Digital Liturgies

Rezension von Daniel Vullriede
22. Februar 2024 — 10 Min Lesedauer

Für viele Errungenschaften unserer Gesellschaft können wir dankbar sein. Wer würde schon auf all die technologischen Möglichkeiten verzichten wollen, die uns das Leben heute erleichtern? Trotzdem macht Technologie unser Leben nicht automatisch leichter, besser und schöner. Kaum jemand wird am Ende seines Lebens wohl ernsthaft sagen: „Hätte ich doch mehr Zeit online verbracht.“ Dennoch scheinen Millionen Menschen genau nach dieser Überzeugung zu leben. Wenn so vieles, was uns interessiert, nur ein Klicken oder Tippen entfernt ist, wieso macht uns das digitale Leben dann oft so unglücklich?

Seit einigen Jahren schreibt Samuel D. James über das Spannungsfeld von Theologie, christlicher Frömmigkeit und Technologie. In seinem neuen Buch Digital Liturgies nimmt er seine Leser nun mit auf eine gedankliche Reise, um das digital-reale Leben und seine besondere Prägekraft noch besser zu verstehen. Wie können wir in unserer durchdigitalisierten Gesellschaft wirklich zurechtkommen? Welche Werte, Logiken und Lebensabläufe haben wir uns mittlerweile angewöhnt, die wir eigentlich lieber aufgeben sollten?

Mehr als nur eine Frage der Definition

Im Vorwort reflektiert James zunächst einmal über das Wesen des Internets, der sozialen Medien und digitaler Technologien. Allen gemeinsam ist das Grundprinzip, dass wir „mittels bestimmter Geräte eine entkörperlichte, elektronische Umgebung betreten, um Informationen zu erhalten, Beziehungen zu gestalten und auf Medien zuzugreifen, die uns nicht in physikalischer Form zur Verfügung stehen“ (S. 12). Diese digitale Realität sieht er in einer kräftigen Spannung zur analogen Wahrheit und Wirklichkeit des Evangeliums.

Dabei ist James’ These nicht einfach nur, dass das Internet und Co. uns manchmal Gutes und ansonsten viel Problematisches anbieten. Vielmehr fragt er danach, welche Form die digitale Welt annimmt, wie sie unser Denken lenkt und unser Fühlen formt, und welches Weltbild dahintersteckt. Statt pauschaler Polemik geht es James also um ein kritisches Verstehen, um dann Möglichkeiten zu diskutieren, wie echte Veränderungen und ein weiser Umgang mit dem Digitalen aussehen können. Doch wo soll man anfangen?

Über Weisheit und Wahrheit

Im ersten Kapitel fragt James nach wahrer Weisheit. Während das Digitale ziemlich pragmatisch und impulsgesteuert daherkommt, hat sich Gott als unser Schöpfer etwas anderes für unser Leben vorgestellt. Weisheit ist allerdings mehr als nur das richtige Wissen darüber, wie man auf dem schnellsten Wege zum Ziel kommt. Vielmehr setzt sich wahre Weisheit ganzheitlich mit der Realität auseinander. Das praktische Leben mit all unseren Beziehungen und Verantwortlichkeiten, unsere persönliche Integrität und Moral, aber auch Ehrfurcht vor Gott sind jene Grunddimensionen, in denen wir aktiv lernfähig sein sollten, um im Leben klarzukommen.

Im Gegensatz dazu versucht die gefallene Menschheit seit jeher inmitten der gefallenen Schöpfung, sich dank unterschiedlicher Technologien von der geschaffenen Realität freizumachen. Wie viele Mittel und Wege, Götzen und Grausamkeiten haben die Menschen schon erfunden, um aus eigener Kraft eine andere Welt zu erschaffen, die einer anderen Geschichte folgt als Gottes Plan und Geschichte mit der Welt?

Schaut man sich das ständig um sich greifende digitale Leben an, so zeigt sich: Hier versuchen körperliche, im Ebenbild Gottes geschaffene Geschöpfe das Geschaffene zu überwinden und sich von den Gegebenheiten ihrer eigenen Natur zu lösen. James ist überzeugt: Digitale Technologien haben unser Weltbild und unser Gewissen tiefgreifend verändert, sodass wir die Gegebenheiten unserer Körper und unserer menschlichen Natur eher als ein Problem ansehen, das wir abschütteln sollten – anstatt als ein Geschenk von Gott, mit dem wir weise und dankbar umgehen dürfen.

Technologie und das echte Leben

Im zweiten Kapitel analysiert der Autor, welche kulturprägende Kraft Technologie überhaupt haben kann. Von der Entwicklung der Eisenbahn bis hin zu kommerziellen Flugzeugen, von der Erfindung der Uhr bis hin zu einem EKG-Gerät – jede kulturelle Errungenschaft verändert eine Gesellschaft. Und nicht nur das, jede Technologie vermittelt uns auch eine moralische Vision davon, wie das Leben in Wirklichkeit sein sollte. Welche Sicht vom wahren und guten Leben vermittelt uns heutzutage das Internet? Inwiefern hinterfragt es Gottes Charakter und untergräbt seine Idee vom Menschsein? Dass uns hier genau genommen tagtäglich eine posthumane Welt schmackhaft gemacht wird, sollte uns nicht überraschen.

