Der Pastor und sein griechisches Neues Testament

Artikel von Gresham Machen
23. Februar 2024 — 8 Min Lesedauer

Zwischen einem Pastor und seinem griechischen Neuen Testament gibt es eine wachsende Kluft, und sie lässt sich wohl auf zwei Hauptursachen zurückführen. Ein moderner Pastor verschmäht sein griechisches Neues Testament bzw. es ist ihm gleichgültig, weil er sich erstens weniger für Griechisch und zweitens weniger für sein Neues Testament interessiert.

Das erste Desinteresse ist lediglich eine Erscheinungsform der wohlbekannten Tendenz im modernen Bildungswesen, sich von den Geisteswissenschaften abzuwenden. Man bevorzugt Fächer mit offensichtlicherer Nützlichkeit – eine Tendenz, die an Universitäten ebenso ausgeprägt ist wie an theologischen Ausbildungsstätten. Viele Hochschulen haben das Studium der griechischen Sprache nahezu abgeschafft; es ist daher wenig verwunderlich, dass ihre Absolventen nicht in der Lage sind, ein griechisches Neues Testament zu verwenden. Platon und Homer werden ebenso ignoriert wie Paulus. Eine Widerlegung der Argumente, die zur Rechtfertigung dieser Tendenz vorgebracht werden, würde den Rahmen des vorliegenden Artikels sprengen. Doch so viel kann gesagt werden: Eine Widerlegung muss berücksichtigen, dass hier gegensätzliche Konzepte im Spiel sind. Der Verteidiger von Griechisch- und Latein-Studien sollte sich nicht hinreißen lassen, sein Plädoyer nur an den Maßstäben der „Nützlichkeit“ zu orientieren. Zweifelsohne ließe sich auch dazu etwas sagen; man könnte vielleicht anführen, dass die Kenntnis des Griechischen und Lateinischen durchaus notwendig ist für die Kenntnis der Muttersprache, welche wiederum offenkundig von großer Wichtigkeit ist, um in der Welt voranzukommen. Aber warum das Übel nicht gleich bei der Wurzel packen? Das eigentliche Problem mit der modernen Überhöhung der „praktischen“ Fächer auf Kosten der Geisteswissenschaften besteht darin, dass ihr eine mangelhafte Auffassung vom generellen Ziel der Bildung zugrunde liegt. Gemäß der modernen Auffassung vom Ziel der Bildung dient Bildung lediglich dazu, den Menschen zum Leben zu befähigen; es gehe nicht darum, ihm die Dinge im Leben zu vermitteln, die das Leben lebenswert machen.

Zweitens lässt der moderne Pastor sein griechisches Neues Testament außer Acht, weil er sich allgemein weniger für sein Neues Testament interessiert – sich weniger für seine Bibel interessiert. Einst betrachtete man die Bibel als jene Ressource, der Zentrum und Inhalt der Predigt entspringt. Ein Prediger wurde seiner Berufung nur gerecht, wenn es ihm gelang, die Botschaft von Gottes Wort nachzuzeichnen und anzuwenden. Die moderne Einstellung ist da ganz anders. Natürlich wird die Bibel nicht ausgemustert. Doch man behandelt sie, als sei sie lediglich eine der Quellen – wenn auch die Hauptquelle –, die den Prediger inspirieren. Überdies erwartet man von einem modernen Pastor, dass er neben der Predigt und der Auslegung von Gottes Wort eine Fülle weiterer Verpflichtungen erfüllt. Er hat verschiedenste Arten von Gruppen und sozialen Aktivitäten zu organisieren; er muss eine führende Rolle bei Initiativen für bürgerliche Reformen einnehmen. Mit einem Wort: Der Pastor hat aufgehört, ein Fachmann zu sein. Diese Veränderung zeigt sich beispielsweise in der Haltung von Theologiestudenten, und zwar selbst bei den tiefgläubigen und ehrfurchtsvollen unter ihnen. Eine herausragende Schwierigkeit der heutigen theologischen Ausbildung besteht darin, dass die Studenten sich beharrlich nicht als Fachleute, sondern als Laien sehen. Die Auseinandersetzung mit kritischen Anfragen an die Bibel fällt ihrer Meinung nach in den Bereich von Leuten, die sich auf den Dienst als Theologieprofessoren oder dergleichen vorbereiten; ein normaler Pastor könne sich mit einer äußerst oberflächlichen und laienhaften Kenntnis der betreffenden Schwierigkeiten zufriedengeben. Ein Pastor ist daher kein Bibelspezialist mehr, sondern nur noch eine Art Geschäftsführer der gemeindlichen Angelegenheiten.

„Ausnahmslos jeder, der das Neue Testament wissenschaftlich studiert, weiß, wie notwendig Griechisch für seine Arbeit ist.“
 

