner wohl genauesten und ausgereiftesten Entwicklung. Darin vertritt er die Position, dass Christus durch seinen Tod tatsächlich die Versöhnung mit Gott, die Rechtfertigung, die Heiligung und die Adoption bewirkte. John Owen fasst es so zusammen, dass „der Tod und das Blutvergießen von Jesus Christus für alle, die daran teilhaben, eine ewige Erlösung errungen hat, die hier in Gnade und hiernach in Herrlichkeit besteht“. Um dies zu erreichen, sandte der Vater seinen Sohn gesandt, der als Einziger in der Lage war, das Ziel der Erlösung zu erreichen, und der Vater legte ihm „die ganze Strafe“ auf, „die der Sünde gebührt: entweder nach der Strenge der göttlichen Gerechtigkeit oder nach der Anforderung des Gesetzes, welches Gehorsam verlangt“.[20] Dieses Opfer war für all diejenigen, und nur für diejenigen bestimmt und vollbracht, die der Vater ihm gegeben hatte: „Es ist offensichtlich, dass jeder, für den Christus gestorben ist, all das Gute, das durch seinen Tod erkauft wurde, auch tatsächlich auf sich angewandt haben muss.“[21]

Moderne

Walter Rauschenbusch (1861–1918) vertritt eine Auffassung der Sühne, die man als moralische Beeinflussung bzw. moralische Regierung bezeichnen könnte. Damit wird wieder das Grundmodell Abaelards aufgegriffen. So verstoße die anselmische Tradition laut Rauschenbusch gegen unsere christlichen Überzeugungen, indem sie „die Liebe und Barmherzigkeit Gottes auslöscht“ und dem „Geist des Evangeliums fremd ist“.[22] Die Hingabe von Jesus an die Ehre und die Grundsätze der Gerechtigkeit, die von seinem Vater etabliert wurden, eine Hingabe ohne Zögern und im Angesicht tödlicher Widerstände, sollte uns beeinflussen, uns für Gerechtigkeit in dieser Welt einzusetzen. Rauschenbusch schreibt:

„Jesus trug in keinerlei Weise die Sünde eines alten Briten, der 56 v.Chr. seine Frau schlug, oder eines Bergsteigers aus Tennessee, der sich 1917 betrank. Aber er trug in einem sehr realen Sinne die Last der öffentlichen Sünden der organisierten Gesellschaft, und diese wiederum sind ursächlich mit allen privaten Sünden verbunden.“

Letztlich wäre Christus genau für den Widerstand gegen diese öffentlichen Sünden gekreuzigt worden. Sie waren in gewisser Weise „aktive Akteure bei den rechtlichen Schritten, die zu seinem Tod führten“. Das Böse, das von religiöser Bigotterie, Bestechung und politischem Machtkampf, Korruption der Justiz, einem Pöbelgeist, Militarismus und Klassenverachtung auf die Gesellschaft projiziert wird. Christi Widerspruch gegen diese sechs sozialen Sünden versicherte, dass er für unsere Sünden sterben würde.[23]

Weiterführende Literatur

1. Primärquellen (online)

2. Sekundärliteratur zu Geschichte und Theorien der Sühne


1Brief an Diognet, übers. v. Dr. Gerhard Rauschen, in: Frühchristliche Apologeten und Märtyrerakten Band I, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 12, München, 1913, 161-173, S. 169.

2Dialog mit dem Juden Trypho, übers. v. Philipp Hauser, in: Justinus, Dialog; Pseudo-Justinus, Mahnrede, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 33, Kempten & München, 1917, S. 157.

3Ebd., S. 19.

4Gegen die Häresien (Contra Haereses), übers. v. E. Klebba,  in: Des heiligen Irenäus fünf Bücher gegen die Häresien, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 3, München, 1912. S. 201

5Vgl. Cunliffe-Jones, A History of Christian Doctrine, S. 48.

6Gegen die Häresien, S.197.

7Vgl. Gustav Aulen, „Christus Victor“; H.D. McDonald, The Atonement of the Death of Christ, S. 258–265.

8Aus: Tertullian’s The Testimony of the Soul, Against Marcion, and On Flight in Persecution, in: Early Christian Fathers, S. 116, 128, 129.

9Anselm, Cur Deus Homo, 1. Buch, XXV.

10Ebd., 2. Buch, XV.

11Ebd.

12Ebd., 2. Buch, XVIII.

13Ebd., 2. Buch, XIX.

14Abelard, Exposition of the Epistle to the Romans, A Scholastic Miscellany, S. 279, 283.

15Vgl., McDonald, The Atonement of the Death of Christ, S. 174–180.

16 Dr. Martin Luther's Kirchen-Postille, das ist: Predigten über die Evangelien und Episteln des Kirchenjahrs, nach der letzten bei Luther's Lebzeiten, 1543 und 1544, erschienenen Ausgabe wieder abgedruckt, Stuttgart, Verlag der evang. Bücherstiftung, 1845, S. 796, abgerufen am 30.01.2024: https://www.digitale-sammlungen.de/en/view/bsb10463608?page=816,817.

17Ebd.

18Johannes Calvin, die Institutio christianae religionis, auf Deutsch: Unterricht in der christlichen Religion, Fassung von 1559, übersetzt 1955 von Otto Weber, Band 2, XV, VI, S. 312, abgerufen am 30.01.2024: https://www.calvin-institutio.de/display_page.php?elementId=72.

19Ebd., Band 2, XVI, VI S. 318.

20John Owen, The Works of John Owen, 10:159.

21Owen, The Works of John Owen, 10:181.

22Walter Rauschenbusch, A Theology for the Social Gospel, S. 242–243.

23Vgl. Rauschenbusch, A Theology for the Social Gospel, S. 248-258.