Im dritten Kapitel unterstreicht und erklärt Samuel D. James die Tatsache, dass das Internet unserem Handeln und Bewerten seine besondere Logik aufdrückt. Wie kommt es, dass die digitale Welt so ein ganz eigenes Wissensbiotop ist? Wie kommt es, dass die Nutzer hier so leicht eine bestimmte Art zu denken lernen? Das hat paradoxerweise einen geschöpflichen Grund: Viele kleine, wiederholte Handlungen bilden in uns neue Gewohnheiten aus. Unscheinbare Belohnungssysteme sprechen unsere Interessen an und begünstigen zusätzlich, dass sich unsere anpassungsfähigen Gehirne immer mehr, immer weiter auf das scheinbar süße und bequeme Leben im Digitalen einlassen. Was folgt daraus? Wir erlernen und verinnerlichen fast automatisch jede Menge Ideale, Denkweisen und Verhaltensmuster, die einem weisen, Gott-gemäßen Leben hart entgegenstehen.

Die Dynamiken des Digitalen auf dem Prüfstand

Nach diesen ernüchternden Beschreibungen möchte James inhaltlich wissen: Was genau predigt das Internet konkret zu unseren Hirnen und Herzen? Welche Sehnsüchte werden angesprochen? Welche Gewohnheiten werden in uns gefestigt?

Die erste digitale Liturgie, auf die Internetnutzer stoßen, ist die Betonung der eigenen Authentizität. Einerseits ist das Internet radikal demokratisch, denn jeder kann seine Stimme einbringen. Andererseits steht objektive Wahrheit nicht besonders hoch im Kurs. Persönliche Erlebnisse, Narrative und Befindlichkeiten haben somit oft mehr Gewicht als Logik, Argumente oder Fakten. Doch was hält eine Gesellschaft zusammen, wenn ein Großteil der Menschen in seiner ganz eigenen Filterblase festhängt? Wenn sie kontinuierlich für sich selbst entscheiden sollen, wer sie selbst eigentlich sind und was wann für wen wahr ist?

Eine zweite digitale Liturgie, auf die James hinweist, ist eine schnelle Eskalation im Miteinander, eine gnadenlose Empörung gegeneinander. Einerseits wissen die Menschen um die Gefahr von Falschinformationen und um Algorithmen, die mit einseitigen Informationen um die Aufmerksamkeit und Emotionen der Nutzer werben. Andererseits fehlt den meisten ein klarer Verhaltenskodex. Schnell sind die User dabei, ihre Meinung als die einzig wahre darzustellen und Andersdenkende als dumm oder böse abzustempeln. Im Kontrast dazu sollten Christen mit Gottes Hilfe sorgfältig, wahrheitsgemäß und gemeinschaftsorientiert denken, reden und schreiben, wenn sie online sind.

Die Kehrseiten des Onlinelebens

Tiefe Scham ist eine dritte digitale Liturgie, die die Menschen plagt und prägt. Das Internet vergisst nichts und verzeiht nie. Schneller als man denkt, kann sich online ein Mob zusammentun, der echte und vermeintliche Missetaten von Sündenböcken aufdeckt, ja, sogar Existenzen zerstört. Irgendwie ist es auch kurios: So sehr der westliche Kulturkreis religionskritisch eingestellt ist und ‚selbsterklärende‘ Werte wie Mitleid, Toleranz und Verständnis hochhält, so intensiv gebraucht unsere Kultur doch religiöse Handlungsmuster. Kulturelle Sünden und Übertretungen von Normen müssen aufgedeckt und irgendwie gesühnt werden. Dabei reichen ein unpassender Witz oder ein gedankenloser Kommentar schon aus, um andere ein Leben lang zu brandmarken. Wenn unsere Gesellschaft einerseits die Konzepte von Sünde und Scham ablehnt, sie andererseits aber erbarmungslos nutzt, dann sollte das Evangelium eigentlich umso heller leuchten. Denn hier treffen sich Gnade und Wahrheit; ehrliche Umkehr und wiederherstellende Gnade sind real und möglich.

Während der schnelle Konsum eine vierte digitale Liturgie darstellt, bei der Menschen isoliert nach neuer, rascher Befriedigung suchen (und dafür Dinge wie auch Menschen benutzen), ist die beständige Bedeutungslosigkeit die fünfte Liturgie, die unser digitales Leben durchzieht. Gerade weil das Internet eine Quelle der Belanglosigkeiten ist, werden die Nutzer unbemerkt und doch unwiderstehlich in einen ständigen Sog von Ablenkung, Unzufriedenheit und Verlorenheit hineingezogen. Dass Design dabei immer auch Bedeutung hat, zeigt sich am Beispiel des Smartphones. Während frühere Mobiltelefone klappbar und ganz natürlich auf das Zuhören und Sprechen ausgerichtet waren, spricht der Bildschirm des Smartphones ganz bewusst das Sehen an. Aufmerksamkeit und Tiefgang im Denken werden zu einem teuren Gut, die impulsgesteuerte Ablenkung hingegen zur Normalität. So werden uns Momente der Stille oder des Wartens schnell unangenehm, sie werden gefüllt oder verdrängt. Deutlich wird: Echter Sinn und Halt, Orientierung und Bedeutung, Gemeinschaft und Identität sind letztlich nicht digital zu finden. Im Gegenteil, das Leben im Netz scheint uns mit der Zeit das wahre Leben eher noch weiter auszusaugen.