Es liegt auf der Hand, was diese moderne Einstellung zum Bibelstudium für das Studium des griechischen Neuen Testaments bedeutet. Wenn die Zeit für das unmittelbare Studium der Bibel reduziert werden muss, dann verabschiedet man sich natürlich zuerst vom mühsamsten Teil dieser Studien, welcher am wenigsten zu schnellen Ergebnissen führt. Dieser Teil ist für jemanden mit unzureichender Vorbildung das Studium in Griechisch und Hebräisch. Wenn der Pastor jedoch ein Fachmann ist – wenn er seiner Gemeinde mehr als alles andere eine gründliche, sowohl wissenschaftliche als auch praktische Kenntnis der Bibel schuldet –, dann muss man nicht lange über die Wichtigkeit von Griechisch diskutieren. Erstens setzen nahezu alle wichtigen Bücher über das Neue Testament die Kenntnis des Griechischen voraus: Wer die Bibel studiert und nicht zumindest über einige Brocken Griechisch verfügt, dem bleibt im Großen und Ganzen nur übrig, auf anspruchslose Bücher zurückzugreifen. Zweitens kann dieser Mensch all die Probleme nicht aus erster Hand beurteilen, sondern ist in tausend wichtigen Fragen auf das Urteil anderer angewiesen. Drittens kann man sich ohne Griechischkenntnisse weder die Form noch den Inhalt der neutestamentlichen Bücher näher ansehen. Wie jede andere Literatur verliert auch das Neue Testament in der Übersetzung etwas. Doch weshalb diese Frage überhaupt diskutieren? Ausnahmslos jeder, der das Neue Testament wissenschaftlich studiert, weiß, wie notwendig Griechisch für seine Arbeit ist. Die wirkliche Frage ist nur, ob unsere Stellen im vollzeitlichen Dienst mit Menschen besetzt werden sollten, die zu wissenschaftlichem Bibelstudium befähigt sind.

Diese Frage ist nur ein Aspekt der wichtigsten Frage, mit der die Kirche heute konfrontiert ist – der Frage nach der Beziehung von Christentum und Kultur. Die moderne Welt wird von einem Denken beherrscht, das entweder im Widerspruch zum Christentum steht oder aber eine lebendige Verbindung zum Christentum verloren hat. Die unmittelbare Anwendung dieses Denkens auf die Bibel hat zu einer naturalistischen Sicht der biblischen Geschichte geführt – jener Sicht, die das Übernatürliche nicht nur in den alttestamentlichen Erzählungen ablehnt, sondern auch in den Berichten der Evangelien über das Leben Jesu. Gemäß dieser Sicht hat die Bibel ihren Wert, weil sie gewisse Ideen über Gott und seine Beziehung zur Welt lehrt, weil sie durch Symbolik, Beispiele und in direkter Darlegung gewisse wichtige Prinzipien vermittelt, die immer schon wahr waren. Gemäß der übernatürlichen Sicht enthält die Bibel jedoch nicht nur eine Darstellung von überzeitlichen Wahrheiten, sondern auch einen Bericht von etwas, das geschehen ist – nämlich das Erlösungswerk Jesu Christi. Wenn diese zweite Sicht richtig ist, dann ist die Bibel einzigartig. Sie ist dann nicht nur eine der Inspirationsquellen für den Prediger, sondern ist Zentrum und Inhalt dessen, was er zu sagen hat. Verhält es sich aber so, dann muss der Prediger – was auch immer er sonst wissen oder nicht wissen mag – die Bibel kennen. Er muss sie aus erster Hand kennen, und er muss in der Lage sein, sie auszulegen und zu verteidigen. Insbesondere, solange in der Welt noch Zweifel in der großen Hauptfrage bestehen: Wer wäre besser als die Pastoren geeignet, zur Ausräumung dieser Zweifel beizutragen – durch kundige Unterweisung mehr noch als durch Debatten? Man kann diese Aufgabe nicht auf ein paar wenige Professoren abwälzen, deren Werk einzig für sie selbst von Interesse ist. Die Aufgabe muss von geistlich gesinnten Männern in der gesamten Kirche entschlossen in Angriff genommen werden. Doch natürlich kann sie nur durch jene bestmöglich bewältigt werden, die als wichtige Voraussetzung für diese Forschungsarbeit die Kenntnis der Ursprachen mitbringen, auf welchen ein Großteil der Diskussion beruht.

„Er muss sie aus erster Hand kennen, und er muss in der Lage sein, sie auszulegen und zu verteidigen.“
 

Wenn es nun also wichtig ist, dass ein Pastor sein griechisches Neues Testament verwendet – was ist dann konkret zu tun? Angenommen, jemand hat frühere Möglichkeiten versäumt oder das, was er sich einst erarbeitet hatte, ist im hektischen Pastorenalltag verloren gegangen. Für ihn haben wir hier eine Hoffnungsbotschaft. Das neutestamentliche Griechisch ist keineswegs eine schwierige Sprache. Jeder Pastor mit durchschnittlicher Intelligenz wird sich eine ordentliche Kenntnis aneignen können. Zwei einfache Hinweise mögen helfen, dieses Ziel zu erreichen: Zum einen sollte man griechische Texte laut lesen. Allein mit den Augen lässt sich eine Sprache nicht leicht erlernen. Sowohl Klang als auch Aussage bekannter Abschnitte sollten dem Geist eingeprägt werden, bis Klang und Aussage miteinander verknüpft sind, ohne dass man auf das Werkzeug des Übersetzens zurückgreifen muss. Dieses Resultat darf man aber nicht vorschnell erzwingen; es wird sich von selbst einstellen, wenn man die einfache Anweisung befolgt. Zum anderen sollte man täglich im griechischen Neuen Testament lesen, ausnahmslos, auch am Ruhetag. Zehn Minuten pro Tag haben weitaus größeren Wert als einmal pro Woche siebzig Minuten. Wenn der Student eine „Stille Zeit“ praktiziert, sollte das griechische Neue Testament darin einen Platz bekommen. Generell sollte das griechische Neue Testament mit Andacht gelesen werden. Das griechische Neue Testament ist ein heiliges Buch und sollte als solches behandelt werden. Wenn man es auf diese Weise behandelt, wird das Lesen bald zu einer Quelle der Freude und Kraft.