Wie werden wir denn nun digital weise?

Zwar stößt man in allen Kapiteln von Digital Liturgies auf gute Impulse, doch bietet James am Ende noch einmal einen fokussierten Abschluss. Rückblickend nennt er noch einmal sein Hauptanliegen: Er möchte, dass seine Leser die Bibel als besten Wegweiser und als notwendiges Fundament anerkennen, um treu und gesegnet als Gottes Geschöpfe in dieser Welt und in seiner Gegenwart leben zu können. Zugleich möchte er dafür sensibilisieren, auf welche Weise uns das Internet die Weisheit Gottes als töricht und langweilig vor Augen malt – und das oft mit Erfolg.

Letztlich aber ist es nicht genug, diese ganzen Stolperfallen bloß zu durchschauen. Es braucht auch echte Veränderung. Aus eigener Erfahrung erklärt James schließlich, wie (1.) ehrliches, anhaltendes Gebet neue Gewohnheiten begünstigt, (2.) wie wichtig und wunderbar die reale Gemeinschaft mit anderen Menschen sein kann, und (3.) welchen Unterschied Gottes Verheißungen machen. Auch wenn die Ansprüche und Angebote des Digitalen uns öfter als gedacht hinters Licht führen, auch wenn wir manchmal extrem naiv oder extrem zynisch mit dem Digitalen umgehen – der dreieinige Gott will uns gern dabei helfen, unser Leben in dieser Welt mit seiner Weisheit zu leben. In Jesus Christus ist Vergebung wie auch Veränderung möglich, er wurde uns „zur Weisheit, die von Gott kommt, zur Gerechtigkeit, zur Heiligkeit und zur Erlösung“ (1Kor 1,30). In ihm finden wir auch heute noch Frieden und Zufriedenheit. Selbst wenn unsere Gedanken und Gefühle uns zeitweise etwas anderes ins Gesicht schreien, der lebendige und souveräne Gott ist weder mit dieser Welt noch mit unserem persönlichen Leben überfordert. Ein Schlagwort- und Bibelstellenverzeichnis runden den Titel schließlich ab.

Etwas mühsam, aber lesenswert

Die Stärke von Digital Liturgies liegt in der tiefgehenden Kulturanalyse und geistlichen Perspektive, die der Autor bietet. Er schreibt transparent und persönlich, geht auf aktuelle Studien ein, zitiert wichtige Denker und skizziert sogar eine aktuelle christliche Anthropologie. Somit schafft er es, seinen Lesern die Herausforderungen unseres westlichen Kulturkreises recht umfassend und nachvollziehbar darzustellen. Darüber hinaus ermutigt er seine Leser kontinuierlich zu echtem Gottvertrauen und zu einem Leben, das von wahrer Weisheit gefüllt ist. Keine Frage: Samuel D. James hat seine Hausaufgaben gemacht, gleichzeitig ist die Lektüre aber etwas mühsam. Das liegt einerseits an dem ernsten und komplexen Thema, andererseits am Aufbau und Stil des Buches.

Manche Analysen hätten ruhig etwas knapper, die Hilfen für den Alltag und Impulse zur Jüngerschaft hingegen etwas ausführlicher ausfallen können. Andere Autoren wie z.B. Tony Reinke (Wie dein Smartphone dich verändert), Brett McCracken (Seele, nähre dich gesund!) oder Nancy Pearcey (Liebe deinen Körper) kommen da schneller zum Punkt, während James sich oft länger auf der Metaebene bewegt und im Grundsätzlichen verharrt. Hier und da sollten die Leser auch etwas Vorwissen mitbringen; die Bezüge zur amerikanischen Kultur sind da, halten sich aber in Grenzen.

Wer aus christlicher Perspektive etwas über die digitalen Prägekräfte und die dafür notwendige Weisheit des Evangeliums lesen möchte, wird hier insgesamt nicht enttäuscht werden. Letztlich können vor allem Verantwortliche in Gemeinden, Jugendleiter, christliche Pädagogen und auch Seelsorger von James’ Buch profitieren, um manche guten Impulse nochmal gemeinsam weiterzudenken und dann mit Gottes Hilfe umzusetzen.

Buch

Samuel D. James, Digital Liturgies: Rediscovering Christian Wisdom in an Online Age, Wheaton: Crossway, 2023, 208 Seiten, ca. 17 Euro.